erschienen in der taz, die Tageszeitung, am 5. September 2021
Dass Maßeinheiten einfach sind, verdanken wir den Vordenkern der Französischen Revolution: Sie machten aus Ellen und Füßen endlich Meter.
In „Pulp Fiction“, dem Kultfilm von Quentin Tarantino von 1994, unterhalten sich zwei Gangster über die Europäer:
„Weißt du, was das Abgefahrenste an Europa ist? Das sind die kleinen Unterschiede … Weißt du, wie die einen Quarterpounder mit Käse in Paris nennen?“
„Die nennen ihn nicht einen Quarterpounder mit Käse?“
„Nein, Mann, die haben das metrische System. Die wissen gar nicht, was ein Quarterpounder ist.“
„Wie nennen die ihn?“
„Die nennen ihn Royale mit Käse.“
Der Dialog ist legendär. Er fängt sehr gut das amerikanische Unverständnis für europäische Maßeinheiten ein. Europäer wiederum halten Amerikaner für verrückt, wenn sie mit deren Gewichten, Längen oder Geschwindigkeiten beim Filmegucken nicht zurande kommen. Oder beim Bestellen im Restaurant. Oder beim Shoppen im Klamottenladen. Oder beim Ausfüllen von Formularen mit den persönlichsten Angaben.
Inches, Feet, Yards und Meilen – ein einziger Wirrwarr. Verwechslungen mit dem metrischen und dem angelsächsischen oder auch imperialen Einheitssystem haben sogar schon für größeren Ärger gesorgt als ein zu kleines Steak auf dem Teller oder eine zu enge Jeans auf den Hüften. Es hat deswegen schon Notlandungen und Unfälle im Weltraum gegeben, nur weil irgendjemand zu stur auf seinen Gewohnheiten beharrte. Aber der Reihe nach.
Auch hierzulande war das Messen einst bekloppt. Von der Antike bis ins späte 19. Jahrhundert mussten sich die Leute nach den Körpermaßen ihrer aktuellen Herrscher richten. Mal war der Abstand von der Nasenspitze zum ausgestreckten Daumen entscheidend, mal die Länge eines Fußes – und das zum Teil von Stadt zu Stadt unterschiedlich. Manche Händler rechneten mit der Braunschweiger Elle, die einen guten halben Meter maß. Andere benutzten die Münchener Elle, die locker zwanzig Zentimeter länger war. Rechenfehler und Missverständnisse beim Handel waren da vorprogrammiert.
Diese unverhältnismäßige Abhängigkeit vom Größenwahn der Regierenden mit ihren auf sich bezogenen Ellen und Füßen und Spannen ging den Vordenkern der Französischen Revolution gehörig gegen den Strich. Und so führte der Nationalkonvent 1795 das metrische System ein, das sich fortan auf der ganzen Welt durchsetzen sollte. Die ursprüngliche Idee: einheitliche Größen, die allgemein gültig und für alle nachvollziehbar sind, weil sie sich auf Phänomene unserer aller Mutter Erde beziehen. Dafür hatten sich zwei renommierte Astronomen auf die Socken gemacht, um mal eben die Welt zu vermessen.
Die beiden mussten nun nicht gleich den gesamten Planeten ablaufen. Ein popeliger Längengrad reichte schon aus. Und so nahmen sich Jean-Baptiste Delambre und Pierre Méchain den Meridianbogen zwischen Dünkirchen und Barcelona vor, um daraus den Erdumfang zu berechnen. Der eine lief nach Norden, der andere nach Süden, beide mit einem Sack wissenschaftlicher Präzisionsinstrumente im Gepäck, um sich eine Methode zunutze zu machen, die bis heute in der Landvermessung bekannt ist: die Triangulation.
Die Forscher kletterten Kirchtürme und Berge hinauf, um von oben auszumessen, in welchem Winkel andere Kirchtürme und Berge zu sehen waren. Dank altbekannter Geometrie ergab sich dabei eine Sammlung hilfreicher imaginärer Dreiecke, mit denen sich die Gesamtstrecke zwischen Anfang und Ende des Längengrads hochrechnen ließen. Von misstrauischen Bauern gejagt oder flachgelegt von Hunger und Krankheiten zog sich die Vermessung in den Kriegswirren der Revolution zwar ein bisschen hin. Doch nach sieben Jahren hatten Delambre und Méchain die Bezugsgröße unseres metrischen Systems gefunden: den zehnmillionsten Teil der Strecke vom Nordpol zum Äquator – der Meter.
Der Meter wurde aus Platin zu einem Ur-Meter gegossen. Von ihm wurden weitere Einheiten für Gewichte und Volumen abgeleitet. Ein Kilogramm entsprach dem Gewicht an Wasser, das in einen Würfel mit einer Kantenlänge von einem Zehntelmeter passt. Kleinere und größere Einheiten wurden in Zehnerschritten anstatt wie zuvor in albernen Dutzenden gerechnet. Warum uns das Rechnen in Dezimalstellen viel einfacher erscheint, lässt sich an zwei Händen abzählen.
Die Dezimalrevoluzzer gingen sogar so weit, dass sie konsequenterweise auch die Zeitrechnung den Zehnern unterwerfen wollten. Im republikanischen Kalender gab es zehn Wochentage, die jeweils in zehn Stunden mit je 100 Minuten à 100 Sekunden eingeteilt waren. Die neue Sekunde war dadurch etwas kürzer als die alte, die neue Minute länger als die alte und die Revolutionsstunde mehr als doppelt so lang.
Doch irgendwie wollte sich die Idee nicht durchsetzen. Die Bevölkerung kam auf den Trichter, dass sie nun an neun Tagen in der Woche arbeiten musste. Also wurde der republikanische Kalender ein paar Jahre nach seiner Einführung wieder abgeschafft.
Trotzdem war das metrische System modern und in sich stimmig und trieb somit die Revolution voran. Nach und nach übernahmen die Länder auf der ganzen Welt die Zählweise. Auch wenn sich später herausstellte, dass Delambre und Méchain bei ihrer Definition des Meters daneben lagen. Sie hatten sich um 0,2 Millimeter vermessen. Die Dicke von zwei Blatt Papier.
Der Fehler blieb auch in der Rechnung, als der Meter nicht mehr von einem Metallstab, sondern durch die Lichtgeschwindigkeit festgelegt wurde. Eine Korrektur war nicht nötig, denn schließlich ging es ja um die einheitliche Einheit selbst – und nicht um das, was sie ursprünglich bezeichnet. Heute ist ein Meter die Strecke, die das Licht in einer 1/299.792.458 Sekunde zurücklegt.
„We approach the metric system inch by inch.“
Auch für andere gängige Größen, die wir brauchen, um die Phänomene auf der Welt zu beschreiben, wurden mit der Zeit exakte Werte gefunden. Seit gut zwei Jahren richten sich alle sieben wesentlichen Einheiten nach Naturkonstanten: der Meter, das Kilogramm, die Sekunde. Kelvin für die Temperatur, Ampere für die Stromstärke, Candela für die Lichtstärke und Mol für die Stoffmenge.
Wissenschaftlich gesehen und halbwegs offiziell zählt die gesamte Menschheit metrisch. Auch wenn es manchmal heißt, dass die stolzen USA sich dessen verweigern würden, zusammen mit Myanmar und Liberia. Dort wird in Studien metrisch gerechnet; nur im alltäglichen Gebrauch kommt es hin und wieder zu Verwirrungen – und manchmal eben auch im Alltag der Wissenschaft.
Und so musste 1983 eine kanadische Boeing mit kaputter Treibstoffanzeige notlanden, weil ihr Tank in Gallonen gemessen, jedoch in Litern gefüllt wurde. Mitten im Flug ging dem Jet der Sprit aus, er verwandelte sich in ein überdimensionales Segelflugzeug. Wie durch ein Wunder gelang den Piloten die Landung.
Im Spätsommer 1999 verloren Forschende der Nasa den Kontakt zu einem ihrer Satelliten. Der Climate Orbiter sollte nach seiner neunmonatigen Reise den Mars umfliegen und untersuchen. Doch kaum war die Sonde in die Umlaufbahn des Roten Planeten eingeschwenkt, verglühte sie. Die Kontrollzentren in Denver und Pasadena hatten die Schubkraft des Orbiters in unterschiedlichen Maßeinheiten gerechnet. Die einen in Metern und Kilogramm, die anderen in Feet und Pounds. Das Ergebnis: eine Fehlkalkulation von 40 Kilometern und 125 Millionen verbrannte Dollar.
Aber das stoffelige imperiale System mit seinen Einheiten gibt den Amerikanern wenigstens noch, nun ja, ein Mikrogramm Charme. Gangsterfilme haben Popgeschichte geschrieben, weil wir uns so gern über Pfund, Fuß, Meilen, Pint, Gallonen und Yards lustig machen. Überlassen wir es den angelsächsisch Rechnenden, wann sie ihre ulkige Zählweise endgültig aufgeben. Oder wie es der Amerikaner sagt: „We approach the metric system inch by inch.“
Text und Bild: Philipp Brandstädter