von Philipp | 5 Dez 2022 | Reisen
erschienen in der taz, am 3.12.2022
Das Nationalgetränk ist vergorene Stutenmilch, eine Jurte erzählt vom Zweiten Weltkrieg, das Land vertrocknet derweil.
Ach, ich hätte ja Fotos gemacht. Als Beleg, wenn ich mich später im Freundeskreis überdreht, aber auch liebevoll über die ulkige Andersartigkeit eines anderen Landes lustig gemacht hätte. Aber ich musste die Kamera abgeben, als ich das Nationalmuseum von Bischkek betrat, denn das ist nun einmal zum Lernen da und nicht zum Lustigmachen.
Also lerne ich von einer riesigen Landkartentapete, dass die alten Kirgisen gefühlt ganz Asien beritten haben und dass der Lederharnisch mit den Ketten und Riemen in der Vitrine vor mir zweitausend Jahre alt sein soll, obwohl er so aussieht wie frisch aus dem Fetischladen. Jenseits des Schlachtfelds trugen die Frauen damals Fuchs, lerne ich weiter, die Männer Schneeleopard.
Und wegen dieses Schneeleoparden bin ich überhaupt erst in diesem fremden Land gelandet, denn – Achtung: Transparenzhinweis! – der Naturschutzbund hatte mich im Juni auf eine Pressereise eingeladen. Der Nabu hat in Kirgisistan nämlich eine eigene Abteilung, die das edle Tier vor dem Aussterben bewahren will, indem sie oben in den Bergen Jagd auf Wilderer macht.
Kaum noch Schneeleoparden
Doch weil es nur noch etwa 300 kirgisische Schneeleoparden gibt und mich darum eher der Blitz trifft als ich einen wahrhaft wilden Schneeleoparden, versuche ich mir stattdessen ein Bild zusammenzureimen, wie dieses Land so tickt, von dem ich nicht sicher bin, mit wie vielen I oder Y ich es jenseits kyrillischer Buchstaben denn schreiben soll.
Bischkek ist die Hauptstadt und der politisch-wirtschaftlich-kulturelle Mittelpunkt Kirgisistans. Die Stadt liegt ganz im Norden des Landes am Fuße von schneebedeckten, beinahe 5.000 Meter hohen Bergen, in denen die meisten der wenigen verbleibenden Schneeleoparden leben.
Die Hauptstadt wird vom Tschüi Prospekti halbiert, einer Hauptverkehrsachse, die auch schon nach Stalin und Lenin benannt war. Aber das hier ist nicht Russland, jedenfalls nicht zurzeit, man weiß ja nie. Die aktuelle russische Grenze ist 1.500 Kilometer kasachische Steppe entfernt.
Doch da die Russen Bischkek vor 150 Jahren auf einer einstigen Karawanenstation der Großen Seidenstraße gründeten, die Kirgisische SSR bis zu ihrem Zerfall Teil der Sowjetunion war und Russisch bis heute als zweite offizielle Sprache gilt, kann man die Gegenwart Moskaus deutlich spüren, auch wenn die Mehrheit der Kirgisen nicht wirklich Bock auf diese Gegenwart hat, schon gar nicht in Zeiten wie diesen.
Auf dem Tschüi Prospekti
So ragt neben den übertrieben breiten Straßen Sowjetbombast in den wolkenlosen Himmel: das Nationalmuseum, das Haus der Gewerkschaften, die Philharmonie, das Weiße Haus des Präsidenten; alles brutale, klassizistische Architektur hinter palastartigen Fassaden.
Das Mahnmal des Großen Vaterländischen Krieges auf dem Bischkeker Siegesplatz deutet eine Jurte an, die von nur drei Stelen gehalten wird. Die Jurte erinnert an die unzähligen kirgisischen Soldaten, die von den Sowjets im Zweiten Weltkrieg an der Front verheizt wurden. Denn wenn eine Nomadenfamilie den Tod eines Verwandten betrauert, entfernt sie eine der vielen tragenden Stelen ihrer Jurte.
So viele -stans
Unter der stählernen Kuppel des Mahnmals wärmen sich frühmorgens ein paar Kids an der ewigen Flamme auf und wissen nicht, wohin mit sich, bevor die Sonne wieder den Asphalt zum Kochen bringt. Auch auf den sechs bis acht Spuren des Tschüi Prospekti ist fast keiner unterwegs, im Stadtkern trotzt nur die Ehrenwache unter einer gigantischen Nationalflagge der brütenden Hitze. Und ein Polizist, der mich rauchend darauf hinweist, dass hier nicht geraucht wird.
Das kleine Kirgisistan wird vom Westen gern als tapfere Demokratie inmitten der wilden Autokraten Zentralasiens gefeiert. Doch eingeklemmt zwischen China und einer Handvoll weiterer Länder mit „-stan“ hinten dran scheint das mit der Demokratie gar nicht so einfach zu sein für die noch so junge Nation, wie mir ein paar Nabu-Mitarbeiter mit guten Englischkenntnissen bei ein oder zwei Wodka erklären.
Die Freiheit scheint für Chaos zu sorgen, und immer, wenn gewählt wird, zündet irgendjemand das Parlamentsgebäude an. Zuletzt stand es vor zwei Jahren in Flammen, erzählen sie. Der alte Präsident wurde fortgejagt und ein anderer eingesetzt, den dessen Anhänger am Vortag aus dem Hochsicherheitsgefängnis befreit hatten.
Immer das gleiche Spiel
2005, 2010 ähnliche Bilder: Wahlen lösen landesweite Proteste aus, ein Mob stürmt das Weiße Haus und stürzt das Oberhaupt. Dem neuen kirgisischen Präsidenten bleibt dann nicht viel Zeit, seine Brüder, Söhne, Cousins und Neffen in hohe Ämter zu heben und gemeinsam den Staat auszunehmen.
Prompt rollt wieder eine Revolution los, die nach irgendeiner friedfertigen Blume benannt wird. Irgendjemand verspricht das Ende von Korruption und organisierter Kriminalität, und das Spiel geht von vorn los.
Die Kirgisen scheinen sich gern über sich selbst lustig zu machen. Kichernd schenken mir die Jungs die nächsten ein oder zwei Wodka ein und werden nicht müde, jedes vom Tisch gepickte Häppchen sofort nachzulegen. „Dänn-zo-luk-ü-tschin“ oder so ähnlich heißt es dann, auf die Gesundheit, und zwar unentwegt, runter damit, egal zu welcher Tageszeit.
Am Tisch werde ich mit Gruselgeschichten über vermeintliche kulinarische Traditionen aufgezogen, in dessen Showdown ich als Gast bald einen gekochten Hammelschädel spalten dürfe, um dann Augen, Zunge, Hirn und den ganzen Krimskrams darin auf mich und die fröhliche Runde zu verteilen. Tatsächlich wird mir dann aber doch kein Schädel gereicht, sondern eine Schüssel Kymyz, das Nationalgetränk, ein höllisch miefendes Gebräu aus vergorener Stutenmilch.
Am nächsten Tag fahren wir in den Süden an die usbekische Grenze, wo es ländlicher und ärmer wird. Ziel ist Osch, die zweitgrößte Stadt Kirgisistans, jahrtausendealter Handelsknoten und heute großer Drogenumschlagpunkt von Zentralasien.
Dreizehn Stunden geht die wilde Busfahrt durch unbeleuchtete Tunnel, am Straßenrand stehen bunte Moscheen herum, die allesamt ein bisschen wie Hüpfburgen aussehen, und aus dem Radio quäkt ein Smashhit, der von den Fahrgästen im Bus mitgegrölt wird. Rasul Mamatkulow besingt darin ebenfalls seine Reise von Bischkek nach Osch, aber in einem Mercedes. Solange der Motor zuverlässig schnurrt, heißt es in dem Lied, sei nichts weiter von Bedeutung, weder die Liebe, noch die ertragreiche Ernte. Muss er selbst wissen.
Kirgisen sollen Wasser sparen
In den Bergen südöstlich von Osch hat der Nabu gerade eine zweite Einheit von Antiwilderern engagiert, die Jagd auf Schneeleopardenjagende machen. Die Zypressen- und Walnusswäldchen grünen bei meinem Besuch im Sommer um die Wette, ein kristallklarer Bergfluss rauscht ins Tal hinab. Hier und da wähne ich mich glatt in der Schweiz oder in Slowenien, wären da nicht die Geier und Yaks, Jurten und Wacholderhaine. Und die Hitzetage, an denen die Gegend immer öfter bei 40 Grad fiebert.
Natürlich ist auch in Kirgisistan der Klimawandel längst angekommen. Der gigantische Bergsee Yssykköl, größer als zwei Saarlands, schrumpft. Die Seen Komsomolskoye und Pionerskoye im Norden Bischkeks sind seit diesem Jahr trockengelegt. Der darunterliegende Kanal trägt mehr Schlamm als Wasser. Und in den Bergen verliert der Schneeleopard seinen Lebensraum in den schmelzenden Gletschern und wird so nicht zu retten sein, Wilderer hin oder her.
Die Einwohner in den Städten sollen darum nur noch nachts duschen und nachts die Wäsche waschen, erzählt die Frau des kirgisischen Nabu-Chefs. Tagsüber tröpfele nur ein Rinnsal aus den Leitungen. Die Kirgisen sollen Wasser sparen, damit die Felder nicht vertrocknen. Wer kann, flieht in den heißen Tagen aus den Städten ein paar Hundert Meter bergauf, wo es merklich kühler ist.
Ausverkauf Kirgistan
Dort haben viele Familien ihre Jurten aufgebaut, wo sie Essen zubereiten und beisammensitzen, ganz wie in den guten alten Nomadenzeiten – nur sie und die Nachhaltigkeitstouristen, die das originale Nomadenleben gebucht haben.
In Kirgisistan sitzen schon die Kleinkinder auf Pferden. Jeder kann reiten, nur ich nicht, und so hat das Pferd, auf dem ich sitze, nicht wirklich Interesse daran, mich einen Hügel hinaufzutragen. Ein älterer Herr aus der Nachbarjurte hat Mitleid und nimmt mich in Schlepp. Planlos, was ich mit den Zügeln in den Händen soll, krame ich das Telefon hervor, um mich umständlich via Google Translate zu unterhalten.
Die Touristen werden das Land nicht aus der Krise kaufen können, spricht mir der Mann auf Russisch ins Mikrofon und sagt seinem Pferd ein paar Takte auf Kirgisisch, die der Übersetzer und ich nicht verstehen. Es gebe nur ein bisschen Gold und Öl zu exportieren. Dazu etwas Fleisch, Walnüsse und die berühmten Filzhüte. Ausländische Investoren könnten hier deshalb nach Belieben Schnäppchen machen. China baut Raffinerien ins Tienschangebirge, Gazprom hat das hiesige Gasnetz übernommen.
Wenn es früher, zu Nomadenzeiten, mal Ärger gegeben hat, erklärt mir der Mann zuletzt, seien seine Vorfahren einfach auf ihre Pferde gesprungen und davongeritten. Wohin er aber jetzt noch reiten soll, weiß er auch nicht so genau.
Bild und Text: Philipp Brandstädter
von Philipp | 22 Mrz 2022 | Reisen
erschienen in der GEO Special 06/2018
Warum die Männer immer noch hinter ihr her sind, kann sie auch nicht so recht begreifen. Da ist dieser eine Kerl, Cristobal, er wohnt nur ein paar Türen weiter. Er macht ihr Komplimente, sagt ihr, sie verzaubere ihn, weil sie immer so fröhlich sei. Ana Reyneri Fonseca Gutiérrez rollt mit den Augen und winkt ab. Zehn, zwölf Jahre baggert er sie schon an. Sozusagen seitdem sie ihren Mann unter die Erde gebracht hat. Ana lässt das kalt. Sie schert sich nicht mehr um die Männer. Für alles gibt es seine Zeit, findet sie.
Ana trägt ein schlichtes, dunkelblaues Kleid, an das sie eine glitzernde Brosche gesteckt hat. Sie schmückt sich mit Ohrringen und Ketten und Ringen. Ihre silberne Armbanduhr hängt lose an ihrem dürren Handgelenk. Ihre Haut wirkt wie Pergament. Auf ihrer Veranda wippt Ana in ihrem Schaukelstuhl, hinter ihr zieren quietschbunte Madonnenmalereien und Jesusbilder die Wände. Im Radio singt Julio Jaramillo, Lateinamerikas Schlagerstar schlechthin. Bei dem würde Ana noch eine Ausnahme machen Mit dem würde sie tanzen gehen, sagt sie und kichert. Aber der Gute sei ja nun auch schon seit 40 Jahren tot.
Cristobal Muñoz Villalobos steht in der prallen Mittagshitze im Garten. Er hängt ein paar frisch gewaschene Tücher zum Trocknen auf, zupft seinen Fischerhut zurecht und stützt sich auf seinen Gehstock. Eigentlich habe er es längst aufgegeben mit den Frauen, sagt er. Irgendwann seien sie merkwürdig geworden. Sie hätten plötzlich ihren eigenen Willen gehabt, freizügigere Kleider getragen, Widerworte gegeben. Das muss so um 1940 begonnen haben, erinnert sich Cristobal. Aber Ana sei anders, sie habe noch Klasse.
Die Dame ist 103 Jahre alt. Der Herr dagegen noch ein junger Hüpfer, gerade erst 100 geworden. Aber dort, wo Ana und Cristobal aufgewachsen sind und noch immer wohnen, ist ihr Alter gar nicht so ungewöhnlich.
Eine von fünf Blue Zones
Die Halbinsel Nicoya liegt auf der Pazifikseite Costa Ricas. Dort hält die Trockenzeit unter wolkenlosem Himmel noch lange an, wenn es im Hochland schon überall in Strömen regnet und die Karibikküste überschwemmt ist. Nicoya ist eine der fünf so genannten „Blue Zones“ auf der Erde. Neben dem Bergbezirk Ogliastra auf Sardinien, der griechischen Insel Ikaria, dem kalifornischen Loma Linda und der japanischen Präfektur Okinawa erreichen auf Nicoya überdurchschnittlich viele Menschen das 100. Lebensjahr.
Statistiker haben diese Regionen vor etwa 15 Jahren aus ihren Bevölkerungszahlen herausgelesen. Und diese mit einem blauen Marker eingekreist. In diesen blauen Zonen also ist die Sterblichkeitsrate im mittleren Alter wesentlich niedriger als anderswo. Deshalb untersuchen dort Wissenschaftler, was Philosophen und Mediziner seit Methusalem beschäftigt: das Geheimnis des ewigen oder wenigstens des wesentlich längeren Lebens.
Länger leben heißt gesund leben. Gesund leben heißt hierzulande und heutzutage: regelmäßig Sport treiben, nicht rauchen, Alkohol in Maßen, reichlich Obst und Gemüse. Die einen schwören zusätzlich auf Yoga und Grüntee, die anderen saunieren oder schlucken Vitaminbomben in Pillenform. Doch was unseren Körper tatsächlich vor Krankheit und Verfall bewahrt, bleibt Spekulation.
Jorge Vindas López, Demograf aus Santa Cruz und selbst erst ein halbes Jahrhundert alt, will der Langlebigkeit auf den Grund gehen. Vor 15 Jahren hat er in den Aufzeichnungen der Gemeinden Nicoyas entdeckt, dass Menschen auf der Halbinsel überdurchschnittlich alt werden. „Einer von 3800 Nicoyanern erreicht das 100. Lebensjahr“, erzählt er in einem Straßencafé im Zentrum der Stadt Nicoya und schiebt sich eine Brille mit ulkigem roten Gestell auf die Nase. „Das sind dreimal so viele wie im weltweiten Durchschnitt.“ Menschen, die 100 Jahre und älter werden, heißen in Costa Rica Centenarios. Die meisten von ihnen leben auf der Halbinsel, um die 150 derzeit.
Aller paar Wochen fährt Vindas von Dorf zu Dorf, von Belén im Norden und Tambor im Süden, um die Alten zu besuchen. Er befragt sie nach ihrer Gesundheit und ihrem Alltag und spricht sich mit ihren Ärzten ab. So sammelt er für das zentralamerikanische Zentrum für Bevölkerung in der Hauptstadt San José wichtige Daten über das Leben der Centenarios. Ärzte nehmen dabei regelmäßig Blutproben, messen Cholesterin und Blutdruck, testen Fitness von Kopf und Körper.
„Die Menschen sind körperlich aktiv und schlank“ – Jorge Vindas, Demograf
Das Ergebnis bis dato: „Die Menschen hier sind körperlich aktiv, relativ schlank und leiden selten an Herz-Kreislauf-Erkrankungen“, fasst Jorge Vindas zusammen. Traditionell kommen in der Gegend vor allem Reis, Bohnen, Tortillas und Schweinefleisch auf den Tisch. Herunter gespült werde alles mit reichlich Kaffee. Keine Grünkohlsmoothies weit und breit. „Das klingt nicht nach außergewöhnlich gesunder Küche, ist aber immer regional, organisch und frei von Zusatzstoffen.“
Sechs Faktoren hat der 54-Jährige heraus kristallisiert, die zur Langlebigkeit in der Blauen Zone führen sollen. Neben der Ernährung und der körperlichen Betätigung gehören für Vindas dazu: Religiosität, soziale Wertschätzung, Lebenszweck und Gleichmut. „Die Centenarios sind gläubig, werden auch im hohen Alter respektiert, haben immer noch Aufgaben und Ziele.“ Und dann wäre da natürlich noch das berühmte Lebensmotto Costa Ricas, das das Land werbewirksam in die Welt hinaus trägt.
Pura Vida.
Das „pure Leben“ bedeutet Leichtigkeit, Friedfertigkeit, Naturverbundenheit, glückliches Miteinander. Die Floskel hat sich aber auch darüber hinaus in den Alltag eingeschlichen. Von „Hallo“ über „Wie geht’s?“ bis zu „Ja“, „Okay“ und „Auf Wiedersehen“ ist pura vida allgegenwärtig. Eine sympathische und offenbar sehr gesunde Lebensphilosophie, zelebriert im derzeit angeblich glücklichsten Land der Welt, wie Zufriedenheitsstudien aller paar Jahre herausfinden wollen.
Ein paar Kilometer von Nicoya entfernt liegt Pochote: Fincas von ein paar Dutzend Farmern, die im Schutz der fast schon unwirklich grün leuchtenden Berge liegen. Ein paradiesischer Ort, an dem es sich gemütlich steinalt werden lässt. Trinidad Espinoza Medina wohnt hier seit nunmehr 101 Jahren in einer verwinkelten Hütte aus Holz und Stein. Nie habe sie diesen Ort verlassen. Nur der Mangobaum auf der anderen Straßenseite sei älter als sie. Auf dem sei sie schon als Kind herum geklettert.
Die Frau mit dem langen, weißen Haar thront auf einem massiven Stuhl aus Teakholz. Auf den Knien balanciert sie ihr Telefon, um sie herum flitzen Hühner, über ihr im Baum lärmen die Brüllaffen. Sie habe immer Besuch, erzählt Trinidad. Dank ihrer zwölf Kinder, der paar Dutzend Enkel, noch mehr Urenkel, unüberschaubar vieler Ur-ur- und seit neuestem auch noch Ur-ur-ur-Enkel sei immer jemand da. So kann auch stets jemand im Haushalt helfen. Auch, wenn Trinidad noch immer selbst den Boden fegt und Tortillas nach ihrem Rezept knetet.
Nunca fiesta, no bicicleta
Und Trinidad ist als Dorfälteste auch sonst gefragt. Ihr Rat ist geschätzt, besonders, wenn es um die wesentlichen Dinge im Leben geht. Und natürlich will auch dauernd jemand von ihr wissen, wie man eigentlich so steinalt wird. Dann pflegt Trinidad zu antworten: Meide große Menschenansammlungen, feiere keine ausschweifenden Partys – und steige nie aufs Fahrrad. Alles viel zu gefährlich.
Ein paar Häuser noch jemand, den der liebe Gott vergessen zu haben scheint: Bonifacio Villegas. Schwungvoll steigt er von seinem Pferd, knotet die Zügel an einen Ast und schlendert zu der Hütte gegenüber seiner malerischen Finca. In dieser Hütte sei er auf die Welt gekommen, erzählt Bonifacio und stupst sich den Cowboyhut aus dem noch immer jungenhaften Gesicht. Warum er noch hier ist, weiß er nicht. Er will auch besser nicht so viel darüber nachdenken.
Bonifacio sagt, er fühle sich topfit. Er reite jeden Tag aus, füttere die Tiere, halte das Haus in Schuss. Er brauche keine Medikamente, kein Hörgerät – und keine Brille, wenn er die Nachrichten auf seinem Handy checkt. Das Rauchen hat er mittlerweile aufgegeben, aber ab und an trinke er noch ganz gern mal einen. Erst vor kurzem hat ihm der Forscher Jorge Vindas eine gute Flasche Red Label mitgebracht. Ein Geschenk zum 100. Geburtstag.
Worin also liegt das Geheimnis des langen und noch längeren Lebens? „Neben der recht ähnlichen Ernährung gibt es ein paar Gemeinsamkeiten unter den Centenarios“, sagt Vindas. Alle hätten sie ihr ganzes Leben lang schwere körperliche Arbeit geleistet. Niemand habe Armut fürchten müssen. Auch habe keiner Reichtum angehäuft und sei dann an seinem Besitz verbittert. „Die Centenarios haben Körper und Geist offenbar immer auf angenehmer Betriebstemperatur gehalten“, vermutet der Demograf.
Jorge Vindas will seine Erkenntnisse in die Schulen Costa Ricas tragen, um bei den Kindern für gesundes Leben zu werben. Denn die Jüngeren würden nach und nach die traditionellen Kochrezepte vergessen, sagt Vindas. Gerade hat ein neues Fast-Food-Restaurant in Nicoya eröffnet – spezialisiert auf frittierte Hühnerflügel und süße Softdrinks. Vor allem die Kids seien süchtig nach dem Zeug.
Arm, aber genügsam
Leute, die sitzen bleiben, sterben, sagt Bonifacio kurz und knapp. Also reitet er weiterhin jeden Tag mit seinem Pferd aus. Das, nebenbei bemerkt, auch schon weit über 30 Jahre alt ist. Das Trinkwasser von Nicoya, mit dem manchmal auch das Vieh getränkt wird, hat das Institut bereits analysiert. Ja, es ist reich an Calcium und Magnesium, gut für die Knochen. Ansonsten ist es sehr gewöhnlich. Den Jungbrunnen hat man darin nicht gefunden.
Er sei arm, aber genügsam, sagt Bonifacio. Er sei manchmal traurig, aber stets zufrieden. Was ihn am Ende umbringen werde, seien die Frauen. Die brächen ihm noch Herz. Wenn der Centenario kichert und gluckst, wirkt er noch einmal ein paar Dekaden jünger. Vor allem die jüngeren Damen hätten es ihm angetan, sagt er. Frauen zwischen 50 und 60 etwa. So wie seine Hausärztin, die ihn regelmäßig besucht. Sie zur Begrüßung zu umarmen reiche schon aus, um sein Herz weiter schlagen zu lassen.
Auch die Forscher hoffen darauf, dass Bonifacio noch ein Weilchen fit und guter Dinge bleibt. Um von ihm und den anderen Centenarios zu lernen. Hierzu haben sich gerade die Demografen aller fünf Blue Zones in Nicoya getroffen. Ihr Ziel: Gemeinsam ein internationales Netzwerk schaffen, das von den Regierungen geschätzt und gefördert wird. „Zunächst werden wir nach mehr Gemeinsamkeiten in den blauen Zonen suchen“, erklärt Jorge Vindas. Standardisierte Fragebögen, identische Messmethoden, Grundlagenforschung. „Vielleicht entdecken wir in der Umwelt der Hundertjährigen noch eine entscheidende Schnittmenge.“
Doch Vindas und seine Kollegen interessieren sich nicht nur für nackte, wissenschaftliche Daten. „Wir wollen auch die Traditionen der alten Leute wahren – und so von ihrem Lebensstil zu lernen“, erklärt der Forscher. „Es ist entscheidend, unsere Blaue Zonen zu erhalten, sie zu beschützen und zu fördern, was gut für uns ist.“ Vindas Plan ist klar. Er will die Lebensbedingungen auf der ganzen Welt verbessern. Nicht weniger.
Quellen:
Blue Zones
Studie zur Demografie in Nicoya
Happiness Index
von Philipp | 7 Feb 2022 | Reisen
erschienen in der taz, am 18. August 2012
Im Müll schlafende Kinder unter schlafenden Hunden neben im Rinnstein hungernden Kindern unter verhungerten Hunden im Müll. Eine nicht enden wollende Schrottlawine wälzt sich an drei dürren Jungs vorbei. Sie schnüffeln Klebstoff aus einer Plastiktüte und starren auf eine Reisegruppe, die vor ihnen aus einem Bus steigt.
Ihr voran Kul Prakash, ein groß gewachsener Nepalese mit schmalem Schnurrbart. Er dreht sich um die eigene Achse, breitet die Arme aus und brüllt gegen den Verkehrslärm an: „Welcome to Kathmandu. Best place of the world.“
Den Touristen steht die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Einige von ihnen waren vor zwanzig, dreißig Jahren das letzte Mal hier in der Königsstadt, dem Weltkulturerbe, dem Mekka der Hippies. Auf der Fahrt aus dem Dschungel hinein in das einst fruchtbarste und nun furchtbarste Tal Nepals erzählen sie sich Geschichten über die Freiheit, die Spiritualität und den Frieden, den sie hier einst fanden. Jetzt stehen sie von Händlern umzingelt im Zentrum einer Millionenmetropole ohne Infrastruktur, die in ihrem eigenen Dreck erstickt.
Goldsuche im Flussbett
Die Stadt habe sich ein bisschen verändert, untertreibt Kul Prakash. Dann versucht er, dem kollektiven Gedächtnis seiner Gäste auf die Sprünge zu helfen. Er führt sie hinaus aus dem Smog nach Bhaktapur, der alten Töpferstadt, in dem die Menschen noch so leben wie früher, obwohl der Ort längst vom explodierenden Kathmandu verschluckt worden ist. Auf dem Marktplatz versucht ein Mann, eine lebendige Ziege in den Kofferraum seines Autos zu befördern. Vor den backsteinroten Gebäuden schwimmen Schlachtabfälle in Blutlachen. Es sind die Tage des Opferfestes für die Hindu-Göttin Gadhimai, erklärt Kul Prakash. Die Reichen schlachten Ziegen, die Armen Enten, die Ärmsten Kokosnüsse. Die Opfer sollen Glück, Wohlstand und ein langes Leben bescheren.
Im Osten der Stadt legen sich beißende Rauchschwaden um Pashupatinath, der wichtigsten Tempelstätte der Hindus. Klöster, Schreine und Heime. Bettler, Rhesusaffen und Leichen. Am Ufer des Bagmati verbrennen die Leute ihre verstorbenen Familienangehörigen. Die heiße Asche wird in den heiligen Fluss geschüttet. Im Wasser planschen nackte Kinder. Sie suchen das Flussbett nach Schmuck und Goldzähnen ab.
Es wird gebaut
Die Menschen überlassen ihr Schicksal den Gottheiten. Doch die guten Geister scheinen Kathmandu verlassen zu haben. Spätestens seit dem vergangenen Jahr, als die Regierung erlaubte, in der Hauptstadt höher als fünf Stockwerke zu bauen, damit mehr Wohnraum geschaffen wird. Kolonnen kunterbunt bemalter Lastwagen befördern seitdem tagtäglich Tonnen von Lehm und Sand und Steinen in das Tal Kathmandus. Über 900.000 Einwohner hätten die Behörden in diesem Jahr gezählt, sagt Kul Prakash. Er selbst schätzt die tatsächliche Zahl auf 7 Millionen. „7 Millionen Hindus, die nicht an morgen denken“, ergänzt er und erzählt Geschichten von korrupten Politikern, die sich das Geld in die eigenen Taschen stecken.
Eines der größten buddhistischen Denkmäler der Welt ist Bouddhanath in Kathmandu. Eine Ruheoase mit seiner riesigen Stupa und dem sie umschließenden massiven Mandala, den bemalten Häusern, den Gebetsmühlen und Fähnchen, den Buddha-Statuen, den Kerzen und einem Meer aus Blumen. Bouddhanath soll an die tibetanische Haupt- und Pilgerstadt Lhasa erinnern, an ihre kristallklaren Bergseen auf 3.500 Metern Höhe und an den gigantischen Potala-Palast, das Weltwunder, in dem einst der Dalai Lama residierte – und auf dem heute die chinesische Flagge weht.
Siddharta Gautama, in Nepal geboren, der Gründer des Buddhismus, habe Selbstverantwortung gefordert, sagt Kul Prakash. Aber um sich dem Wohlstand des Jetzt zu verweigern, sei der Mensch viel zu egoistisch, viel zu verlogen. In Kathmandu wie auf der Hochebene Tibets. „Auch die Tibeter werden nach und nach ihre Religion gegen Karriere und Modernisierung tauschen“, sagt er. Niemand könne die Zeit anhalten. Nicht einmal Buddha.
Text und Bild: Philipp Brandstädter