Kathmandu

Das verlorene Mekka der Hippies

erschienen in der taz, am 18. August 2012

Im Müll schlafende Kinder unter schlafenden Hunden neben im Rinnstein hungernden Kindern unter verhungerten Hunden im Müll. Eine nicht enden wollende Schrottlawine wälzt sich an drei dürren Jungs vorbei. Sie schnüffeln Klebstoff aus einer Plastiktüte und starren auf eine Reisegruppe, die vor ihnen aus einem Bus steigt.

Ihr voran Kul Prakash, ein groß gewachsener Nepalese mit schmalem Schnurrbart. Er dreht sich um die eigene Achse, breitet die Arme aus und brüllt gegen den Verkehrslärm an: „Welcome to Kathmandu. Best place of the world.“

Den Touristen steht die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Einige von ihnen waren vor zwanzig, dreißig Jahren das letzte Mal hier in der Königsstadt, dem Weltkulturerbe, dem Mekka der Hippies. Auf der Fahrt aus dem Dschungel hinein in das einst fruchtbarste und nun furchtbarste Tal Nepals erzählen sie sich Geschichten über die Freiheit, die Spiritualität und den Frieden, den sie hier einst fanden. Jetzt stehen sie von Händlern umzingelt im Zentrum einer Millionenmetropole ohne Infrastruktur, die in ihrem eigenen Dreck erstickt.

Goldsuche im Flussbett

Die Stadt habe sich ein bisschen verändert, untertreibt Kul Prakash. Dann versucht er, dem kollektiven Gedächtnis seiner Gäste auf die Sprünge zu helfen. Er führt sie hinaus aus dem Smog nach Bhaktapur, der alten Töpferstadt, in dem die Menschen noch so leben wie früher, obwohl der Ort längst vom explodierenden Kathmandu verschluckt worden ist. Auf dem Marktplatz versucht ein Mann, eine lebendige Ziege in den Kofferraum seines Autos zu befördern. Vor den backsteinroten Gebäuden schwimmen Schlachtabfälle in Blutlachen. Es sind die Tage des Opferfestes für die Hindu-Göttin Gadhimai, erklärt Kul Prakash. Die Reichen schlachten Ziegen, die Armen Enten, die Ärmsten Kokosnüsse. Die Opfer sollen Glück, Wohlstand und ein langes Leben bescheren.

Im Osten der Stadt legen sich beißende Rauchschwaden um Pashupatinath, der wichtigsten Tempelstätte der Hindus. Klöster, Schreine und Heime. Bettler, Rhesusaffen und Leichen. Am Ufer des Bagmati verbrennen die Leute ihre verstorbenen Familienangehörigen. Die heiße Asche wird in den heiligen Fluss geschüttet. Im Wasser planschen nackte Kinder. Sie suchen das Flussbett nach Schmuck und Goldzähnen ab.

Es wird gebaut

Die Menschen überlassen ihr Schicksal den Gottheiten. Doch die guten Geister scheinen Kathmandu verlassen zu haben. Spätestens seit dem vergangenen Jahr, als die Regierung erlaubte, in der Hauptstadt höher als fünf Stockwerke zu bauen, damit mehr Wohnraum geschaffen wird. Kolonnen kunterbunt bemalter Lastwagen befördern seitdem tagtäglich Tonnen von Lehm und Sand und Steinen in das Tal Kathmandus. Über 900.000 Einwohner hätten die Behörden in diesem Jahr gezählt, sagt Kul Prakash. Er selbst schätzt die tatsächliche Zahl auf 7 Millionen. „7 Millionen Hindus, die nicht an morgen denken“, ergänzt er und erzählt Geschichten von korrupten Politikern, die sich das Geld in die eigenen Taschen stecken.

Eines der größten buddhistischen Denkmäler der Welt ist Bouddhanath in Kathmandu. Eine Ruheoase mit seiner riesigen Stupa und dem sie umschließenden massiven Mandala, den bemalten Häusern, den Gebetsmühlen und Fähnchen, den Buddha-Statuen, den Kerzen und einem Meer aus Blumen. Bouddhanath soll an die tibetanische Haupt- und Pilgerstadt Lhasa erinnern, an ihre kristallklaren Bergseen auf 3.500 Metern Höhe und an den gigantischen Potala-Palast, das Weltwunder, in dem einst der Dalai Lama residierte – und auf dem heute die chinesische Flagge weht.

Siddharta Gautama, in Nepal geboren, der Gründer des Buddhismus, habe Selbstverantwortung gefordert, sagt Kul Prakash. Aber um sich dem Wohlstand des Jetzt zu verweigern, sei der Mensch viel zu egoistisch, viel zu verlogen. In Kathmandu wie auf der Hochebene Tibets. „Auch die Tibeter werden nach und nach ihre Religion gegen Karriere und Modernisierung tauschen“, sagt er. Niemand könne die Zeit anhalten. Nicht einmal Buddha.

Text und Bild: Philipp Brandstädter

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