Hort der Hundertjährigen

Hort der Hundertjährigen

erschienen in der GEO Special 06/2018

Warum die Männer immer noch hinter ihr her sind, kann sie auch nicht so recht begreifen. Da ist dieser eine Kerl, Cristobal, er wohnt nur ein paar Türen weiter. Er macht ihr Komplimente, sagt ihr, sie verzaubere ihn, weil sie immer so fröhlich sei. Ana Reyneri Fonseca Gutiérrez rollt mit den Augen und winkt ab. Zehn, zwölf Jahre baggert er sie schon an. Sozusagen seitdem sie ihren Mann unter die Erde gebracht hat. Ana lässt das kalt. Sie schert sich nicht mehr um die Männer. Für alles gibt es seine Zeit, findet sie.

Ana trägt ein schlichtes, dunkelblaues Kleid, an das sie eine glitzernde Brosche gesteckt hat. Sie schmückt sich mit Ohrringen und Ketten und Ringen. Ihre silberne Armbanduhr hängt lose an ihrem dürren Handgelenk. Ihre Haut wirkt wie Pergament. Auf ihrer Veranda wippt Ana in ihrem Schaukelstuhl, hinter ihr zieren quietschbunte Madonnenmalereien und Jesusbilder die Wände. Im Radio singt Julio Jaramillo, Lateinamerikas Schlagerstar schlechthin. Bei dem würde Ana noch eine Ausnahme machen Mit dem würde sie tanzen gehen, sagt sie und kichert. Aber der Gute sei ja nun auch schon seit 40 Jahren tot.

Cristobal Muñoz Villalobos steht in der prallen Mittagshitze im Garten. Er hängt ein paar frisch gewaschene Tücher zum Trocknen auf, zupft seinen Fischerhut zurecht und stützt sich auf seinen Gehstock. Eigentlich habe er es längst aufgegeben mit den Frauen, sagt er. Irgendwann seien sie merkwürdig geworden. Sie hätten plötzlich ihren eigenen Willen gehabt, freizügigere Kleider getragen, Widerworte gegeben. Das muss so um 1940 begonnen haben, erinnert sich Cristobal. Aber Ana sei anders, sie habe noch Klasse.

Die Dame ist 103 Jahre alt. Der Herr dagegen noch ein junger Hüpfer, gerade erst 100 geworden. Aber dort, wo Ana und Cristobal aufgewachsen sind und noch immer wohnen, ist ihr Alter gar nicht so ungewöhnlich.

Eine von fünf Blue Zones

Die Halbinsel Nicoya liegt auf der Pazifikseite Costa Ricas. Dort hält die Trockenzeit unter wolkenlosem Himmel noch lange an, wenn es im Hochland schon überall in Strömen regnet und die Karibikküste überschwemmt ist. Nicoya ist eine der fünf so genannten „Blue Zones“ auf der Erde. Neben dem Bergbezirk Ogliastra auf Sardinien, der griechischen Insel Ikaria, dem kalifornischen Loma Linda und der japanischen Präfektur Okinawa erreichen auf Nicoya überdurchschnittlich viele Menschen das 100. Lebensjahr.

Statistiker haben diese Regionen vor etwa 15 Jahren aus ihren Bevölkerungszahlen herausgelesen. Und diese mit einem blauen Marker eingekreist. In diesen blauen Zonen also ist die Sterblichkeitsrate im mittleren Alter wesentlich niedriger als anderswo. Deshalb untersuchen dort Wissenschaftler, was Philosophen und Mediziner seit Methusalem beschäftigt: das Geheimnis des ewigen oder wenigstens des wesentlich längeren Lebens.

Länger leben heißt gesund leben. Gesund leben heißt hierzulande und heutzutage: regelmäßig Sport treiben, nicht rauchen, Alkohol in Maßen, reichlich Obst und Gemüse. Die einen schwören zusätzlich auf Yoga und Grüntee, die anderen saunieren oder schlucken Vitaminbomben in Pillenform. Doch was unseren Körper tatsächlich vor Krankheit und Verfall bewahrt, bleibt Spekulation.

Jorge Vindas López, Demograf aus Santa Cruz und selbst erst ein halbes Jahrhundert alt, will der Langlebigkeit auf den Grund gehen. Vor 15 Jahren hat er in den Aufzeichnungen der Gemeinden Nicoyas entdeckt, dass Menschen auf der Halbinsel überdurchschnittlich alt werden. „Einer von 3800 Nicoyanern erreicht das 100. Lebensjahr“, erzählt er in einem Straßencafé im Zentrum der Stadt Nicoya und schiebt sich eine Brille mit ulkigem roten Gestell auf die Nase. „Das sind dreimal so viele wie im weltweiten Durchschnitt.“ Menschen, die 100 Jahre und älter werden, heißen in Costa Rica Centenarios. Die meisten von ihnen leben auf der Halbinsel, um die 150 derzeit.

Aller paar Wochen fährt Vindas von Dorf zu Dorf, von Belén im Norden und Tambor im Süden, um die Alten zu besuchen. Er befragt sie nach ihrer Gesundheit und ihrem Alltag und spricht sich mit ihren Ärzten ab. So sammelt er für das zentralamerikanische Zentrum für Bevölkerung in der Hauptstadt San José wichtige Daten über das Leben der Centenarios. Ärzte nehmen dabei regelmäßig Blutproben, messen Cholesterin und Blutdruck, testen Fitness von Kopf und Körper.

„Die Menschen sind körperlich aktiv und schlank“ – Jorge Vindas, Demograf

Das Ergebnis bis dato: „Die Menschen hier sind körperlich aktiv, relativ schlank und leiden selten an Herz-Kreislauf-Erkrankungen“, fasst Jorge Vindas zusammen. Traditionell kommen in der Gegend vor allem Reis, Bohnen, Tortillas und Schweinefleisch auf den Tisch. Herunter gespült werde alles mit reichlich Kaffee. Keine Grünkohlsmoothies weit und breit. „Das klingt nicht nach außergewöhnlich gesunder Küche, ist aber immer regional, organisch und frei von Zusatzstoffen.“

Sechs Faktoren hat der 54-Jährige heraus kristallisiert, die zur Langlebigkeit in der Blauen Zone führen sollen. Neben der Ernährung und der körperlichen Betätigung gehören für Vindas dazu: Religiosität, soziale Wertschätzung, Lebenszweck und Gleichmut. „Die Centenarios sind gläubig, werden auch im hohen Alter respektiert, haben immer noch Aufgaben und Ziele.“ Und dann wäre da natürlich noch das berühmte Lebensmotto Costa Ricas, das das Land werbewirksam in die Welt hinaus trägt.

Pura Vida.

Das „pure Leben“ bedeutet Leichtigkeit, Friedfertigkeit, Naturverbundenheit, glückliches Miteinander. Die Floskel hat sich aber auch darüber hinaus in den Alltag eingeschlichen. Von „Hallo“ über „Wie geht’s?“ bis zu „Ja“, „Okay“ und „Auf Wiedersehen“ ist pura vida allgegenwärtig. Eine sympathische und offenbar sehr gesunde Lebensphilosophie, zelebriert im derzeit angeblich glücklichsten Land der Welt, wie Zufriedenheitsstudien aller paar Jahre herausfinden wollen.

Ein paar Kilometer von Nicoya entfernt liegt Pochote: Fincas von ein paar Dutzend Farmern, die im Schutz der fast schon unwirklich grün leuchtenden Berge liegen. Ein paradiesischer Ort, an dem es sich gemütlich steinalt werden lässt. Trinidad Espinoza Medina wohnt hier seit nunmehr 101 Jahren in einer verwinkelten Hütte aus Holz und Stein. Nie habe sie diesen Ort verlassen. Nur der Mangobaum auf der anderen Straßenseite sei älter als sie. Auf dem sei sie schon als Kind herum geklettert.

Die Frau mit dem langen, weißen Haar thront auf einem massiven Stuhl aus Teakholz. Auf den Knien balanciert sie ihr Telefon, um sie herum flitzen Hühner, über ihr im Baum lärmen die Brüllaffen. Sie habe immer Besuch, erzählt Trinidad. Dank ihrer zwölf Kinder, der paar Dutzend Enkel, noch mehr Urenkel, unüberschaubar vieler Ur-ur- und seit neuestem auch noch Ur-ur-ur-Enkel sei immer jemand da. So kann auch stets jemand im Haushalt helfen. Auch, wenn Trinidad noch immer selbst den Boden fegt und Tortillas nach ihrem Rezept knetet.

Nunca fiesta, no bicicleta

Und Trinidad ist als Dorfälteste auch sonst gefragt. Ihr Rat ist geschätzt, besonders, wenn es um die wesentlichen Dinge im Leben geht. Und natürlich will auch dauernd jemand von ihr wissen, wie man eigentlich so steinalt wird. Dann pflegt Trinidad zu antworten: Meide große Menschenansammlungen, feiere keine ausschweifenden Partys – und steige nie aufs Fahrrad. Alles viel zu gefährlich.

Ein paar Häuser noch jemand, den der liebe Gott vergessen zu haben scheint: Bonifacio Villegas. Schwungvoll steigt er von seinem Pferd, knotet die Zügel an einen Ast und schlendert zu der Hütte gegenüber seiner malerischen Finca. In dieser Hütte sei er auf die Welt gekommen, erzählt Bonifacio und stupst sich den Cowboyhut aus dem noch immer jungenhaften Gesicht. Warum er noch hier ist, weiß er nicht. Er will auch besser nicht so viel darüber nachdenken.

Bonifacio sagt, er fühle sich topfit. Er reite jeden Tag aus, füttere die Tiere, halte das Haus in Schuss. Er brauche keine Medikamente, kein Hörgerät – und keine Brille, wenn er die Nachrichten auf seinem Handy checkt. Das Rauchen hat er mittlerweile aufgegeben, aber ab und an trinke er noch ganz gern mal einen. Erst vor kurzem hat ihm der Forscher Jorge Vindas eine gute Flasche Red Label mitgebracht. Ein Geschenk zum 100. Geburtstag.

Worin also liegt das Geheimnis des langen und noch längeren Lebens? „Neben der recht ähnlichen Ernährung gibt es ein paar Gemeinsamkeiten unter den Centenarios“, sagt Vindas. Alle hätten sie ihr ganzes Leben lang schwere körperliche Arbeit geleistet. Niemand habe Armut fürchten müssen. Auch habe keiner Reichtum angehäuft und sei dann an seinem Besitz verbittert. „Die Centenarios haben Körper und Geist offenbar immer auf angenehmer Betriebstemperatur gehalten“, vermutet der Demograf.

Jorge Vindas will seine Erkenntnisse in die Schulen Costa Ricas tragen, um bei den Kindern für gesundes Leben zu werben. Denn die Jüngeren würden nach und nach die traditionellen Kochrezepte vergessen, sagt Vindas. Gerade hat ein neues Fast-Food-Restaurant in Nicoya eröffnet – spezialisiert auf frittierte Hühnerflügel und süße Softdrinks. Vor allem die Kids seien süchtig nach dem Zeug.

Arm, aber genügsam

Leute, die sitzen bleiben, sterben, sagt Bonifacio kurz und knapp. Also reitet er weiterhin jeden Tag mit seinem Pferd aus. Das, nebenbei bemerkt, auch schon weit über 30 Jahre alt ist. Das Trinkwasser von Nicoya, mit dem manchmal auch das Vieh getränkt wird, hat das Institut bereits analysiert. Ja, es ist reich an Calcium und Magnesium, gut für die Knochen. Ansonsten ist es sehr gewöhnlich. Den Jungbrunnen hat man darin nicht gefunden.

Er sei arm, aber genügsam, sagt Bonifacio. Er sei manchmal traurig, aber stets zufrieden. Was ihn am Ende umbringen werde, seien die Frauen. Die brächen ihm noch Herz. Wenn der Centenario kichert und gluckst, wirkt er noch einmal ein paar Dekaden jünger. Vor allem die jüngeren Damen hätten es ihm angetan, sagt er. Frauen zwischen 50 und 60 etwa. So wie seine Hausärztin, die ihn regelmäßig besucht. Sie zur Begrüßung zu umarmen reiche schon aus, um sein Herz weiter schlagen zu lassen.

Auch die Forscher hoffen darauf, dass Bonifacio noch ein Weilchen fit und guter Dinge bleibt. Um von ihm und den anderen Centenarios zu lernen. Hierzu haben sich gerade die Demografen aller fünf Blue Zones in Nicoya getroffen. Ihr Ziel: Gemeinsam ein internationales Netzwerk schaffen, das von den Regierungen geschätzt und gefördert wird. „Zunächst werden wir nach mehr Gemeinsamkeiten in den blauen Zonen suchen“, erklärt Jorge Vindas. Standardisierte Fragebögen, identische Messmethoden, Grundlagenforschung. „Vielleicht entdecken wir in der Umwelt der Hundertjährigen noch eine entscheidende Schnittmenge.“

Doch Vindas und seine Kollegen interessieren sich nicht nur für nackte, wissenschaftliche Daten. „Wir wollen auch die Traditionen der alten Leute wahren – und so von ihrem Lebensstil zu lernen“, erklärt der Forscher. „Es ist entscheidend, unsere Blaue Zonen zu erhalten, sie zu beschützen und zu fördern, was gut für uns ist.“ Vindas Plan ist klar. Er will die Lebensbedingungen auf der ganzen Welt verbessern. Nicht weniger.

Quellen:

Blue Zones

Studie zur Demografie in Nicoya

Happiness Index

Von Nicoya nach Manuel Antonio

Von Nicoya nach Manuel Antonio

erschienen in der GEO Special 06/2018

Tag 1: Halbinsel Nicoya

Was um Himmels Willen hat sich die Evolution dabei gedacht? Gemeinsam mit Rangerin Yama sitze ich am Strand des Schutzgebiets Ostional auf einem Baumstumpf und staune. Hunderte, Tausende Bastardschildkröten sind hier an der Pazifikküste der Halbinsel Nicoya gelandet, um sich mit ihren schweren Panzern über den Sand zu schieben. Graben sich mit ihren Flossen in die Tiefe. Legen ihre Eier ab und verscharren ihr Nest. Genau dort, wo sie selbst vor Jahren oder Jahrzehnten das Licht der Welt erblickt hatten. Dann schleppen sich die Schildkröten zurück ins Meer.

In manchen magischen Nächten, sagt Yama, kommen 10 000 Reptilien an Land. Yama hütet mit ihren Kollegen den Strand, zählt die erwachsenen Tiere, bewacht ihre Eier vor tierischen und menschlichen Dieben und hilft den Jungen später auf den ersten Metern ihres Lebens Richtung Pazifik. Die Schildkrötenmütter direkt neben mir sind wie in Trance, kümmern sich weder um mich noch um die gefräßigen Rabengeier, die darauf warten, ein Nest zu plündern. Am liebsten würde ich sitzen bleiben, bis die letzte Schildkröte ihren Weg zurück ins Meer gefunden hat. Und dann würde ich gern noch einmal 45 Tage bleiben, bis ihre Babys schlüpfen.

Yama sagt, die Sonne werde nun die Eier ausbrüten, ein paar Grad mehr oder weniger entscheiden, ob vorwiegend Männchen oder Weibchen schlüpfen. Nur ein Bruchteil von ihnen wird die nächsten Monate und Jahre überleben. Ich rieche das Salz des Meeres, lausche den schäumenden Wellen – und dem Ächzen und Schnaufen der Schildkröten. Dann stürzt die Sonne ins Meer, die Krötenpanzer schillern für einen Augenblick in Rot und Gold. Urplötzlich wird es zappenduster. Ich muss mich in Acht nehmen, auf meinem Weg zurück nicht über die Tiere zu stolpern.

Tag 2: Halbinsel Nicoya – Monteverde

Mühsam kämpft sich der jeep am nächsten Vormittag über eine asphaltierte Buckelpiste den Nebelwald nach Monteverde hinauf. Ein Gedanke tröstet mich: je katastrophaler die Straße, desto ursprünglicher die Gegend. Schlanke Teakbäume scheinen bis in die tief hängenden Wolken hineinzuragen. Ein Band von Mangoplantagen verbindet die Dörfer, wo Kinder in Schuluniformen auf dem Pausenhof toben. Zebus grasen, Brüllaffen hangeln sich an Stromleitungen entlang, Aras durchstreifen die Baumkronen.

Am Nachmittag lädt mich mein Fahrer Luis nach vier Stunden Rüttelfahrt vor einer riesigen Finca ab. Am Eingangstor wartet schon Adolfo Bello, der Besitzer. Sein Urgroßvater sei zum Goldschürfen hierhergekommen, erzählt der kleine, hagere Mann mit den geheimnisvollen dunklen Augen. Doch den wahren Schatz entdeckten die Bellos in der Kaffeepflanze. Die rote Arabica-Bohne gewinnt auf dem vulkanischen Boden und in dieser Höhenlage ihr intensives Aroma. Darum betreibt die Familie hier auf ein paar Hundert Hektar ökologischen Kaffeeanbau. Keinerlei Chemikalien kämen zum Einsatz, beteuert Adolfo

Über vier Generationen haben die Farmer gelernt, mit welchen Pflanzen sie ihre Sträucher vor schädlichen Insekten, Pilzen und Unkraut schützen. Adolfo zeigt uns eine Kurkumapflanze, deren Duft Ungeziefer abhält. Sein Bruder, erzählt er weiter, versprühe außerdem einen Extrakt aus der berauschenden Engelstrompete als Schädlingsschutz. Wie das genau funktioniert? Adolfo weicht aus. Er kümmere sich vor allem um das Rösten der Bohnen, sagt er und schmunzelt. Die wahren Geheimnisse des Bello-Kaffees bleiben in der Familie.

Der Duft gerösteter Kaffeebohnen lockt uns zu dem niedrigen Holzhaus inmitten der blühenden Felder. Ich schlendere an Kaffee- und Kakaopflanzen, Bananenstauden und Avocadobäumen vorbei und steige die Stufen zu der Veranda hinauf, wo Adolfos Frau Isabella auf offenem Feuer Kochbananen frittiert und Kaffee brüht. Isabella serviert die Bananen mit Sauerrahm und schenkt mir von ihrem schokoladig-nussigen Biokaffee ein. Und der ist die Wucht in Tassen.

Tag 3: Monteverde – La Fortuna

Gut 100 Kilometer und vier Atunden Autofahrt entfernt von der Kaffeefarm der Bellos, inmitten tropischer Wildnis, liegt das Städtchen La Fortuna. Hier sind die Straßen besser, gesäumt von Hotels, Restaurants und Geschäften. Der Grund dafür qualmt am Horizont: der Arenal, touristischer Anziehungspunkt und einer von 100 Vulkanen, die gemeinsam die mittelamerikanische Landbrücke bilden. Die meisten von ihnen schlafen seit Jahrtausenden. Nicht so der Arenal. Der hat zwischen 1968 und 2010 häufig gewütet und gespuckt, hat schwarze Asche und rot glühende Felsbrocken in die Luft geschleudert, sogar seine kegelige Vulkanspitze abgesprengt.

Gerade schlummert der 7000 Jahre junge Vulkan, nur etwas Rauch steigt aus seinem Krater. Im Arenal-Nationalpark an der Südseite, keine halbe Stunde von La Fortuna entfernt, steige ich den breit gepflasterten Pfad bis zum Arenalsee hinunter. In den Kronen der Würgefeigen, Mahagonigewächse und Kapokbäume sitzen gut getarnte Arassaris, kleine Tukane, feuerrote Tangaren, Sperlingsvögel, und riesige Tukane. Kolibris trinken Nektar aus Helikonienblüten, umtänzelt von kristallinen Glasflügelfaltern, anmutig schwebt ein Blauer Morphofalter vorbei. Echsen verharren im Geäst, eine Gruppe junger Nasenbären versteckt sich im Dickicht. Auf dem Pfad durch den Park spaziert es sich wie durch einen Zoo. Ich muss mir immer wieder in Erinnerung rufen, dass das hier unmittelbare Wildnis ist.

Anderthalb Stunden vom Arenal entfernt, in der Nähe von San Rafael de Guatuso, besuche ich die Maleku. Nur noch gut 600 Mitglieder der indigenen Minderheit leben hier in einem Reservat, wo sie ihre eigene Sprache und Riten bewahren. Diesig und schwitzig warm ist es in der scheunenartigen Gemeinschaftshütte des 3000 Jahre alten Stammes. Dort servieren mir Maleku in traditioneller Kleidung aus geschnürtem Bast fruchtig-süßen Maiswein. Ein Mann reicht mir eine Heilpflanze. Nichtsahnend kaue ich auf dem Blattstängel eines dornigen Strauches herum, dem cordoncillo. Erst spüre ich hundert feine Nadelstiche auf meiner Zunge. Und dann überhaupt nichts mehr. Mein Gesicht schläft ein, ich bin betäubt. Ich würde mir gern ein paar Pflanzen einpacken lassen. Für den nächsten Zahnarztbesuch. Oder so.

Tag 4: La Fortuna – Savegre-Tal

In einem Kleinflugzeug geht es in einer halben Stunde von La Fortuna zurück nach San José. Die Luftlinie erspart mir das stundenlange Stehen im Stau. Die Hauptstadt wurde einst als Kaffeeplantage angelegt, nicht als Millionenmetropole. Kilometerlange Blechlawinen durchziehen den Speckgürtel bis ins Zentrum. Ich steige am Flughafen in meinen gemieteten Jeep und schlage für die nächsten 180 Kilometer die berühmte Panamericana gen Süden ein.

Kurz hinter dem Örtchen San Isidro de El General geht es bergab: Zwei Stunden lang kriecht der Wagen auf schmalen Schotterpfaden das Savegre-Tal hinunter. Nebelwolken umhüllen die Eichenwälder, in denen Jaguare, Tapire und Pumas leben. Der eigentliche Star aber ist der Quetzal, den ich unbedingt mit meiner Kamera einfangen will – der mythenumrankte Göttervogel der Azteken und Maya. Rar und streng geschützt.

Jorge Serrano flüstert nur zur Begrüßung. Der Ornithologe will den seltenen Vogel auf keinen Fall verscheuchen. Schweigend folge ich Jorge über die steilen, glitschigen Pfade einer Farm. Der Besitzer habe den Göttervogel vor einigen Minuten auf einem seiner Avocadobäume gesehen und per Funk gemeldet, flüstert Jorge. Es ist kühl und nass, die Luft ist dünn, ich gerate außer Puste. Jorge hebt die Hand, ich versteinere und versuche, nicht zu keuchen. Suche durch meine Kamera das Geäst ab. Jorge baut sein Fernglas auf einem Stativ auf. Lauscht in die Bäume. Und pfeift, schrill wie ein Quetzal-Männchen.

ine Stunde vergeht, dann ist es so weit: Eine Henne mit schillernd grünem Federkleid, plüschigem Kopf und Knopfaugen landet in den Zweigen. Minuten später gesellt sich ein Männchen zu ihr, mit seinem knallroten Brustgefieder und langen Schwanzfedern. Andächtig stehe ich im Regen. Als die Fotos gemacht sind, packe ich die Kamera weg. Zeit, den Moment zu leben. Zu sein.

Tag 5: Savegre-Tal – Sierpe

Von den Bergen zurück an der Küste, zeigt sich mir das Land, wie ich es aus der Werbung kenne: türkisfarbener Pazifik, weiße Buchten. Grüne Hügel, von Wasserfällen zerschnitten. Neben den Straßen wechseln sich Bananen- mit Palmölplantagen ab, Hunde, Ochsen, Nasenbären dösen im Halbschatten der Bäume, Kinder kicken Bälle an bunt bemalte Hauswände, Händler verkaufen Gebäck und Kokosnüsse an den Kreuzungen.

Im »Soda Perla del Sur« im Dörfchen Sierpe serviert mir die Chefin des Hauses zum Mittagessen zitronige Ceviche als Vorspeise und das Nationalgericht Costa Ricas: Casados, Reis und schwarzen Bohnen. Dazu gibt es Käse und Fisch sowie verrückte Säfte aus gequollenen Chiasamen, Sternfrucht und Tamarinde – und natürlich herausragenden Kaffee. Früh habe ich gelernt: Das beste Essen gibt es in den schlichten sodas, kleinen, staatlich geförderten Restaurants in Familienbesitz, in denen gern mal Köstliches auf Kantinengeschirr serviert wird. Was folgt, ist eine Überdosis Artenvielfalt.

In Sierpe steige ich zu José Rodriguez auf sein motorisiertes Floß und tuckere mit ihm durch die Mangrovenwälder des Flusses Sierpe. José hat Adleraugen. Der Mann mit dem schmalen Schnauzbart zeigt mir Schleiereulen unter Brücken, bunt gefiederte Trogone und Tangaren, Faultiere, Wickelbären, Totenkopfäffchen. Er sei schon als Kind auf dem Sierpe unterwegs gewesen, erzählt der 53-Jährige. Er kenne nicht nur die besten Verstecke der Tiere, sondern spüre auch eine Art magische Verbindung zu ihnen. »Das ist eine Gabe«, erzählt Rodriguez, steuert das Boot unter ein großes Palmenblatt und deutet mit dem Finger hinauf: Eine schneeweiße Fledermaus hat das Blatt als Rastplatz gewählt. Ich schüttle ungläubig den Kopf und knipse, bis die Akkus nicht mehr können.

Tag 6: Sierpe – Nationalpark Manuel Antonio

Am nächsten Morgen fahre ich zurück an die Pazifikküste und erreiche anderthalb Stunden später mein letztes Etappenziel: Manuel Antonio. Südlich des Ortes Quepos erstreckt sich der berühmte Nationalpark, wo sich Urwald und palmenbewachsene, weiße Sandstrände auf eine einzigartige Symbiose eingelassen haben. Die Mittagshitze an der Küste ist erdrückend, der Meereswind spendet keine Abkühlung. Am Eingang vom Manuel Antonio werde ich von den Rangern penibel gefilzt, ob ich auch ja keine Snacks und Kippen dabei habe, die ich mehr oder minder freiwillig an die top organisierte Affen- und Waschbär-Mafia abtreten könnte.

Bei meiner Wanderung durch den Nationalpark folge ich einigen Guides und ihren Reisegruppen. Ohne sie hätte ich etliche gut getarnte Falter wie den Augenspinner oder die blattgrüne Saumfingerechse übersehen. Oder das knuffige Zweifingerfaultier, das mit seinem noch knuffigeren Zweifingerfaultierbaby in der Astgabel hängt. Und auch die Kapuzineraffen, wie sie sich lausen, wie sie spielen – und aufmerksam nach unbeaufsichtigten Handtaschen Ausschau halten. Amüsiert verfolge ich ein paar Waschbären auf Raubzug. Stets außerhalb des Blickfeldes ahnungsloser Besucher steuern sie auf deren Picknickkörbe zu, um sie eilig und mit geübten Pfotengriffen zu plündern.

Nach einem letzten Wandermarsch erreiche ich den versteckten Playa La Mancha. Ich verknote mein Hab und Gut sorgfältig an einem Ast und springe in die Lagune. Nirgendwo sonst habe ich so ruhiges, so badewannenwarmes Meereswasser erlebt. Minutenlang treibe ich auf den sanften Wellen. Tiefenentspannt. Soll die Tiermafia doch mit meinen Klamotten machen, was sie will. Pura Vida. Kurz darauf fällt Dunkelheit über Land und Meer. Ein Opossum latscht mir beim Zusammenpacken über den Fuß. Dann holen sich die Einsiedlerkrebse den Strand zurück. In der wolkenfreien Nacht gleißen die Sterne.

Text und Foto: Philipp Brandstädter