von Philipp | 5 Mai 2022 | Sachtexte
erschienen in Respekt, dem Nachhaltigkeitsmagazin von GEO und toom, 2022
Wer Blumenerde mit Torf nutzt, trägt dazu bei, dass Moore austrocknen. Die Feuchtgebiete brauchen wir nicht? Im Gegenteil: Sie sind ein wichtiges Element
im Kampf gegen den Klimawandel.
Eigentlich bin ich selbst schuld. Aber ein bisschen lag’s auch am Wetter. Denn wäre es über die Feiertage nicht so ungewöhnlich warm gewesen, hätte es uns auch nicht so lange im Garten gehalten. Die lieben Eltern plauderten mit den lieben Nachbarn über diese paar prächtig gewachsenen Bäumchen und jene zu frisierende Hecke. Und kaum hatte ich mich höflich interessiert an den Fachsimpeleien beteiligt, gaben mir die Gartenprofis auch schon eine gefühlte Schubkarre Wunderdünger, Ableger, Saatgut und vor allem nützliche Tipps mit auf den Heimbalkon.
Einen Hinweis gabs von Frau Nachbarin noch oben drauf: Ich möge doch bitte torffreie Erde kaufen. Das verstehe sich doch von selbst, log ich zurück.
Zugegeben: Über Blumenerde habe ich mir bislang noch nicht ganz so oft den Kopf zermartert. Aber das riesige Angebot an Möglichkeiten ist schon erstaunlich: Qualitätserde für Zimmer und Garten; Balkonerde für eine gesunde Wurzelbildung; Anzuchterde mit Startdünger für beste Wachstumsbedingungen; 20 Liter Rhododendron- und Hortensienerde mit Rindenhumus für die optimale Luft- und
Wasserversorgung für 8,99 Euro; 40 Liter Gemüseerde mit Bio-Siegel für eine schmackhafte und ertragreiche Ernte für 10,99 Euro – oder eben die günstigste Blumenerde, 40 Liter für 2,39 Euro, die volle Packung Torf.
Bewahrt den Torf
Als Torf bezeichnet man nicht vollständig zersetzte Pflanzenteile in Mooren. Dass Moore schützenswert sind, weiß ich immerhin schon von klein auf. Als Kind habe ich die Wanderungen durchs Schwarze Moor in der Hohen Rhön geliebt. Mucksmäuschenstill schlich ich auf den knarzenden Bohlen des Holzstegs durch diese unwirkliche Zwischenwelt, die weder Land noch Wasser zu sein schien. Ich bestaunte die kargen Bäume und Büsche, das Schilf und die Gräser, Moose und den Sonnentau – und ließ mir später von den Erwachsenen Gruselgeschichten über Hexen und Moorleichen erzählen. Geschichten, die der ständige Nebel und die geisterhafte Stille des Moors hervorbrachten, damit auch ja kein Kind vom Holzweg abkommt und versinkt.
Die Gruselgeschichte von Leuten aber, die das Jahrtausende alte Moor trockenlegen und dessen Torf abbauen, erzählte mir niemand. Wie bedroht die Feuchtgebiete und
wie wichtig sie für das Klima sind, habe ich erst sehr viel später gelernt. „Eigentlich wären heute in Deutschland fünf Prozent der Landschaft von Mooren bedeckt“, sagt Olivier Hirschler, der am Thünen-Institut in Braunschweig zu dem Thema forscht. „Doch erst hat man den Torf als Brennstoff verheizt und später die Moore trockengelegt, um mehr Fläche für die Land- und Forstwirtschaft zu gewinnen.“ Deshalb machen Moore nur noch 3,6 Prozent der Fläche Deutschlands aus.
Der bessere CO2-Speicher
Auch weltweit sind Moore in Gefahr – und das wiederum bedroht das Weltklima. Die
Feuchtgebiete speichern ein Drittel des weltweiten Kohlenstoffs, so viel wie alle Wälder der Erde zusammen. Doch nur nasse Moore können den Kohlenstoff dauerhaft im Boden binden. Baut man Torf ab, fallen Böden trocken. Und wenn sich der Kohlenstoff aus dem Boden mit dem Sauerstoff in der Luft zu CO2 verbindet, beschleunigt das den Klimawandel.
Trotzdem wird immer noch Torf abgebaut – oder gestochen, wie man es nennt. Vor allem in den baltischen Staaten. Doch auch Deutschland ist ein großer Torfproduzent.
Im Garten wird er als günstiges und verlässliches Substrat geschätzt. Herkömmliche
Blumenerde besteht oft zu 80 oder 90 Prozent aus dem Sediment. „Es speichert bestens Luft und Wasser, hat einen guten pH-Wert, ist leicht zu transportieren und enthält kaum Keime“, erklärt Experte Hirschler.
Torf – das Wundermittel? Nein, nein, er ist nicht der unersetzliche Stoff, der unsere
Pflanzen am besten wachsen lässt. Es lässt sich einfach nur gut mit ihm gärtnern. Und durch die gewohnten Routinen in Abbau, Anlieferung und Vertrieb ist der Rohstoff noch günstiger geworden. Könnten wir uns dann nicht einfach umgewöhnen? „Tatsächlich gibt es viele Alternativen für torffreie Erde auf dem Markt“, sagt Olivier Hirschler und zählt etliche Mischungen auf: Erden aus Holzfasern oder Rindenhumus, Grünschnittkompost oder Kokosmark, und so weiter.
Augen auf beim Erdenkauf
Die Auswahl ist gewaltig. Aber die Alternativen würden auch neue Herausforderungen mit sich bringen, so der Fachmann. Manche Pflanzen dürfte man nicht zu vielen Nährstoffen aussetzen, andere müsse man etwas häufiger gießen. Das seien jedoch Feinheiten, die höchstens für professionelle Gartenbaubetriebe relevant seien.
Ich habe verstanden: Mein kleiner grüner Daumen kann Großes bewirken. Meine Blumen können besonders schön sein und ich kann gleichzeitig was Gutes für die Umwelt tun. Mit dem bisschen torffreie Erde, das ich aus dem Baumarkt nach Hause schleppe, trage ich meinen Teil dazu bei, die Feuchtgebiete dieser Welt zu schützen. Irgendwo muss man ja anfangen. Darf es etwas Moor sein? Danke, nein, lieber etwas weniger.
Text und Bild: Philipp Brandstädter
von Philipp | 14 Apr 2022 | Reportagen
erschienen in der GEO 02/18
Lebe im Hier und Jetzt. Genieße den Augenblick. Sei gesund, geborgen, unbeschwert. Atme. Werde glücklich. Dieses Wellness-Gefasel, diese Kalenderweisheiten kreiseln durch meinen Kopf, als ich auf einem Meditationskissen balancierend mit geschlossenen Augen eine Rosine inspiziere.
Etwas angewidert rolle ich sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Das Glück liegt in den kleinen Dingen, rede ich mir ein: Nimm den Moment wahr. Der Rosinenmatsch duftet fruchtig. Nicht so intensiv wie das Bohnerwachs in der Turnhalle des Hauses Rheinsberg, keine anderthalb Stunden Reisebusgetuschel von Berlin entfernt. Ich bin ganz hier. Wir.
Ich und meine Skepsis.
Mit Sinnsprüchen ist das nämlich so eine Sache. Manchmal sind sie so fürchterlich schwammig und abgedroschen. Wenn mir die Worte fehlen, um eine Sache zu beschreiben, fällt es mir schwer, die Sache ernst zu nehmen. Ich lasse mich lieber von der modernen Wissenschaft überzeugen als von uralten Traditionen und Lehren.
So habe ich ein Weilchen gebraucht, um mich auf die Meditation einzulassen. Keine Frage, dass sie Menschen bereichern würde. Aber wie soll ich plötzlich eine Sache beherzigen, die ich immer belächelt habe?
Das ReSource Project war DIE Gelegenheit für mich: Meditieren lernen im Sinne der Wissenschaft! Resource ist die größte Studie, die es bislang in der Meditationsforschung gegeben hat. Durchgeführt vom Max Planck Institut in Leipzig, unterstützt von der Berliner Charité und der EU.
Dabei wird erstmals die Wirkung verschiedener mentaler Techniken miteinander verglichen: Wie verändern sie Gehirn, Körper und Verhalten? Womit lassen sich Achtsamkeit, Mitgefühl und Sozialkompetenz am besten trainieren? Als Teilnehmer wurden 160 Meditationsanfänger gesucht. 2700 haben sich beworben.
Tausend Tests
Ich habe psychologische Eignungsgespräche über mich ergehen lassen. Eintausend Fragen beantwortet, angekreuzt, skaliert, mich selbst beurteilt. Wie intensiv spüren Sie beim Duschen die Wassertropfen auf Ihrer Haut? Ein bisschen? Ein bisschen mehr? Keine Ahnung? Ich habe Auskunft darüber gegeben, wie immungeschwächt, wie zornig, wie suizidgefährdet ich bin. Ich habe mein Gehirn im Magnetresonanztomographen durchleuchten lassen. Ich habe Blut abgegeben, in Röhrchen gespuckt und mir abstoßende Fotos vorsetzen lassen. Verletzte Kriegsopfer, verkohlte Leichen. Verstörend. Und zeitaufwändig. Es hat Wochen gedauert, um es in die finale Auswahl zu schaffen.
Schließlich finde ich mich für meine erste Meditationslektion in einer Turnhalle wieder. Um mich herum gestresste Mütter, gestresste Lehrer, gestresste Büroangestellte. Sie können nicht mehr ruhig schlafen, sagen sie. Ihr Chef mache sie wahnsinnig, sagen sie. Darum lassen sie sich in ein straffes Mammutprogramm einspannen, das Rettung verspricht.
Neun Monate ReSource. Alle drei Monate zwei neue Meditationstechniken. Scans im MRT, viele Computertests, unzählige Fragebögen. Jeden Tag meditieren, jede Woche Unterricht. Und drei Wochenenden in Rheinsberg, ein Idyll zwischen Schlosspark und Seenlandschaft.
Achtsam im Hier und Jetzt
Ich verbiege meinen Rücken in eine ungewohnt aufrechte Haltung. Von den knapp 200 Probanden und wissenschaftlichen Mitarbeitern in der Turnhalle macht Trainerin Isabella auf dem Sitzkissen die beste Figur. Dicht gefolgt von den anderen 16 ReSource-Coaches. Psychologen, Therapeuten, Ärzte, Pädagogen, Philosophen, Kommunikationstrainer.
Isabella referiert gelassen und regungslos im Lotos-Sitz. Ich ahme sie nach, mir schlafen die Beine ein. An meinem rechten Schulterblatt brennt ein Muskel, den ich bis jetzt noch nicht kannte. Isabella spricht von einer Methode, die unsere Mitte stärken soll, wenn uns der reißende Strom an Nachrichten, Aufgaben und Erwartungen fortzuspülen droht. Die Methode heißt Atmen. Atmen will ich auch und nicke. Die Probanden um mich herum nicken mit. Bewusstes Atmen ist die Grundlage des Projekts, sagt Isabella. Es soll uns in der Gegenwart verankern. Das erste Modul des ReSource-Programms heißt deshalb „Präsenz“.
Modul „Präsenz“ (drei Monate):
Im Mittelpunkt steht das Selbst: Wie kann ich mich besser auf den Augenblick konzentrieren – ohne zu urteilen, ohne zu werten?
Techniken: Atemmeditation und Bodyscan
Denn wer seinen Körperzustand bewusst wahrnimmt, der erkennt den Augenblick, heißt es. „Achtsamkeit“ nennen Forscher die Konzentration auf das Hier und Jetzt. Und wer im Moment lebt, ist glücklich. Studien belegen das.
Das leuchtet ein. Wenn mich mein Terminplaner unter Druck setzt, lenke ich mich mit Erinnerungen ab. Meist denke ich dann an Deadlines, die ich verpennt, an Hausaufgaben, die ich aufgeschoben, an Menschen, die ich enttäuscht habe. Ich ersetze Stress durch Stress. Am eigentlichen Augenblick lebe ich vorbei. Seitdem ich in Berlin wohne, bin ich hektischer, miesepetriger und desinteressierter geworden. In der Stadt der Heimatlosen ist mir alles zu viel, wenn ich durch die Straßen zu einem Termin hetze, den Blickkontakt scheue, kaum etwas um mich herum wahrnehme. Manchmal weiß ich gar nicht, wen ich zuerst ignorieren soll.
Ich will gern achtsamer sein. Meine Welt wahrnehmen. Mein Bewusstsein entwickeln.
Also dann. Beginne zu atmen, sage ich mir.
Atemmeditation (10min): Die Aufmerksamkeit ruht ganz auf dem Atem. Sobald Gedanken und Gefühle auftauchen, wird die Konzentration wieder sanft zurück auf die Atmung gelenkt.
„Lenke deine Aufmerksamkeit auf den Punkt, wo du gewohnt bist, den Atem zu spüren“, sagt Isabella. „Begleite die Atemwellen. Vom Beginn des Einatmens bis zum Ende des Ausatmens. Und durch die Pause dazwischen.“
Es könnte so einfach sein. Doch die Gedanken spülen mich aus dem Raum.
Bilder, Erinnerungen, Phantasien. Sie entführen mich erst in die Vergangenheit, dann in die Zukunft und wieder zurück. Ich rieche Parfüm, blinzle kurz, vor mir die Studentin mit der weinroten Strickjacke und der Ballonhose. Blickkontakte angeln. Sie könnten das ständige Schweigen erträglicher machen. Ich höre knurrende Mägen, schniefende Nasen. Ich sehe ein rotes Nachrichtenband, das meine Gedanken verschriftlicht. Ich säe Zweifel. Soll ich Erlösung finden, indem ich einfach nur atme?
Tagelang passiert gar nichts. Zu Hause, wo ich mir mit meinem Sitzsack und drei Kissen ein Meditationsprovisorium gebaut habe, spricht Coach Axel via Smartphone zu mir. Jeder von uns hat so ein „Medifon“ bekommen. Es zeichnet unsere Übungen auf, erinnert uns an Fragebögen und spielt die Tonspuren ab, die die Trainer für die Anleitungen zuhause eingesprochen haben.
Das Telefon ahnt nicht, dass ich die vorgegebene Meditationszeit einfach nur mürrisch absitze. Genauso wie die wöchentlichen Gruppentreffen in der Charité.
Den meisten Probanden geht es ähnlich, erzählen sie. Sie sind angestrengt, haben hohe Erwartungen an sich, wollen gute Daten liefern. Genau, wie es das Leistungsprinzip verlangt. Genau, wie Meditation nicht funktionieren kann. Bis wir vor lauter Konzentrationskrampf wegdämmern.
Es tut sich etwas
Doch genau in dieser schlaftrunkenen Zwischenwelt zwischen Traum und Bewusstsein gibt es jene Momente. Dort lösen sich Hast und Zweifel durch Ruhe und Genügsamkeit ab. Etwas verändert sich. Ich bin begeistert: Jetzt meditierst du endlich! Wie das erst wird, wenn du die Techniken perfektioniert hast! Dann bist du vielleicht noch leistungsfähiger, brauchst weniger Schlaf und kannst noch mehr aus deinem Leben herausholen. Produktiver sein! Irgendwann einmal… Und schon wieder bin ich meilenweit vom Augenblick entfernt.
„Wenn deine Aufmerksamkeit gewandert ist, dann lenke sie zurück zum nächsten Atemzug“, sagt Axel.
Die hellen Momente häufen sich. Sie motivieren mich zum Üben. Langsam erschließt sich mir der Fokus auf die Atmung. Sie lenkt die Wahrnehmung von meiner Umgebung in meinen Körper. Atmen entspannt. Atmen ist eine gute Sache, finde ich, Kontraktion und Entspannung, es ist tatsächlich so, als ob ich einen Muskel trainieren würde.
In meinem Kopf tut sich etwas.
Im Park unter rauschenden Blättern. Ihr Grün ist bereits dem Rot und Gold gewichen, doch die Luft fühlt sich immer noch nach Sommer an. Ich bin hier: nicht gestern oder morgen, sondern jetzt. Zum ersten Mal. Liege im Gras und sinke mit jedem Atemzug tiefer in den Boden. Ich übe „interozeptives Gewahrsein“. So heißt das. Per Bodyscan. Der zweiten Übung, die ich neben der Atemmeditation täglich trainieren soll.
Bodyscan (20min): Die Aufmerksamkeit wandert nach und nach durch jedes Körperteil und registriert alle Empfindungen, ohne sie zu bewerten.
„Es gibt nichts zu tun und nichts zu erreichen“, flüstert Axel durch die Kopfhörer. „Richte deine Aufmerksamkeit auf deine Zehen des linken Fußes.“
Von den Zehen aus reise ich durch meinen Körper. Nehme Kribbeln, Taubheit, Wärme wahr. „Spüre tief in dein linkes Kniegelenk hinein“, flüstert Axel. Igitt. Es ist mehr ulkig als angenehm, die Nuancen der Körperempfindungen zu unterscheiden. „Sei einfach eine Antenne, die alles wahrnimmt, ohne die Wahrnehmung zu bewerten“, flüstert Axel aus dem Smartphone.
Die Übungen machen mich ruhiger, gelassener, genügsamer. Meinen Alltag verändern sie auch. Ich registriere mehr Details in meiner Umgebung. Die Giebel und Sockel von Häusern, an denen ich schon hundertmal vorbei gefahren bin. Die Verästelungen der Bäume im Park. Das Atmen stärkt meine innere Mitte. Und beim Sport funktioniert mein Körper wie von allein, so scheint es. Meine Joggingstunde durch den Wald ist auf einmal 20 Minuten kürzer und die Hanteln im Fitnesscenter sind leichter als in der Woche zuvor.
Die Verwandlung geht schnell. Langsam wird sie mir unheimlich.
Wie ticke ich, wie ticken die anderen?
Seit 12 Wochen im ReSource-Projekt. Atmen, bodyscannen und Stillsitzen kriege ich mittlerweile hin. Ich finde mich erneut in Rheinsberg wieder. Retreat, Runde zwei. Die neue Lektion: Perspektive.
Modul „Perspektive“ (drei Monate):
Im Mittelpunkt steht das Wir: Die Teilnehmer lernen, ihr eigenes Denken zu reflektieren und sich in andere Menschen hineinzuversetzen.
Techniken: Gedankenmeditation und Perspektiv-Dyade
Ab jetzt beobachten wir unsere Gedankenwelt. Diesen kaum greifbaren Wirrwarr, den ich bis dato abschütteln musste, weil er mich von der Achtsamkeit abgelenkt hat. Gedanken beobachten sei wichtig, meint Trainerin Susanne. Denn bevor wir im dritten Teil unser Mitgefühl schulen, müssten wir erst einmal mit uns selbst klarkommen. Das leuchtet ein: Fällt der Luftdruck in der Flugzeugkabine, ziehen wir zuerst uns selbst die Sauerstoffmaske über.
Gedankenmeditation (20min): Zunächst werden die Gedanken kategorisiert, etwa nach Vergangenheit/Zukunft, negativ/positiv oder selbst/andere. Dann wird ihr Kommen und Gehen beobachtet, ohne auf sie zu reagieren – so soll Distanz zu den eigenen Gedanken und Gefühlen entstehen.
Meine erste Gedankenmeditation ist eine einzige Enttäuschung. Von wegen: Die Gedanken sind frei. Von wegen: Tausend Ideen schießen uns auf einmal durch den Kopf. Ich komme gerade mal auf sieben. Sie wiederholen sich nur in einer Endlosschleife. Mein Job, meine Partnerin, meine Freunde, mein Job, die letzte Party, ein Haushaltsplan, mein Job. Die Agenda wird von meinem Kalender festgelegt.
An den Gedanken kleben meist Urteile, die ich nie ernsthaft hinterfragt habe. Meist habe ich sie nicht einmal selbst gefällt. Meine Umwelt hat sie mir beigebracht. Du verschwendest zu viel Zeit! Du sorgst nicht genug für deine Zukunft! Du lebst zu ungesund! Langsam wird mir klar, dass ich in einer Ich-muss-noch-dies-und-das-tun-Zukunft gefangen bin, die ich mir nicht einmal selbst geschaffen habe.
Die Erwartungshaltung anderer reißt eine riesige Lücke zwischen dem Leben, das ich gern hätte und dem Leben, das ich gern haben sollte. Ich bin schockiert.
Nicht mehr normal
Barfuß tragen die Probanden des ReSource Projects ihre Brummschädel über die Wiese vor dem Hotel. Kaffeetasse in der einen Hand, Keks oder Kippe in der anderen. Wie immer schweigen wir. Wir achten auf die Länge unserer Schritte, die Geräusche, die Grashalme zwischen den Zehen. Eine Familie spaziert an uns vorbei.
„Was machen die Leute da auf dem Rasen?“, fragt das Kind. „Guck da nicht so hin, die sind behindert“, antwortet die Mutter.
Was wir da tun, ist nicht normal. Normal ist, auf der Straße mit einem Knopf im Ohr in leuchtende Geräte hinein zu faseln. Normal ist, sich mit hundert Dingen gleichzeitig zu beschäftigen, um nicht über sich selbst nachdenken zu müssen.
Trainerin Susanne lächelt. Susanne lächelt eigentlich immer. Man könnte meinen, es sei aufgesetzt. Mein Urteil. Meine Schuld, dass ich das meine. Die hagere kleine Frau gestikuliert schon die nächste Technik in den Raum hinein: eine Dyade. Dabei handelt es sich um eine Meditation im Dialog. Augenbrauen werden gehoben, Köpfe geschüttelt. Susanne lächelt.
Perspektiv-Dyade (10min): Es wird zu zweit meditiert, von Angesicht zu Angesicht oder über das Smartphone. Die Partner wechseln wöchentlich. Der Sprecher erzählt aus einer seiner persönlichen Rollen heraus ein Erlebnis. Der Zuhörer versucht, die Erzählperspektive unvoreingenommen nachzuvollziehen. Jeder spricht zweimal 2,5 Minuten.
Wir seien soziale Wesen in Beziehungsgefügen, betont sie. Im Lauf unseres Lebens nehmen wir verschiedene Rollen ein, die zu Anteilen unserer Identität würden. Wir seien Kinder, Freunde, Partner, Berufstätige, Eltern. Bestimmte Rollen für bestimmte Menschen, die ihre eigene Sicht auf uns entwickeln. Und diese Menschen verwechseln gern ihre Mitmenschen mit deren Rollen.
Der unfreundliche Kontrolleur in der Bahn. Die lahme Oma vor uns an der Supermarktkasse. Das plärrende Kind in der Nachbarwohnung. In Stresssituationen werden sie schnell als durch und durch unangenehme Menschen abgeurteilt.
Also beginnen wir als erstes, unsere eigenen Rollen besser zu verstehen. Ich schreibe die typischen Anteile meiner Persönlichkeit auf Pappkarten. Der Faulpelz, der Angsthase, der Kontrollfreak. Der Beobachter. Der ist omnipräsent. Immer ein bisschen distanziert und analytisch, neutral und unterkühlt. Beobachten ist mein Beruf.
Und dann ist da noch der Sucher in mir. Erst, als ich gedankenverloren im Bus nach Hause sitze, wird mir klar, dass es ihn gibt. Es ist der, der mich als Kind stundenlang in die Sterne starren ließ und der, der mich jetzt aufs Meditationskissen zerrt, um dem tieferen Sinn und dem ganzen Drumherum nachzugehen. Erkenne dich selbst. Mit der Einsicht schwingt Leichtigkeit, Gleichmut. Innerer Frieden. Und die Reise geht gerade erst los. Glaube ich.
Zu zweit über das Smartphone meditieren
Ich sitze einem bärtigen Mann mit Brille und Norwegerpulli gegenüber. Wir haben noch nie ein Wort miteinander gewechselt, aber vertrauen uns nun in einer Dyade an. Wir sollen aus einer Rolle heraus ein Erlebnis erzählen. Ich habe das Bedürfnis, mein Gegenüber zu unterhalten. Ich schauspielere, anstatt mich um mich selbst zu kümmern.
Beim Mittwochtreffen klärt die Trainerin die Dyaden-Sache auf: Aus verschiedenen Rollen heraus zu sprechen, lässt uns verstehen, dass wir und jeder andere nur eine Wirklichkeit konstruieren und dass diese aus jedem Anteil heraus ganz anders aussehen kann. Es reicht aber nicht, das einmal festzustellen, das müsse wie eine Muskel trainiert werden. Sowohl das Sprechen aus wechselnden Anteilen als auch das Zuhören und Verstehen, was nicht zwingend Gutheißen bedeuten muss.
Die Leute aus der Gruppe werden interessanter. Olaf, den ich als verbitterten Fachangestellten abgespeichert hatte, ist in Wirklichkeit Didgeridoo-Spieler für Wachkoma-Patienten. So kann man sich täuschen. Woran’s liegt?
Mit den Dyaden taten sich die meisten anfangs schwer, mit der unmediativen Art, mit dem Sinn. Aber sie lieben es zuzuhören, sich in verschiedenen Rollen auszutoben, lieben es, dass ihnen niemand ins Wort fällt.
Das alte Leben passt nicht mehr
Im Max-Planck-Institut wird mein Kopf gescannt, schon zum dritten Mal. Die Neurowissenschaftler wollen sehen, wie die Meditation mein Gehirn verändert. Zuvor haben sie mit meinen Gefühlen gespielt. Stromschläge, die meine Empfindsamkeit erfassen sollten, haben mich wütend gemacht, von den Ekelfotos am PC wurde mir übel, und in der virtuellen Horror-Realität bin ich ein bisschen in Panik geraten. Beinahe hätte ich die Kabel aus meinem 3D-Helm gerissen. Jetzt liege ich in der Röhre. Zeit zum Nachdenken, über mich, das Projekt, und die guten Vorsätze für das neue Jahr.
Zwischendurch dachte ich wirklich, meine Mitte gefunden zu haben. Ich glaubte, ein neues Weltbild zu entwickeln und meine Mitmenschen daran teilhaben lassen zu müssen. Schlaue Ratschläge für alle. Glückskeksweisheiten.
Meine Freunde sind wegen der Studie längst skeptisch geworden. Sie fürchten, ich bin einer Hirnwäsche zum Opfer gefallen. Würde mir bald den Schädel rasieren und mich in orangefarbene Tücher hüllen. Sie finden, Ruhe und Gelassenheit ließen mich nur Wurzeln ins Sofa schlagen. Kollegen haben gefragt, was denn nicht stimme. Ich sei in letzter Zeit so wortkarg, würde überhaupt nicht mehr lästern oder gehässig sein. Was sei denn bloß aus den ganzen politisch unkorrekten Randgruppenscherzen geworden.
Mir kommt es vor, als würde ich nicht mehr in die Gesellschaft passen. Auf einmal wurde es mir zu eng in Berlin. Die Leute in der Bahn, mit ihren dicken Fellen und ihren Scheuklappen, sie machten mich plötzlich rasend. Überall Smartphone-Zombies, unaufmerksam, lieb- und leblos. Ich passe hier nicht mehr hin. Ich weiß nicht, wohin sonst, beginne zu zweifeln. Der MRT-Scanner surrt und pocht mich in Trance.
Zu Besuch bei meinen Eltern spaziere ich zu der Wiese, auf dem ich mit meinen Schulfreunden oft die Zeit vergammelt habe. Beim Meditieren habe ich mich manchmal dorthin geträumt, ganz unbewusst. Dort könnte ich meinem persönlichen ReSource Project einen neuen Schub verleihen, denke ich mir. Doch anstelle der Wiese mit ihren roten Mohnblumen und weißen Margeriten steht nun ein riesiges Rapsfeld in Blüte. Gepachtet, beackert, kultiviert. Ich nehme das persönlich. Ich gehöre hier nicht mehr hin.
Erschöpft und ratlos fahre ich ins letzte Retreat. Noch einmal Rheisberg. Die Auszeit tut gut. In der Turnhalle liegen Taschentuch-Boxen aus. Die seien für die Leute da, die nah am Wasser gebaut sind, erklärt Coach Ulrike. Die letzte Phase von ReSource behandle nämlich die Regulation von Emotionen und das Mitgefühl, sagt Ulrike. Als Psychotherapeutin sei sie davon ein Fan. Es geht ans Herz.
Modul „Affekt“ (drei Monate):
Im Mittelpunkt stehen die Akzeptanz eigener Emotionen und das Mitfühlen mit anderen. Altruismus soll gestärkt werden.
Techniken: Herzmeditation und Affekt-Dyade
Zu Beginn der Studie war mir die Sache mit dem Mitgefühl nicht so wichtig. Das Leid in mir und um mich herum hält sich in Grenzen, meinte ich; das konnte ich bislang ganz gut bewältigen, ohne mich bewusst um mehr Mitgefühl bemühen zu müssen. Doch was Ulrike anspricht, passt gerade ziemlich gut zu meiner Hilflosigkeit. Sie sagt, prosoziales Verhalten sei Teil einer Lebenseinstellung und werde mit körpereigenen Opiaten belohnt. Der Wunsch, das Leiden anderer zu mindern, sei die Grundlage für ein friedliches Miteinander. Und das sei uns in dem momentanen Leistungs-System gerade ein bisschen abgegangen. Dort, wo nur der Wettbewerb belohnt wird, gehe die Bindung zu den Mitmenschen und der Zugang zu den Emotionen verloren. Die Folge: Stress, Burnout, Sprünge aus dem Bürofenster im zehnten Stock.
„Richte deine Aufmerksamkeit auf den Herzraum und spüre die natürliche Atembewegung“, sagt Ulrike. „Dann nutze deinen persönlichen Zugang zum Herzen, damit es sich öffnen kann.“
Herz-Meditation (20min): Man stellt einen geliebten Menschen vor und dehnt das Gefühl von Wärme allmählich aus: auf die eigene Person, auf Freunde, schwierige Personen, Fremde. So sollen Gefühle von Wohlwollen, Liebe und Fürsorge gegenüber sich selbst und anderen gestärkt werden.
Mein Zugang ist Henriette, meine adipöse Katze. Die schnurrende Inkarnation des Gleichmuts. Und zwar gute zwölf Pfund davon. Wenn ich an Henriette denke, dann ist die Welt gleich ein bisschen flauschiger. „Wende dich nun dir selbst zu und schenke dir liebevolle Selbstzuwendung“, sagt Ulrike weiter. Und dann kommen vier Glückskekswünsche, die mich einfach mal umhauen, weil sie die Schnittmenge aller menschlichen Bedürfnisse bilden – auch wenn sie etwas gestelzt sind. „Möge ich glücklich sein“, spricht Ulrike vor. „Möge ich mich sicher und geborgen fühlen. Möge ich gesund sein.“ Und ein Satz für mich: „Möge ich unbeschwert leben.“
Das Mitgefühl der Meditierchen
Mir wird warm ums Herz. Ich kann die Hitze in meinem Brustkorb spüren. Ein breites Lächeln auf meinem Gesicht. Ich weite die Wärme aus, erst auf meinen Körper, dann auf die Meditierchen um mich herum, dann auf meine Lieblingsmenschen, und noch weiter. Mitgefühl für alle. Die Energie wird schwächer, je weiter ich sie ausdehne, ihre Dosierung strecke. Dann schwindet meine Kraft, es ist schwierig. Trotzdem habe ich ein bisschen Glückseligkeit entfacht, einfach so, ohne Lieblingssong, ohne Blick aufs Meer, unabhängig. Ich bin hin und weg. Erst war ich von der Achtsamkeit überrascht, jetzt vom Glück.
Kann ich das noch verstärken? Werde ich nächsten Monat zu einem Perpetuum mobile der Glückseligkeit und verpuffe dann in einer Energiewolke? Klar ist: Meine emotionales Spektrum kann ich noch erweitern. Das merke ich bei der neuen Dyade.
Affekt-Dyade (10min): Es wird zu zweit meditiert, von Angesicht zu Angesicht oder über das Smartphone. Die wöchentlich wechselnden Partner erzählen einander, wie sie ein kürzliches Erlebnis emotional und körperlich empfunden haben. Der andere hört empathisch zu. So sollen Mitgefühl, Empathie und Dankbarkeit geschult werden.
Ich muss Thorsten beschreiben, was für mich angenehme und unangenehme Gefühle sind. Auf die schwierigen kann ich mich nicht besinnen. Bei den positiven merke ich, dass ich mir im Überschwang meist peinlich bin, wenn ich kichere und Blödsinn rede. Lieber sind mit die ruhigen, schönen Gefühle, auf einer Wellenlänge mit meinen Jungs, nostalisch auf dem Hügel, ein Bier, ein Lächeln, eine Karmawolke. Thorsten versteht das und hat Tränen in den Augen.
Ich muss erstmal gar nichts
Der Frühling ist explodiert und die Kirschbäume sind zugeknallt mit rosa Blüten, vielleicht seit Wochen schon. Mir fällt es zum ersten Mal auf. Die Achtsamkeit im Alltag lässt zu wünschen übrig. Ich komme gar nicht auf die Idee, an mein Herz zu denken und an gute Wünsche für Fahrgäste in der U-bahn. Aber ich bin gut drauf, vielleicht ist das ja schon etwas. Den anderen geht es auch so. Die Herzmeditation ist schön, das gute Gefühl funktioniert quasi mit einem Fingerschnippen. Die Dyaden mit Alex sind superwitzig. Cooler Typ, ein Punk, ein Kind, ein Filmspinner. Wir erzählen uns keine schwierigen Geschichten, es ist nichts mehr schwierig.
Der Druck von außen, die Macht schlechter Gedanken, der Stress, alles nicht mehr so schlimm. Ich bin sehr mit mir im Reinen und zufrieden. Ich bin nicht motiviert, etwas zu ändern. Ich mache kaum noch Sport, gehe nicht raus, denke nicht nach, stehe nur arrogant über den Dingen, über den Problemen, fühle mich besser als der Rest. Wenn ich Leute sehe, die sich fleißig 14 Stunden am Tag überarbeiten, dann denke ich: Macht ihr mal.
Wo soll das hinführen? Ich zweifle.
„Ich glaube, wir haben uns da eine Horde kleiner Egozentriker gezüchtet“, sagt Christina aus dem Labor.
Eine neue Haltung
Beim letzten Training reflektieren wir noch mal. Lothar hat seine Ernährung umgestellt, Ute Frieden mit ihrer sterbenden Mutter gefunden, Olaf hat sich das Rauchen abgewöhnt, Doris hat keine Kopfschmerzen mehr. Wir können unsere Gedanken ordnen, unsere Mitte finden. Aber in dieser Mitte sind die meisten von uns hängen geblieben. Vielleicht braucht es für das Mitgefühl doch mehr als nur ein paar Wochen Training.
Wir planen, wie wir weiter meditieren können. Mit Tonspur, oder traut sich jemand die Anleitung zu? Den Raum der Charité können wir vorerst weiter benutzen.
Auf den Dielen klebt Konfetti. Ich verfrachte Flaschen und Gläser in die Küche, ziehe einen Müllsack hinter mir her. Zu meiner Geburtstagsparty waren alle da. Meine Freunde haben mir die neue Hippieattitüde verziehen. Und ich habe mir die Meditationspredigten auf der Feier verkniffen. Was gar nicht so einfach war, denn mir sind permanent irgendwelche Zen-Ratschläge durch den Kopf gerauscht. Dass es hilfreich ist, sein dickes Fell abzulegen, wenn man mehr wahrnehmen möchte. Dass es leichter ist, hinter den Wasserfall der Gedanken zu treten und ihn vergnügt zu beobachten, anstatt sich von ihm ertränken lassen. Dass es nicht darum geht, ein Ziel zu erreichen. Sondern darum, eine Haltung zu kultivieren.
Eine halbleere Packung Studentenfutter, wieder sind nur die Rosinen übrig geblieben. Niemand mag Rosinen sonderlich. Ich picke mir eine aus der Tüte heraus und kaue zaghaft darauf herum. Prüfe ihren Geschmack, ihre Konsistenz. Rosinen haben Kerne. Ist mir nie aufgefallen. Ich nehme noch eine, fühle ihre Struktur, rieche an ihr, halte sie ans Ohr. Sie macht Geräusche. Rosinen knistern, hätten Sie’s gewusst?
von Philipp | 22 Mrz 2022 | Reisen
erschienen in der GEO Special 06/2018
Warum die Männer immer noch hinter ihr her sind, kann sie auch nicht so recht begreifen. Da ist dieser eine Kerl, Cristobal, er wohnt nur ein paar Türen weiter. Er macht ihr Komplimente, sagt ihr, sie verzaubere ihn, weil sie immer so fröhlich sei. Ana Reyneri Fonseca Gutiérrez rollt mit den Augen und winkt ab. Zehn, zwölf Jahre baggert er sie schon an. Sozusagen seitdem sie ihren Mann unter die Erde gebracht hat. Ana lässt das kalt. Sie schert sich nicht mehr um die Männer. Für alles gibt es seine Zeit, findet sie.
Ana trägt ein schlichtes, dunkelblaues Kleid, an das sie eine glitzernde Brosche gesteckt hat. Sie schmückt sich mit Ohrringen und Ketten und Ringen. Ihre silberne Armbanduhr hängt lose an ihrem dürren Handgelenk. Ihre Haut wirkt wie Pergament. Auf ihrer Veranda wippt Ana in ihrem Schaukelstuhl, hinter ihr zieren quietschbunte Madonnenmalereien und Jesusbilder die Wände. Im Radio singt Julio Jaramillo, Lateinamerikas Schlagerstar schlechthin. Bei dem würde Ana noch eine Ausnahme machen Mit dem würde sie tanzen gehen, sagt sie und kichert. Aber der Gute sei ja nun auch schon seit 40 Jahren tot.
Cristobal Muñoz Villalobos steht in der prallen Mittagshitze im Garten. Er hängt ein paar frisch gewaschene Tücher zum Trocknen auf, zupft seinen Fischerhut zurecht und stützt sich auf seinen Gehstock. Eigentlich habe er es längst aufgegeben mit den Frauen, sagt er. Irgendwann seien sie merkwürdig geworden. Sie hätten plötzlich ihren eigenen Willen gehabt, freizügigere Kleider getragen, Widerworte gegeben. Das muss so um 1940 begonnen haben, erinnert sich Cristobal. Aber Ana sei anders, sie habe noch Klasse.
Die Dame ist 103 Jahre alt. Der Herr dagegen noch ein junger Hüpfer, gerade erst 100 geworden. Aber dort, wo Ana und Cristobal aufgewachsen sind und noch immer wohnen, ist ihr Alter gar nicht so ungewöhnlich.
Eine von fünf Blue Zones
Die Halbinsel Nicoya liegt auf der Pazifikseite Costa Ricas. Dort hält die Trockenzeit unter wolkenlosem Himmel noch lange an, wenn es im Hochland schon überall in Strömen regnet und die Karibikküste überschwemmt ist. Nicoya ist eine der fünf so genannten „Blue Zones“ auf der Erde. Neben dem Bergbezirk Ogliastra auf Sardinien, der griechischen Insel Ikaria, dem kalifornischen Loma Linda und der japanischen Präfektur Okinawa erreichen auf Nicoya überdurchschnittlich viele Menschen das 100. Lebensjahr.
Statistiker haben diese Regionen vor etwa 15 Jahren aus ihren Bevölkerungszahlen herausgelesen. Und diese mit einem blauen Marker eingekreist. In diesen blauen Zonen also ist die Sterblichkeitsrate im mittleren Alter wesentlich niedriger als anderswo. Deshalb untersuchen dort Wissenschaftler, was Philosophen und Mediziner seit Methusalem beschäftigt: das Geheimnis des ewigen oder wenigstens des wesentlich längeren Lebens.
Länger leben heißt gesund leben. Gesund leben heißt hierzulande und heutzutage: regelmäßig Sport treiben, nicht rauchen, Alkohol in Maßen, reichlich Obst und Gemüse. Die einen schwören zusätzlich auf Yoga und Grüntee, die anderen saunieren oder schlucken Vitaminbomben in Pillenform. Doch was unseren Körper tatsächlich vor Krankheit und Verfall bewahrt, bleibt Spekulation.
Jorge Vindas López, Demograf aus Santa Cruz und selbst erst ein halbes Jahrhundert alt, will der Langlebigkeit auf den Grund gehen. Vor 15 Jahren hat er in den Aufzeichnungen der Gemeinden Nicoyas entdeckt, dass Menschen auf der Halbinsel überdurchschnittlich alt werden. „Einer von 3800 Nicoyanern erreicht das 100. Lebensjahr“, erzählt er in einem Straßencafé im Zentrum der Stadt Nicoya und schiebt sich eine Brille mit ulkigem roten Gestell auf die Nase. „Das sind dreimal so viele wie im weltweiten Durchschnitt.“ Menschen, die 100 Jahre und älter werden, heißen in Costa Rica Centenarios. Die meisten von ihnen leben auf der Halbinsel, um die 150 derzeit.
Aller paar Wochen fährt Vindas von Dorf zu Dorf, von Belén im Norden und Tambor im Süden, um die Alten zu besuchen. Er befragt sie nach ihrer Gesundheit und ihrem Alltag und spricht sich mit ihren Ärzten ab. So sammelt er für das zentralamerikanische Zentrum für Bevölkerung in der Hauptstadt San José wichtige Daten über das Leben der Centenarios. Ärzte nehmen dabei regelmäßig Blutproben, messen Cholesterin und Blutdruck, testen Fitness von Kopf und Körper.
„Die Menschen sind körperlich aktiv und schlank“ – Jorge Vindas, Demograf
Das Ergebnis bis dato: „Die Menschen hier sind körperlich aktiv, relativ schlank und leiden selten an Herz-Kreislauf-Erkrankungen“, fasst Jorge Vindas zusammen. Traditionell kommen in der Gegend vor allem Reis, Bohnen, Tortillas und Schweinefleisch auf den Tisch. Herunter gespült werde alles mit reichlich Kaffee. Keine Grünkohlsmoothies weit und breit. „Das klingt nicht nach außergewöhnlich gesunder Küche, ist aber immer regional, organisch und frei von Zusatzstoffen.“
Sechs Faktoren hat der 54-Jährige heraus kristallisiert, die zur Langlebigkeit in der Blauen Zone führen sollen. Neben der Ernährung und der körperlichen Betätigung gehören für Vindas dazu: Religiosität, soziale Wertschätzung, Lebenszweck und Gleichmut. „Die Centenarios sind gläubig, werden auch im hohen Alter respektiert, haben immer noch Aufgaben und Ziele.“ Und dann wäre da natürlich noch das berühmte Lebensmotto Costa Ricas, das das Land werbewirksam in die Welt hinaus trägt.
Pura Vida.
Das „pure Leben“ bedeutet Leichtigkeit, Friedfertigkeit, Naturverbundenheit, glückliches Miteinander. Die Floskel hat sich aber auch darüber hinaus in den Alltag eingeschlichen. Von „Hallo“ über „Wie geht’s?“ bis zu „Ja“, „Okay“ und „Auf Wiedersehen“ ist pura vida allgegenwärtig. Eine sympathische und offenbar sehr gesunde Lebensphilosophie, zelebriert im derzeit angeblich glücklichsten Land der Welt, wie Zufriedenheitsstudien aller paar Jahre herausfinden wollen.
Ein paar Kilometer von Nicoya entfernt liegt Pochote: Fincas von ein paar Dutzend Farmern, die im Schutz der fast schon unwirklich grün leuchtenden Berge liegen. Ein paradiesischer Ort, an dem es sich gemütlich steinalt werden lässt. Trinidad Espinoza Medina wohnt hier seit nunmehr 101 Jahren in einer verwinkelten Hütte aus Holz und Stein. Nie habe sie diesen Ort verlassen. Nur der Mangobaum auf der anderen Straßenseite sei älter als sie. Auf dem sei sie schon als Kind herum geklettert.
Die Frau mit dem langen, weißen Haar thront auf einem massiven Stuhl aus Teakholz. Auf den Knien balanciert sie ihr Telefon, um sie herum flitzen Hühner, über ihr im Baum lärmen die Brüllaffen. Sie habe immer Besuch, erzählt Trinidad. Dank ihrer zwölf Kinder, der paar Dutzend Enkel, noch mehr Urenkel, unüberschaubar vieler Ur-ur- und seit neuestem auch noch Ur-ur-ur-Enkel sei immer jemand da. So kann auch stets jemand im Haushalt helfen. Auch, wenn Trinidad noch immer selbst den Boden fegt und Tortillas nach ihrem Rezept knetet.
Nunca fiesta, no bicicleta
Und Trinidad ist als Dorfälteste auch sonst gefragt. Ihr Rat ist geschätzt, besonders, wenn es um die wesentlichen Dinge im Leben geht. Und natürlich will auch dauernd jemand von ihr wissen, wie man eigentlich so steinalt wird. Dann pflegt Trinidad zu antworten: Meide große Menschenansammlungen, feiere keine ausschweifenden Partys – und steige nie aufs Fahrrad. Alles viel zu gefährlich.
Ein paar Häuser noch jemand, den der liebe Gott vergessen zu haben scheint: Bonifacio Villegas. Schwungvoll steigt er von seinem Pferd, knotet die Zügel an einen Ast und schlendert zu der Hütte gegenüber seiner malerischen Finca. In dieser Hütte sei er auf die Welt gekommen, erzählt Bonifacio und stupst sich den Cowboyhut aus dem noch immer jungenhaften Gesicht. Warum er noch hier ist, weiß er nicht. Er will auch besser nicht so viel darüber nachdenken.
Bonifacio sagt, er fühle sich topfit. Er reite jeden Tag aus, füttere die Tiere, halte das Haus in Schuss. Er brauche keine Medikamente, kein Hörgerät – und keine Brille, wenn er die Nachrichten auf seinem Handy checkt. Das Rauchen hat er mittlerweile aufgegeben, aber ab und an trinke er noch ganz gern mal einen. Erst vor kurzem hat ihm der Forscher Jorge Vindas eine gute Flasche Red Label mitgebracht. Ein Geschenk zum 100. Geburtstag.
Worin also liegt das Geheimnis des langen und noch längeren Lebens? „Neben der recht ähnlichen Ernährung gibt es ein paar Gemeinsamkeiten unter den Centenarios“, sagt Vindas. Alle hätten sie ihr ganzes Leben lang schwere körperliche Arbeit geleistet. Niemand habe Armut fürchten müssen. Auch habe keiner Reichtum angehäuft und sei dann an seinem Besitz verbittert. „Die Centenarios haben Körper und Geist offenbar immer auf angenehmer Betriebstemperatur gehalten“, vermutet der Demograf.
Jorge Vindas will seine Erkenntnisse in die Schulen Costa Ricas tragen, um bei den Kindern für gesundes Leben zu werben. Denn die Jüngeren würden nach und nach die traditionellen Kochrezepte vergessen, sagt Vindas. Gerade hat ein neues Fast-Food-Restaurant in Nicoya eröffnet – spezialisiert auf frittierte Hühnerflügel und süße Softdrinks. Vor allem die Kids seien süchtig nach dem Zeug.
Arm, aber genügsam
Leute, die sitzen bleiben, sterben, sagt Bonifacio kurz und knapp. Also reitet er weiterhin jeden Tag mit seinem Pferd aus. Das, nebenbei bemerkt, auch schon weit über 30 Jahre alt ist. Das Trinkwasser von Nicoya, mit dem manchmal auch das Vieh getränkt wird, hat das Institut bereits analysiert. Ja, es ist reich an Calcium und Magnesium, gut für die Knochen. Ansonsten ist es sehr gewöhnlich. Den Jungbrunnen hat man darin nicht gefunden.
Er sei arm, aber genügsam, sagt Bonifacio. Er sei manchmal traurig, aber stets zufrieden. Was ihn am Ende umbringen werde, seien die Frauen. Die brächen ihm noch Herz. Wenn der Centenario kichert und gluckst, wirkt er noch einmal ein paar Dekaden jünger. Vor allem die jüngeren Damen hätten es ihm angetan, sagt er. Frauen zwischen 50 und 60 etwa. So wie seine Hausärztin, die ihn regelmäßig besucht. Sie zur Begrüßung zu umarmen reiche schon aus, um sein Herz weiter schlagen zu lassen.
Auch die Forscher hoffen darauf, dass Bonifacio noch ein Weilchen fit und guter Dinge bleibt. Um von ihm und den anderen Centenarios zu lernen. Hierzu haben sich gerade die Demografen aller fünf Blue Zones in Nicoya getroffen. Ihr Ziel: Gemeinsam ein internationales Netzwerk schaffen, das von den Regierungen geschätzt und gefördert wird. „Zunächst werden wir nach mehr Gemeinsamkeiten in den blauen Zonen suchen“, erklärt Jorge Vindas. Standardisierte Fragebögen, identische Messmethoden, Grundlagenforschung. „Vielleicht entdecken wir in der Umwelt der Hundertjährigen noch eine entscheidende Schnittmenge.“
Doch Vindas und seine Kollegen interessieren sich nicht nur für nackte, wissenschaftliche Daten. „Wir wollen auch die Traditionen der alten Leute wahren – und so von ihrem Lebensstil zu lernen“, erklärt der Forscher. „Es ist entscheidend, unsere Blaue Zonen zu erhalten, sie zu beschützen und zu fördern, was gut für uns ist.“ Vindas Plan ist klar. Er will die Lebensbedingungen auf der ganzen Welt verbessern. Nicht weniger.
Quellen:
Blue Zones
Studie zur Demografie in Nicoya
Happiness Index
von Philipp | 21 Mrz 2022 | Reportagen
erschienen in der GEO 11/2015
Zähflüssig verrinnen die Minuten, während ich mich von Buchstabe zu Silbe zu Satz zu Sinn hangele. So muss sich Legasthenie anfühlen. Ich kenne die Symbole, ich habe ihre Bedeutung auswendig gelernt. Doch trotzdem weigert sich mein Gehirn, die Zeichen miteinander zu verbinden. Es ist Buchstaben gewohnt. Keine roten, grünen, blauen Kästchen. Genau das soll aber in meinen Kopf: Jede Farbe steht für einen Buchstaben, ist fest mit ihm verknüpft. B zum Beispiel ist dunkelblau.
Der rechte Zeigefinger muss beim Lesen helfen. Wie damals in der Grundschule. Er leitet meinen Blick über die bunten Quadrate. Irgendwann ist der erste Absatz gemeistert. Die Unendlichkeit zweier voll beschriebener Seiten noch vor mir. Und das jeden Tag. Wochenlang.
Es hat ja auch keiner behauptet, es sei leicht, Synästhesie zu lernen.
Synästhesie. Der Begriff beschreibt die Verschmelzung mehrerer Sinneswahrnehmungen. Synästhetiker nehmen die gewöhnliche Welt auf eine ungewöhnliche Weise wahr. Stellen Sie sich vor, beim Lesen erschienen ihnen die Buchstaben in Farbe getaucht (genau das will ich erreichen). Stellen Sie sich vor, das Knarzen der Stufen in Ihrem Treppenhaus röche nach Pfefferminz. Stellen Sie sich vor, Sie trinken Zitronensaft und fühlten am ganzen Körper Spitzen, und die Zahlen, die sie auf dem Telefon wählen, kitzelten Sie an den Füßen.
Können Sie nicht? Geht mir ähnlich. Aber ich wollte, ich könnte.
Deshalb suchte ich das Sackler Centre for Consciousness Science auf, einen schnörkellos fensterarmen Backsteinklotz auf einem von Nebelschwaden umhüllten Campus der University of Sussex in Brighton. Das Hauptquartier der Synästhesie-Forschung schlechthin. Dort haben britische Wissenschaftler ein Training entwickelt, das über Denksport, Schnelllesen und Kreuzworträtsel hinaus reicht. Es soll auch Nicht-Synästhetiker wie mir den Weg bahnen in die attraktive Welt der übersinnlich Begabten.
Grapheme und Farben
Als ich von dieser Möglichkeit hörte, war ich elektrisiert. Denn Synästhetiker berichten nicht nur von surrealen Sinneswahrnehmungen. Sie gelten auch als ausgeglichen, sorgenfrei, psychisch stabil, begabt. Etlichen Genies wird Synästhesie nachgesagt. Goethe wird sie angedichtet, auch Baudelaire, van Gogh und dem Physiker Nikola Tesla. Kandinsky sowieso; wer seine Bilder betrachtet, begreift ohne synästhetisches Empfinden, wie Klänge auf einer Leinwand aussehen. Auch Lady Gaga behauptet, ihre Musik in Farbe und Form sehen zu können.
Ein bisschen mehr Kreativität, ein bisschen mehr Leichtigkeit, das wollte ich auch. Die Welt anders, intensiver wahrnehmen. Die grauen Zellen trainieren, bis sie Ungewöhnliches können. Übersinnliches, sozusagen.
Im Sackler Centre sitzt mir David Schwartzman mit verschränkten Beinen gegenüber und balanciert ein Diktiergerät auf seinem Knie. Ich starre an ihm vorbei an eine Wand, die eher einen neuen Anstrich als noch ein weiteres Poster über optische Täuschungen vertragen könnte, und überlege, ob ich Buchstaben mit bestimmten Farben verbinde. Naja, der Buchstabe T ist irgendwie magenta, sage ich. Damit wächst man auf, ob man will oder nicht. Der Neuropsychologe grinst mich durch seinen Buffalo-Bill-Bart hindurch an. Damit sei ich noch kein Synästhetiker, findet Schwartzman.
Aber durch sein Training könnte ich einer werden.
Die „Graphem-Farb-Synästhesie“, die ich lernen soll, ist die am weitesten verbreitete von 54 bekannten Synästhesien. Manchen Graphem-Farb-Synästhetikern erscheint ein zusätzlicher Sinneseindruck, fest verwoben in ihren Gedanken. Für andere ist es, als hätten sie einen Monitor vor Augen. Sie sehen die bunten Buchstaben auf einer transparenten Ebene über dem eigentlichen Text schweben.
Schwartzman und seine Kollegen Nicolas Rothen, Daniel Bor und Anil Seth versuchen, mit Gedächtnis- und Leseübungen bunte Assoziationen zu wecken. Neun Wochen lang werden mir mit einem Computerprogramm 13 Buchstaben-Farb-Kombinationen eingeimpft. Ein dunkelblaues B. Ein braunes D. Ein hellgrünes E, und so weiter. Jeden Tag werde ich Farb- und Buchstabenreihen abgefragt, die ich korrekt wiedergeben soll. Ich muss mit Geschwindigkeitstests die gelernten Farben verinnerlichen und Texte lesen, in denen Buchstaben durch ihre zugewiesenen Farbnuancen ersetzt sind.
„Nach unserem Training haben bislang alle Probanden von Farbwahrnehmungen berichtet, die denen echter Synästhetiker ähneln“, berichtet Schwartzman. Und ein schöner Nebeneffekt: Der Sussex-Studie zufolge habe sich ganz nebenbei auch der IQ der Teilnehmer um ein paar Punkte verbessert. Das Gehirn lässt sich offenbar wie ein Muskel trainieren. Nur dass es dabei nicht wesentlich an Masse zulegt, sondern an der Anzahl neuronaler Verknüpfungen.
Der Erfolg der Trainingsstudie zeigt, dass Synästhesie gelernt werden kann, zumindest teilweise. Für einen Lernanteil spricht auch ein Befund aus dem März 2015: Als US-amerikanische Forscher die Häufigkeit bestimmter Buchstaben-Farb-Kombis untersuchten, stellte sich heraus, dass in den 1970er und 1980er Jahren geborene Synästhetiker den Lettern besonders häufig jene Farben zuordneten, die auch die Buchstaben eines weit verbreiteten Magnetalphabets hatten. Denn viele Kinder meiner Generation haben das ABC nicht auf dem Papier gelernt. Während Mutti Mittag machte, heftete unsereins die ersten Worte an Kühlschranktüren. Und übernahm die Farbzuordnungen offenbar vom Spielzeug.
Das reicht natürlich nicht aus, um Synästhetiker zu werden. Dazu braucht es mehr.
Denn eines steht auch fest: Das Phänomen hat eine genetische Komponente. Es gibt Familien, in denen sich diese Art der Wahrnehmung häuft. Von Generation zu Generation weitergegeben wird dabei nicht unbedingt die Art der Synästhesie, sondern vielmehr die Veranlagung, Sinneserfahrungen zu mixen. Ein Vater mit Graphem-Farb-Synästhesie kann also durchaus eine Tochter haben, die Töne schmeckt.
„Eigentlich sind wir alle von Geburt an Synästhetiker“. – David Schwartzman, Neurowissenschaftler
Aber wie genau entsteht nun Synästhesie, welche Verschaltungen im Gehirn liegen dem Sinnesmix zugrunde? Neurowissenschaftler diskutieren vor allem zwei Theorien. Sie kursieren unter den (zunächst) kryptischen Schlagworten „enthemmtes Feedback“ und „Kreuzaktivierung“.
Wenn wir einen Gegenstand wahrnehmen, laufen seine verschiedenen Eigenschaften wie Form, Farbe, Geruch im Gehirn in einer zentralen Schaltstelle zusammen. Dort verschmelzen sie zu einem einheitlichen Sinneseindruck: Das Rechteck ist dunkelbraun und duftet nach Kakao – ein Stück Schokolade. Von dieser Schaltzentrale laufen auch Verbindungen zu anderen Sinnesmodalitäten, die allerdings blockiert sind: Das Braun der Schokolade ist normalerweise nicht mit einem Ton assoziiert.
Bei Synästhetikern aber, so denken sich das die Forscher, ist eben diese Blockade aufgehoben, ist das Feedback zu einem Hirnareal, das an der Wahrnehmung eigentlich nicht beteiligt ist, „enthemmt“. Daher der Name der Theorie. Das bedeutet allerdings auch: Synästhetiker haben – zumindest anatomisch gesehen – das gleiche Gehirn wie Nicht-Begabte. Ihr Gehirn funktioniert nur etwas anders.
Die Theorie der Kreuzaktivierung geht dagegen davon aus, dass bei Synästhetiker zusätzliche Verschaltungen zwischen Neuronen vorhanden sind. Und diese seien Überbleibsel aus der Baby-Zeit. „Denn eigentlich sind wir alle von Geburt an Synästhetiker“, erklärt Schwartzman. Nur verlieren die meisten diese Begabung. Bei Neugeborenen ist das Gehirn für alle Eventualitäten gewappnet, zwischen Nervenzellen existieren Verknüpfungen im Überfluss. Die Sinne fließen noch ineinander.
Unbewusste Gabe
Die Umwelt bestimmt dann, was überlebt. Jene Schaltkreise, die häufig gereizt werden, bleiben erhalten, ja werden sogar verstärkt. Jene, die kaum Signale erhalten, verkümmern. So optimiert sich das Gehirn selbst für die Anforderungen des Lebens.
Bei Synästhetikern wird der ursprüngliche Wildwuchs an Neuronen eben nicht so stark ausgedünnt. Die Forscher aus Sussex sind überzeugt, dass es für Normal-Sinnliche quasi einen Weg zurück gibt, dass sich verlorengegangene Verknüpfungen reaktivieren lassen.
Der Club der genialen Synästhetiker ist also vielleicht gar nicht so elitär. Man kann ihm womöglich nachträglich beitreten.
Laut Sackler Center erlebt eine von 23 Personen die Welt als Synästhetiker. Die Quote variiert jedoch, denn oft ist Synästhetikern gar nicht bewusst, welche Gabe sie haben. Wer kann schon beurteilen, wie er selbst die Welt sieht und wie es andere tun.
Zudem waren Farbenfühlen und Gerüchesehen nicht schon immer erstrebenswert. Lange galt Synästhesie als Hirngespinst, das man entweder geheim hielt oder der Poesie überließ. Dichter nutzten den Sinnesmix als Stilmittel, prägten so die Epoche der Romantik und ließen vor 200 Jahren wie Clemens Brentano „Töne golden niederweh’n“.
Heute steht jedenfalls fest: „Synästhesie ist keine Phantasterei. Sie kann nachgewiesen werden!“, sagt Schwartzman entschlossen und zieht mir mit ebenso viel Entschlossenheit eine Badekappe über die Ohren.
Sicheln und Scheiben blitzen auf
In einem zappendusteren Kämmerchen starre ich auf einen Monitor, der mir ein langweiliges Schachbrett präsentiert. Seine Felder springen ansatzlos hin und her, schwarz wird weiß und weiß wird schwarz. Meine Augen suchen Halt. Zwei Tassen Kaffee halten mich munter, derweil die verkabelten Elektroden in der Badekappe meine Hirnströme messen. Die Aktivität der Sehrinde sei ein guter Indikator für Synästhesie, ruft Schwartzman durch die Tür. „Je höher die Amplitude auf dem EEG, desto mehr Neuronen feuern durch den visuellen Kortex.“
Und je mehr Feuer unterm Schädeldach, desto näher die Synästhesie.
Weitere Hinweise auf ein synästhetisches Gehirn liefert die „Transkranielle Magnetstimulation“, kurz: TMS. Bei dieser Methode durchdringt ein magnetischer Impuls die Schädeldecke und beeinflusst die Neuronen. An der University of Oxford untersuchte der Hirnforscher Devin Terhune die Farbwahrnehmung von Graphem-Farb-Synästhetikern. Ein kurzes „Zapp“ mit dem TMS – und schon sieht der Proband Farben und Formen aufblitzen. Terhune stellte fest, dass die Reizschwelle bei Synästhetikern deutlich niedriger liegt als bei Nicht-Synästhetikern. Bereits ein Drittel des TMS-Impulses reicht bei ihnen aus, um visuelle Effekte auszulösen.
Testweise setzt David Schwartzman das TMS an meinem Kopf an und lässt meinen kleinen Finger zucken. Ich bin gleichermaßen erstaunt und erschrocken ob der Präzision der Magnetimpulse. Dann richtet der Wissenschaftler den Magneten auf meinen visuellen Kortex. Zapp. Vor meinen verschlossenen Augen blitzt etwas Sichelförmiges auf. Dann eine konvexe Linse. Dann eine Scheibe. Die Vision ist kurz und sehr diffus, aber sie genügt dem Hirnforscher. Er notiert meine Beschreibung auf einen Zettel. Mal sehen, welche Bilder das TMS beim nächsten Mal erzeugt, sagt Schwartzman und entlässt mich ins Synästhesie-Training.
Ein gelbes Y
Ein grünes G, ein hellblaues I, ein orangefarbenes O. Wochenlang sitze ich mindestens eine Stunde am Tag vor meinem Tablet und übe. Farben und Buchstaben füllen das Display. Ich merke mir Buchstabenfolgen, die immer länger werden, wenn ich sie richtig wiedergebe. Ich tippe auf Felder in einer Farbpalette, die immer schneller verschwinden, wenn ich richtig liege. Ein rosafarbenes P, ein lilafarbenes Q, ein rotes R.
Ich und Farben. Meine Fähigkeit, Farbnuancen voneinander zu unterscheiden, ist miserabel, mein Kleidungsstil bestätigt das. Bis heute irritiere ich Freunde und Verwandte, wenn ich in beißenden Tönen aufkreuze, oftmals unangemessen, immer quietschbunt. So bunt wie die Wörter, die ich bald in Büchern, Zeitschriften und auf Websites lesen möchte. Schillernd sollen sie sich durch meine Lektüre ziehen und eine farbenfrohe Welt der Sprache eröffnen. So stelle ich mir das jedenfalls vor. Ein graues U, ein weißes W, ein schwarzes X.
Voller Ehrgeiz lerne ich Farben und Buchstaben, präge mir alles ein, wiederhole, wiederhole, wiederhole. Manche Farben passen gut zu ihren Buchstaben, findet mein Gehirn. Andere Paarungen wollen sich die grauen Zellen auf Teufel komm raus nicht merken. Doch so viel ich auch übe: So spektakulär wie erhofft will sich die Synästhesie nicht entfalten. Ich begegne ihr allerhöchstens während meiner Übungen und unmittelbar danach, nie im Alltag. Einmal entzückt mich ein Y, als ich eine Email schreibe. Es taucht einfach so mitten in einem Absatz auf, und zwar viel gelber als es sein sollte.
Doch wie viel hat das, was mit mir passiert, mit Synästhesie zu tun? Arbeitet mein Gehirn bereits synästhetisch und aktiviert andere Areale, sobald der visuelle Kortex stimuliert wird? Oder lerne ich die Buchstaben-Farb-Duos auswendig wie Vokabeln?
Hinter der Augenschranke
Ich treffe mich mit Uta. Ich möchte erfahren, was meine gelernte von der vererbten Synästhesie unterscheidet. Die Physikerin ist „eine gewöhnliche Wald- und Wiesen-Synästhetikerin“, wie sie sagt. „Wenn ich einen Text vor mir habe, dann ist der auch zunächst schwarz auf weiß“, erklärt Uta. „Erst hinter der Augenschranke wird’s bunt.“ Buchstaben haben eindeutige Farben, die bei längeren Wörtern zu Farbbändern verschwimmen. Als ob man mit einem Pinsel quer über die feuchten Farben wischt, sagt sie. „Hätte ich mir das jedoch bewusst ausgesucht, hätte ich kontrastreichere Farben gewählt.“
Meine Trainingseinheiten werden länger. Woche für Woche graben sich die Farben tiefer ins Unterbewusstsein. Immer häufiger quetschen sich dicke Farbblöcke in meine Gedankenkreisel, direkt zwischen Erinnerungen und To-do-Listen. Die Synästhesie scheint gegenwärtig – aber ich lese keine bunten Buchstaben. Ich denke an die Farben, die ich gelernt habe. Doch ich sehe sie nicht.
Vor mir ein Aufsatz aus kryptischen Farbenfolgen. Manche erkenne ich auf Anhieb. Andere bringen mich zur Verzweiflung. Pink, hellgrün, orange, pink, dazwischen ein L, hellgrün, weiß, hellblau, ein T, ein H, rot, hellgrün, ein A, braun, hellblau, ein N, grün, pink, rot, orange, blau, noch ein L, hellgrün, ein M, ein S.
P-e-o-p-l-e-w-i-t-h-r-e-a-d-i-n-g-p-r-o-b-l-e-m-s? Solche Leute sind mir inzwischen vertraut.
Superhirn braucht Disziplin
Zurück in Sussex. David Schwartzman kommt mir mit zwei Bechern Kaffee entgegen, gewohnt lächelnd und bärtig, und fragt, wie es mit dem Training gelaufen sei. Ich verrate ihm nicht, dass ich bei den letzten drei Leseübungen geschummelt habe. Ich habe die Texte – Zeitschriften- und Fachartikel – anhand von Titel und Autor gegoogelt und im Buchstabenoriginal gelesen. Die grauen Zellen wollten nicht länger knobeln. Ein Superhirn verlangt wohl mehr Disziplin.
Doch im Labor spüre ich ein paar Veränderungen. Während des EEG nimmt das Schachbrett auf dem Monitor wesentlich schärfere Konturen an. Über den springenden Feldern spannt sich ein blau-grünes Netz und schwimmt durch mein Sichtfeld. Der visuelle Kortex macht Faxen. Das bestätigt auch die verkabelte Badekappe. Bei der Messung meiner Hirnströme schlägt die Amplitude deutlich höher aus als beim ersten Test. Auch das TMS sorgt für intensiveres Kopfkino. Die Magnetimpulse malen viel hellere Lichtblitze auf meine geschlossenen Lider. Ich nehme stärkere Kontraste wahr, Linien, Bögen.
Ist doch etwas in meinen Hirn passiert?
Es ist. Der finale „Stroop-Test“ zeigt es. Ich soll die Farben einer Reihe bunter Buchstaben in ein Mikrofon sprechen. Wie albern, denke ich und lächle. Schwartzman lächelt zurück, das Ergebnis ahnend. Ein rotes A. Ein blaues B. Ein gelbes C. Kein Problem, natürlich. Doch dann blockiert mein Hirn: Das E müsste doch hellgrün sein, so hellgrün wie immer! Aber es ist rosa, so rosa wie ein P. Mein Kopf fühlt sich an, als würden sich gerade Neuronen verknoten. Bis ich mich überwinden kann, die vorgegebene Farbe anzusagen, verstreichen Sekunden.
Hirn manipuliert
Ein Highfive von David Schwartzman, willkommen im Club der Synästhetiker. Jedenfalls nach der Definition der Sussex-Forscher. Richtig, ich ordne Buchstaben Farben zu. Ja, sie sind fest und unverwechselbar mit den Symbolen verknüpft, Abweichungen (wie das pinke E) lösen einen Konflikt aus. Darüber hinaus ist bei Magnetstimulation meine Reizschwelle für die Farbwahrnehmung gesunken – um 16 Prozent.
Die Kriterien sind erfüllt: Mein Hirn wurde mit relativ einfachen Mitteln manipuliert.
Für die Wissenschaftler an der University of Sussex ist die Synästhesie ein überschaubarer Schauplatz auf dem so schwer zu erschließenden Gebiet der Hirnforschung. Man kann sie messen, man kann experimentelle Bedingungen variieren – und man kann sie offenbar hervorrufen. Über diesen Weg wollen die Wissenschaftler mehr darüber erfahren, wie unser Gehirn auf äußere Reize reagiert, wie es sich anpasst. Gezeigt hat sich, dass sich Wahrnehmung durch simples Training verändern kann. David Schwartzman und seine Kollegen hoffen nun, mit ihren Erkenntnissen zur Behandlung von Krankheiten wie ADHS oder Demenz beizutragen.
Ich habe mir das allerdings anders vorgestellt. Bunter, weniger banal. Ich wollte Farben in meine Umgebung projiziert erleben. Wie fast die Hälfte der Sussex-Probanden es behauptet. Doch die Bilder sind nur in meinem Kopf. Meine Qs sind von nun an eben lila. Schließlich habe ich mir jeden Tag lila Qs angesehen. Habe Termine abgesagt, um trainieren zu können, bin nicht ans Telefon gegangen, weil gerade das Programm lief. Lila Qs sind doch ganz normal, sage ich. „Eine angeborene Synästhesie ist das doch auch: ganz normal“, antwortet Schwartzman.
bouba und kiki
Synästhesie ist deshalb ein so mysteriöses Phänomen, weil sie sich individuell entwickelt. Sie kann wissenschaftlich nachgewiesen werden, doch wie und wie intensiv sie wahrgenommen wird, das variiert von Person zu Person. Und es bleibt immer die Frage: Ist das eine genuine, eine echte Synästhesie? Vor kurzem zum Beispiel fiel einer Kollegin auf, dass ihre Zahlen männlich oder weiblich sind. Und mir selbst, dass meine Wochentage Farben haben. Schuld ist das Layout einer Fernsehzeitung aus den 1990er Jahren. Als echte Synästhetiker würden wir uns beide nicht bezeichnen.
Beat Meier von der Universität in Bern sagt, dass es einen kontinuierlichen Übergang zwischen tatsächlicher Synästhesie und einer einstudierten Assoziation von Buchstaben und Farben gibt. Und man kann diesen Gedanken noch weiter spinnen: Warum „sprechen“ Metaphern zu uns allen, über Kontinente und Kulturen hinweg? Fast jeder findet, dass das Kunstwort „kiki“ irgendwie stachelig klingt, während „bouba“ eher kurvige Formen annimmt. Fast jeder unterscheidet Vokale in eher helle und eher dunkle Laute, vielleicht sogar in verschieden farbige. Und für fast jeden schmeckt Süßes rund, Saures spitz. Vielleicht liegt es ja daran, dass auch bei uns „Normalen“ die Sinne nicht völlig unabhängig voneinander funktionieren. Dass sie zusammen spielen. Dass wir eben alle Synästhetiker sind, ein kleines bisschen zumindest.
Text und Bild: Philipp Brandstädter
Quellen
Harrison, John (2001): Wenn Farben Töne haben. Eintrag zu Baudelaire auf S. 112/113, zu Kandinsky auf S. 120.
Interview mit Lady Gaga
Julia Simner (2013)
Bor et al. (2014)
Witthoft (2015)
Spector/Maurer (2009)
http://wortwuchs.net/stilmittel/synaesthesie
Rothen/Meier (2014)
Ramachandran/Hubbard (2001)
von Philipp | 26 Feb 2022 | Reisen
erschienen in der GEO Special 06/2018
Tag 1: Halbinsel Nicoya
Was um Himmels Willen hat sich die Evolution dabei gedacht? Gemeinsam mit Rangerin Yama sitze ich am Strand des Schutzgebiets Ostional auf einem Baumstumpf und staune. Hunderte, Tausende Bastardschildkröten sind hier an der Pazifikküste der Halbinsel Nicoya gelandet, um sich mit ihren schweren Panzern über den Sand zu schieben. Graben sich mit ihren Flossen in die Tiefe. Legen ihre Eier ab und verscharren ihr Nest. Genau dort, wo sie selbst vor Jahren oder Jahrzehnten das Licht der Welt erblickt hatten. Dann schleppen sich die Schildkröten zurück ins Meer.
In manchen magischen Nächten, sagt Yama, kommen 10 000 Reptilien an Land. Yama hütet mit ihren Kollegen den Strand, zählt die erwachsenen Tiere, bewacht ihre Eier vor tierischen und menschlichen Dieben und hilft den Jungen später auf den ersten Metern ihres Lebens Richtung Pazifik. Die Schildkrötenmütter direkt neben mir sind wie in Trance, kümmern sich weder um mich noch um die gefräßigen Rabengeier, die darauf warten, ein Nest zu plündern. Am liebsten würde ich sitzen bleiben, bis die letzte Schildkröte ihren Weg zurück ins Meer gefunden hat. Und dann würde ich gern noch einmal 45 Tage bleiben, bis ihre Babys schlüpfen.
Yama sagt, die Sonne werde nun die Eier ausbrüten, ein paar Grad mehr oder weniger entscheiden, ob vorwiegend Männchen oder Weibchen schlüpfen. Nur ein Bruchteil von ihnen wird die nächsten Monate und Jahre überleben. Ich rieche das Salz des Meeres, lausche den schäumenden Wellen – und dem Ächzen und Schnaufen der Schildkröten. Dann stürzt die Sonne ins Meer, die Krötenpanzer schillern für einen Augenblick in Rot und Gold. Urplötzlich wird es zappenduster. Ich muss mich in Acht nehmen, auf meinem Weg zurück nicht über die Tiere zu stolpern.
Tag 2: Halbinsel Nicoya – Monteverde
Mühsam kämpft sich der jeep am nächsten Vormittag über eine asphaltierte Buckelpiste den Nebelwald nach Monteverde hinauf. Ein Gedanke tröstet mich: je katastrophaler die Straße, desto ursprünglicher die Gegend. Schlanke Teakbäume scheinen bis in die tief hängenden Wolken hineinzuragen. Ein Band von Mangoplantagen verbindet die Dörfer, wo Kinder in Schuluniformen auf dem Pausenhof toben. Zebus grasen, Brüllaffen hangeln sich an Stromleitungen entlang, Aras durchstreifen die Baumkronen.
Am Nachmittag lädt mich mein Fahrer Luis nach vier Stunden Rüttelfahrt vor einer riesigen Finca ab. Am Eingangstor wartet schon Adolfo Bello, der Besitzer. Sein Urgroßvater sei zum Goldschürfen hierhergekommen, erzählt der kleine, hagere Mann mit den geheimnisvollen dunklen Augen. Doch den wahren Schatz entdeckten die Bellos in der Kaffeepflanze. Die rote Arabica-Bohne gewinnt auf dem vulkanischen Boden und in dieser Höhenlage ihr intensives Aroma. Darum betreibt die Familie hier auf ein paar Hundert Hektar ökologischen Kaffeeanbau. Keinerlei Chemikalien kämen zum Einsatz, beteuert Adolfo
Über vier Generationen haben die Farmer gelernt, mit welchen Pflanzen sie ihre Sträucher vor schädlichen Insekten, Pilzen und Unkraut schützen. Adolfo zeigt uns eine Kurkumapflanze, deren Duft Ungeziefer abhält. Sein Bruder, erzählt er weiter, versprühe außerdem einen Extrakt aus der berauschenden Engelstrompete als Schädlingsschutz. Wie das genau funktioniert? Adolfo weicht aus. Er kümmere sich vor allem um das Rösten der Bohnen, sagt er und schmunzelt. Die wahren Geheimnisse des Bello-Kaffees bleiben in der Familie.
Der Duft gerösteter Kaffeebohnen lockt uns zu dem niedrigen Holzhaus inmitten der blühenden Felder. Ich schlendere an Kaffee- und Kakaopflanzen, Bananenstauden und Avocadobäumen vorbei und steige die Stufen zu der Veranda hinauf, wo Adolfos Frau Isabella auf offenem Feuer Kochbananen frittiert und Kaffee brüht. Isabella serviert die Bananen mit Sauerrahm und schenkt mir von ihrem schokoladig-nussigen Biokaffee ein. Und der ist die Wucht in Tassen.
Tag 3: Monteverde – La Fortuna
Gut 100 Kilometer und vier Atunden Autofahrt entfernt von der Kaffeefarm der Bellos, inmitten tropischer Wildnis, liegt das Städtchen La Fortuna. Hier sind die Straßen besser, gesäumt von Hotels, Restaurants und Geschäften. Der Grund dafür qualmt am Horizont: der Arenal, touristischer Anziehungspunkt und einer von 100 Vulkanen, die gemeinsam die mittelamerikanische Landbrücke bilden. Die meisten von ihnen schlafen seit Jahrtausenden. Nicht so der Arenal. Der hat zwischen 1968 und 2010 häufig gewütet und gespuckt, hat schwarze Asche und rot glühende Felsbrocken in die Luft geschleudert, sogar seine kegelige Vulkanspitze abgesprengt.
Gerade schlummert der 7000 Jahre junge Vulkan, nur etwas Rauch steigt aus seinem Krater. Im Arenal-Nationalpark an der Südseite, keine halbe Stunde von La Fortuna entfernt, steige ich den breit gepflasterten Pfad bis zum Arenalsee hinunter. In den Kronen der Würgefeigen, Mahagonigewächse und Kapokbäume sitzen gut getarnte Arassaris, kleine Tukane, feuerrote Tangaren, Sperlingsvögel, und riesige Tukane. Kolibris trinken Nektar aus Helikonienblüten, umtänzelt von kristallinen Glasflügelfaltern, anmutig schwebt ein Blauer Morphofalter vorbei. Echsen verharren im Geäst, eine Gruppe junger Nasenbären versteckt sich im Dickicht. Auf dem Pfad durch den Park spaziert es sich wie durch einen Zoo. Ich muss mir immer wieder in Erinnerung rufen, dass das hier unmittelbare Wildnis ist.
Anderthalb Stunden vom Arenal entfernt, in der Nähe von San Rafael de Guatuso, besuche ich die Maleku. Nur noch gut 600 Mitglieder der indigenen Minderheit leben hier in einem Reservat, wo sie ihre eigene Sprache und Riten bewahren. Diesig und schwitzig warm ist es in der scheunenartigen Gemeinschaftshütte des 3000 Jahre alten Stammes. Dort servieren mir Maleku in traditioneller Kleidung aus geschnürtem Bast fruchtig-süßen Maiswein. Ein Mann reicht mir eine Heilpflanze. Nichtsahnend kaue ich auf dem Blattstängel eines dornigen Strauches herum, dem cordoncillo. Erst spüre ich hundert feine Nadelstiche auf meiner Zunge. Und dann überhaupt nichts mehr. Mein Gesicht schläft ein, ich bin betäubt. Ich würde mir gern ein paar Pflanzen einpacken lassen. Für den nächsten Zahnarztbesuch. Oder so.
Tag 4: La Fortuna – Savegre-Tal
In einem Kleinflugzeug geht es in einer halben Stunde von La Fortuna zurück nach San José. Die Luftlinie erspart mir das stundenlange Stehen im Stau. Die Hauptstadt wurde einst als Kaffeeplantage angelegt, nicht als Millionenmetropole. Kilometerlange Blechlawinen durchziehen den Speckgürtel bis ins Zentrum. Ich steige am Flughafen in meinen gemieteten Jeep und schlage für die nächsten 180 Kilometer die berühmte Panamericana gen Süden ein.
Kurz hinter dem Örtchen San Isidro de El General geht es bergab: Zwei Stunden lang kriecht der Wagen auf schmalen Schotterpfaden das Savegre-Tal hinunter. Nebelwolken umhüllen die Eichenwälder, in denen Jaguare, Tapire und Pumas leben. Der eigentliche Star aber ist der Quetzal, den ich unbedingt mit meiner Kamera einfangen will – der mythenumrankte Göttervogel der Azteken und Maya. Rar und streng geschützt.
Jorge Serrano flüstert nur zur Begrüßung. Der Ornithologe will den seltenen Vogel auf keinen Fall verscheuchen. Schweigend folge ich Jorge über die steilen, glitschigen Pfade einer Farm. Der Besitzer habe den Göttervogel vor einigen Minuten auf einem seiner Avocadobäume gesehen und per Funk gemeldet, flüstert Jorge. Es ist kühl und nass, die Luft ist dünn, ich gerate außer Puste. Jorge hebt die Hand, ich versteinere und versuche, nicht zu keuchen. Suche durch meine Kamera das Geäst ab. Jorge baut sein Fernglas auf einem Stativ auf. Lauscht in die Bäume. Und pfeift, schrill wie ein Quetzal-Männchen.
ine Stunde vergeht, dann ist es so weit: Eine Henne mit schillernd grünem Federkleid, plüschigem Kopf und Knopfaugen landet in den Zweigen. Minuten später gesellt sich ein Männchen zu ihr, mit seinem knallroten Brustgefieder und langen Schwanzfedern. Andächtig stehe ich im Regen. Als die Fotos gemacht sind, packe ich die Kamera weg. Zeit, den Moment zu leben. Zu sein.
Tag 5: Savegre-Tal – Sierpe
Von den Bergen zurück an der Küste, zeigt sich mir das Land, wie ich es aus der Werbung kenne: türkisfarbener Pazifik, weiße Buchten. Grüne Hügel, von Wasserfällen zerschnitten. Neben den Straßen wechseln sich Bananen- mit Palmölplantagen ab, Hunde, Ochsen, Nasenbären dösen im Halbschatten der Bäume, Kinder kicken Bälle an bunt bemalte Hauswände, Händler verkaufen Gebäck und Kokosnüsse an den Kreuzungen.
Im »Soda Perla del Sur« im Dörfchen Sierpe serviert mir die Chefin des Hauses zum Mittagessen zitronige Ceviche als Vorspeise und das Nationalgericht Costa Ricas: Casados, Reis und schwarzen Bohnen. Dazu gibt es Käse und Fisch sowie verrückte Säfte aus gequollenen Chiasamen, Sternfrucht und Tamarinde – und natürlich herausragenden Kaffee. Früh habe ich gelernt: Das beste Essen gibt es in den schlichten sodas, kleinen, staatlich geförderten Restaurants in Familienbesitz, in denen gern mal Köstliches auf Kantinengeschirr serviert wird. Was folgt, ist eine Überdosis Artenvielfalt.
In Sierpe steige ich zu José Rodriguez auf sein motorisiertes Floß und tuckere mit ihm durch die Mangrovenwälder des Flusses Sierpe. José hat Adleraugen. Der Mann mit dem schmalen Schnauzbart zeigt mir Schleiereulen unter Brücken, bunt gefiederte Trogone und Tangaren, Faultiere, Wickelbären, Totenkopfäffchen. Er sei schon als Kind auf dem Sierpe unterwegs gewesen, erzählt der 53-Jährige. Er kenne nicht nur die besten Verstecke der Tiere, sondern spüre auch eine Art magische Verbindung zu ihnen. »Das ist eine Gabe«, erzählt Rodriguez, steuert das Boot unter ein großes Palmenblatt und deutet mit dem Finger hinauf: Eine schneeweiße Fledermaus hat das Blatt als Rastplatz gewählt. Ich schüttle ungläubig den Kopf und knipse, bis die Akkus nicht mehr können.
Tag 6: Sierpe – Nationalpark Manuel Antonio
Am nächsten Morgen fahre ich zurück an die Pazifikküste und erreiche anderthalb Stunden später mein letztes Etappenziel: Manuel Antonio. Südlich des Ortes Quepos erstreckt sich der berühmte Nationalpark, wo sich Urwald und palmenbewachsene, weiße Sandstrände auf eine einzigartige Symbiose eingelassen haben. Die Mittagshitze an der Küste ist erdrückend, der Meereswind spendet keine Abkühlung. Am Eingang vom Manuel Antonio werde ich von den Rangern penibel gefilzt, ob ich auch ja keine Snacks und Kippen dabei habe, die ich mehr oder minder freiwillig an die top organisierte Affen- und Waschbär-Mafia abtreten könnte.
Bei meiner Wanderung durch den Nationalpark folge ich einigen Guides und ihren Reisegruppen. Ohne sie hätte ich etliche gut getarnte Falter wie den Augenspinner oder die blattgrüne Saumfingerechse übersehen. Oder das knuffige Zweifingerfaultier, das mit seinem noch knuffigeren Zweifingerfaultierbaby in der Astgabel hängt. Und auch die Kapuzineraffen, wie sie sich lausen, wie sie spielen – und aufmerksam nach unbeaufsichtigten Handtaschen Ausschau halten. Amüsiert verfolge ich ein paar Waschbären auf Raubzug. Stets außerhalb des Blickfeldes ahnungsloser Besucher steuern sie auf deren Picknickkörbe zu, um sie eilig und mit geübten Pfotengriffen zu plündern.
Nach einem letzten Wandermarsch erreiche ich den versteckten Playa La Mancha. Ich verknote mein Hab und Gut sorgfältig an einem Ast und springe in die Lagune. Nirgendwo sonst habe ich so ruhiges, so badewannenwarmes Meereswasser erlebt. Minutenlang treibe ich auf den sanften Wellen. Tiefenentspannt. Soll die Tiermafia doch mit meinen Klamotten machen, was sie will. Pura Vida. Kurz darauf fällt Dunkelheit über Land und Meer. Ein Opossum latscht mir beim Zusammenpacken über den Fuß. Dann holen sich die Einsiedlerkrebse den Strand zurück. In der wolkenfreien Nacht gleißen die Sterne.
Text und Foto: Philipp Brandstädter