erschienen in der taz am Wochenende am 19. April 2025
Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir sterben? Und wie prägen Kultur und Herkunft, welche Bilder wir sehen? Was Forscher:innen über Nahtoderfahrungen wissen.
Heidrun Mauder, Verlagssekretärin aus Mellrichstadt, hatte schon zwei Nahtoderlebnisse. Sie erzählt:
Offenbar habe ich nicht nur einen Schutzengel, sondern mehrere. Mein schwaches Herz hat mich schon mehrfach fast umgebracht. Gleich zweimal bin ich nur knapp dem Tod von der Schippe gesprungen.
Vor zehn Jahren wurde ich abends mit schrecklichen Herzschmerzen ohnmächtig. Im Krankenhaus erkannte man rechtzeitig, dass es weder ein Infarkt, noch ein Schlaganfall war, sondern ein Riss in der Aorta. Ich wurde sofort operiert, meine Überlebenschance lag bei fünf Prozent. Während mich die Ärzte retteten, hatte ich ein besonderes Erlebnis.
Ich fand mich in einem Wald wieder, ein lichter Tannenwald, mit großen, moosbewachsenen Steinen. Überall brannten weiße Kerzen, die den Wald golden schimmern ließen. Dort saß ich eine Weile, bis eine junge Frau auf mich zukam. Sie war schlank, groß gewachsen und wunderschön. Ihre langen, lockigen Haare wehten über ihr schwarzes Gewand. Sie lächelte mich freundlich an und wollte mich ins Jenseits geleiten. Doch ich wollte nicht mitgehen. Vielleicht, weil ich mich in dem paradiesischen Wald so wohlfühlte. Vielleicht, weil ich wusste, dass mich das Diesseits noch braucht. Also lehnte ich ihr Angebot mit einem Kopfschütteln ab.
Dann wachte ich im Krankenhausbett auf. Mein Mann und meine Kinder saßen um mich herum. Ich hatte das Gefühl, nur kurz fort gewesen zu sein. Später erfuhr ich, dass ich fünf Wochen im Koma lag. Mühsam musste ich lernen, wieder alleine zu atmen, zu schlucken, zu sprechen, zu laufen. Doch ich kämpfte mich zurück.
Ein Jahr später musste ich am Herzen operiert werden. Es gab Komplikationen, das Herz blieb stehen. Ich war sechs Minuten lang tot – bis ich wiederbelebt wurde. Wieder hatte ich ein Nahtoderlebnis. Diesmal wachte ich in einem großen Saal auf. Er war hell erleuchtet und warm, die Decke leuchtete goldfarben, ich konnte Musik hören. Ich hätte dort für immer bleiben können. Doch außerhalb der Halle konnte ich meine Familie sehen. Meine Tochter saß dort und wartete. Ich spürte, dass es noch nicht an der Zeit für mich ist. Ich wollte zurück. Und ging.
Seit diesen Erfahrungen weiß ich, dass der Tod nichts Schlimmes ist. Ich weiß auch, dass es danach nicht zu Ende ist. Ich bin überzeugt, dass wir auf Erden geführt und im Jenseits erwartet werden.
Vor ein paar Wochen ist mein Mann gestorben. Vor 65 Jahren haben wir uns im Schwimmbad kennengelernt. Damals sagte ich zu meiner Freundin: Den heirate ich mal. Und so kam es auch. Seit ein paar Wochen muss ich ohne Rudolf zurechtkommen. Doch bei aller Trauer um ihn weiß ich: Er ist da oben und wartet auf mich. Bis dahin passt er auf mich auf. Mit ihm habe ich nun noch einen Schutzengel mehr.
Meistens drängen wir den Tod so gut es geht aus unserem Leben. Und tun so, als hätten wir ewig Zeit. Doch wahrscheinlich haben die meisten schon mal darüber nachgedacht, wie es wohl ist, wenn man stirbt: ein helles Licht, das Leben zieht vorbei. Das Bewusstsein entkoppelt sich vom Körper, schwebt davon, weg vom Irdischen, irgendwohin. Nicht jeder, der dem Tode nah ist, erlebt solche oder ähnliche Bilder. Der Kardiologe Pim van Lommel hat Patienten befragt, die einen Herzstillstand überlebt haben. Nur knapp jeder Fünfte hatte eins dieser Erlebnisse in Erinnerung, die wir Nahtoderfahrung nennen.
Eine solche Erfahrung muss man nicht selbst gemacht haben, um die Bilder zu kennen. Sie sind verankert in unserer Kultur, in Literatur und Film. Doch so ähnlich seien sich die Erzählungen über Nahtoderlebnisse gar nicht, sagt Soziologin Ina Schmied-Knittel. Sie hat Berichte über Nahtoderfahrungen analysiert und herausgefunden, dass zum einen zwar immer wieder von paradiesischen Landschaften, allumfassender Liebe und einem Verschmelzen mit dem Universum die Rede ist. Doch Menschen erzählen auch von Panik und der Präsenz dämonischer Gestalten.
Kulturelle Prägung
Die Schilderungen seien häufig beeinflusst von kultureller Prägung wie Nationalität und Religion, sagt die Soziologin. Selbst zwischen ost- und westdeutscher Herkunft kann es einen Unterschied geben.
„Menschen, die in der DDR sozialisiert wurden, berichten häufiger von düsteren, bizarren Szenarios und negativen, teils angstbesetzten Emotionen“, sagt sie. Aus den alten Bundesländern hingegen werde eher von Motiven wie Licht und Wärme berichtet.
Ina Schmied-Knittel erklärt sich das so: Die typischen Elemente eines Nahtoderlebnisses haben ihren Ursprung in religiösen und spirituellen Erfahrungen. Diese Erzählungen seien in der DDR nicht groß thematisiert und verbreitet worden. Somit fehlten die „paradiesischen Bilder“, mit denen sich das Erlebte beschreiben ließe.
Nahtoderfahrungen sagen also auch viel über uns im Diesseits aus. Aber was ist da noch? Kann das menschliche Gehirn auf der Schwelle zum Sterben mehr wahrnehmen als im normalen irdischen Alltag?
Herztod, Hirntod
Diese Schwelle selbst hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verschoben und vergrößert. Noch in den Fünfzigerjahren galt man als tot, wenn das Herz nicht mehr schlug. Doch auch wenn das Gehirn nicht länger mit Nährstoffen versorgt wird, arbeitet es noch eine Zeit lang weiter. Diese Erkenntnisse veränderten unseren Blick auf den Tod. Seitdem spricht man beim Herztod vom klinischen Tod, der noch nicht das irdische Ende bedeuten muss.
Tot ist heute der Definition nach, wessen Hirn nicht mehr aktiv ist. Nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand wird das Gehirn nicht mehr durchblutet. In diesem Zustand nimmt die Hirnaktivität erst einmal zu, und zwar rasant. Das neuronale Netzwerk zündet ein Feuerwerk, womöglich lebhaft und intensiv genug, um das ganze Leben noch einmal an sich vorbeiziehen zu lassen.
Das Team um die Neurobiologin Jimo Borjigin von der Universität Michigan hat starke Hirnaktivitäten bei zwei von vier untersuchten komatösen Menschen mit Herzstillstand gemessen. Im Augenblick ihres Sterbens und auch darüber hinaus zeichneten die Hirnforscher mithilfe eines Elektroenzephalogramms (EEG) hohe Gamma-Werte auf. In ihrem Bericht brachte Jimo Borjigin diese Werte mit hoher Gedächtnisleistung, also dem Abrufen von Erinnerungen, Träumen und tiefer Meditation in Verbindung.
Der Hirnforscherin zufolge stellt unser Gehirn seine Arbeit noch nicht ein, wenn wir sterben. „Wenn überhaupt, ist es während des Sterbeprozesses viel aktiver als selbst im Wachzustand.“
Welle rauscht durchs Hirn
Scheint die Hirnaktivität erloschen, folgt ein weiteres messbares Ereignis: 2018 haben Neurologen der Berliner Charité und der Universität Cincinnati nachgewiesen, dass im Moment des Todes ein schon länger bekannter neuronaler Tsunami durch unsere Schaltkreise rauscht und alles zerstört.
„Diese Entladungswelle im Gehirn entsteht dadurch, dass viele Nervenzellen einen Kurzschluss entwickeln“, sagt Neurologe Jens Dreier von der Charité. Dieser Kurzschluss würde sich dann von Zelle zu Zelle ausbreiten. „Von da an werden Kaskaden in Gang gesetzt, die letztlich zur Vergiftung der Zellen führen.“ Bis bei dieser Kettenreaktion alle 86 Milliarden Nervenzellen abgestorben sind, dauere es laut Dreier länger als das bisher vermutet worden sei. Womöglich lang genug für eine intensive Erfahrung.
Kehrt ein Mensch nach seinem Herzstillstand – aber noch vor der Entladungswelle – ins Leben zurück, bringt er manchmal die Erinnerung an ein Nahtoderlebnis mit. Oft werden sie als lebensverändernd beschrieben, stärker als nach einer außergewöhnlichen Naturerfahrung, einem Klartraum oder einer Meditation.
Wie ein Trip
Manche Menschen berichten davon, ihren Körper verlassen zu haben, wie etwa bei einem psychedelischen Trip mit Ayahuasca. Charlotte Martial von der Coma Science Group in Lüttich hat versucht zu ergründen, was an diesen Out-of-Body-Erfahrungen dran sein könnte.
Dazu dekorierte sie den Schockraum der Notaufnahme mit ungewöhnlichen Dingen. In den Ecken des Zimmers, hoch über dem Behandlungstisch, platzierte sie ein altes Telefon, ein Bild von einer Schildkröte, einen großen Teddybären und einen rosa Cowboyhut. Ein Patient, der bei der Wiederbelebung von oben auf sich hinabschauen kann, würde womöglich von diesen Gegenständen berichten können, so die Annahme. Das Ergebnis: Keine der wiederbelebten Personen sah Cowboyhut, Teddy oder Telefon.
Trotzdem ist die Nahtoderfahrung für viele Menschen so eindrucksvoll, dass sie wie eine Art Auferstehung wahrgenommen wird.
„Beim Sterben wird nicht einfach ein Schalter umgelegt“, erklärt Jens Dreier aus der Charité. Es sei ein individueller Prozess mit mehr Unterschieden als Gemeinsamkeiten. „Interessant ist, dass bei einer Nahtoderfahrung das Gefühl entsteht, dass die Zeit stehen bleibt und man überall gleichzeitig ist. Das könnte man damit erklären, dass sehr viele Nervenzellen gleichzeitig aktiviert werden.“
Die dabei erzeugten und erinnerten Bilder darf dann jede und jeder für sich selbst interpretieren.
Text und Foto: Philipp Brandstädter