erschienen im Böll Heft 07/2020
Besonders Berlin hat sich zum Sehnsuchtsort junger US-AmerikanerInnen entwickelt – und nicht wenige haben es geschafft, die Stadt zu ihrem Lebensmittelpunkt zu machen. Begegnungen mit Menschen, die auf der Suche nach Freiheit sind.
Bryn Veditz
Geboren 1988 in Ohio
Beruf: Registrarin bei Berlin Biennale for Contemporary Art
Sprachbarriere? Das war für Bryn kein Thema. Die ersten Worte Deutsch hat sie schon als Kleinkind in Mannheim aufgeschnappt: Beide Eltern waren bei der Army und weltweit unterwegs, so auch für ein paar Jahre in Mannheim. Später, auf ihrer Schule in Virgina, hatte Bryn bilingualen Unterricht, Naturkunde auf Deutsch. Zeitig andere Sprachen lernen, das war ihren Eltern wichtig. Und je fließender die Deutschkenntnisse, desto klarer war für Bryn, was sie später machen würde: zunächst in Boston Deutsche Literatur studieren, dann nach Deutschland. Erst war es nur ein Austausch in Dresden, doch rasch folgte: Big City Life in Berlin.
Bald zwölf Jahre später fühlt sich Bryn nun in Deutschland heimisch, ohne ihre US-amerikanische Art zu verheimlichen. «Ich bin lebensfroh und hilfsbereit, sicher ein bisschen lauter als der deutsche Durchschnitt», sagt Bryn. Damit ist sie im Büro ab und an mal angeeckt. Bis heute kann sie nicht verstehen, dass man hierzulande unter Kollegen gern distanziert bis verschlossen bleibt. «Wir sitzen doch fucking zehn Stunden am Tag am selben Schreibtisch! Ich kann auch höflich, freundlich und interessiert sein, ohne gleich Freundschaft schließen zu wollen. Aber hey, das ist wohl typisch amerikanisch.»
Auf andere «typisch amerikanische» Klischees möchte Bryn in ihrem neuen Lebensabschnitt lieber verzichten: Oberflächlichkeit, Karrieregeilheit. Sich Gehaltszettel, Überarbeitung und Burnout als sozialen Status feiern zu lassen. Nach ihrem Uniabschluss und bald zwei Jahren Vollzeitanstellung verdient Bryn hier in Berlin immer noch weniger als damals bei ihren Gelegenheitsjobs in New York City. Doch Bryn ist nicht hier, um steinreich zu werden.
Mit Limoflaschen in der Hand spazieren wir in ihrem Kiez die Panke entlang und lassen uns von Joggern, Radfahrern und Entenfamilien überholen. Nach einem großen WG-Hopping zu Unizeiten ist Bryn endlich im Stadtteil Wedding angekommen. Und will auch nicht mehr weg aus der Stadt: «Nirgendwo habe ich so viele Freunde gewonnen wie hier», sagt Bryn. «Nirgendwo konnte ich schöner in Parks abhängen, besser feiern und freier sein als hier.»
Das Einzige, was sie an den USA vermisst, ist ihre Lieblingszahnpasta. Advanced White, die mit der Überdosis Natron. Die, die wie blöd schäumt, und die ihre Freunde immer für so eine Art chemische Massenvernichtungswaffe halten, wenn sie sie ausprobieren. Von dem Zeug nimmt sich Bryn immer einen Jahresvorrat mit, wenn sie ihre Familie in New Mexico besucht.
Die eigene Familienplanung soll aber auf deutschem Boden vonstattengehen. «Ich war mir ziemlich sicher, einen europäischen Mann zu heiraten und viele kleine europäische Kinder zu bekommen. Und jetzt habe ich mich in einen US Boy verliebt», erzählt sie lachend. Denn so perfekt die Deutschkenntnisse auch sein mögen, irgendwie fühlt es sich vertraut und schön an, wenn man sich so leicht verständigen kann. Die ganzen Insider aus der Popkultur, die Wortwitze, die Gemeinsamkeiten, die kleinen Dinge. Der US Boy ist vor kurzem bei ihr eingezogen.
Ian Kaplow
Geboren 1969 in Philadelphia
Beruf: Dozent für Sprache und Bewusstsein
Gerade hatte Ian ein Stipendium in Edinburgh angefangen, als in Berlin die Mauer fiel. Also ist er dort hin, mit dem Zug, um die ganze Geschichte mitzuerleben, um sich in die Stadt zu verlieben – und in ein Mädchen aus Ostberlin.
Die kleine Wohnung im Westfälischen Viertel hatte seinerzeit quasi nichts gekostet. Ian hielt sich mit kleinen Jobs über Wasser, buchte einen Sprachkurs an der VHS, schrieb sich kostenlos an der Uni ein, manchmal war die Monatsmiete schon mit einem Hausmeisterdienst bezahlt. Dort, wo sich eine ganze Stadt völlig neu erfand, konnte auch Ian neu beginnen. «Hier war ich nicht mehr der amerikanische Großstadtjude aus halbbourgeoisen Familienverhältnissen. Stattdessen wurde ich für einen jugoslawischen Flüchtling gehalten und auf der Straße Kanake genannt.»
Ian entdeckte die Freiheit gemeinsam mit den Altberlinern und den neuen Wahlberlinern. Mit den Leuten, die suchen und finden wollten. Die in dieser Stadt nun endlich Grundsätzliches infrage stellen durften, anerzogene Werte, religiöse Traditionen, die sexuelle Orientierung. «Das ging in den USA mit seiner erdrückenden Engstirnigkeit nicht», sagt Ian. «In Berlin konnte ich der sein, der ich sein wollte. Konnte testen, ob das eine besser zu mir passt als das andere. Dabei hatte ich zu dem Zeitpunkt auch nur eine grobe Idee.»
Natürlich hatte auch Ian den Amerikanischen Traum verinnerlicht, während er in Philadelphia aufwuchs. Auch er wollte das Haus und den Garten und Karriere machen, so glaubte er jedenfalls. Dass mit dem Mythos etwas nicht stimmt, hat Ian erst in Berlin festgestellt. «Sobald du in den USA drohst arm zu werden, gehörst du nicht mehr zu den Privilegierten. Falls das geschieht, finden die Leute, dass das deine eigene Schuld ist. Das finde ich moralisch verwerflich.»
Doch Ian befürchtet nun, dass sich sein einst viel freieres Berlin mit dem Amerikanischen Traum «angesteckt» hat. Ians Lieblingsplätze werden von Touristen überlaufen, seine Lieblingsclubs haben schon vor Jahren dicht gemacht. Es hat ewig gedauert, eine größere Wohnung für seine Familie zu finden, und einen Kitaplatz für seinen jüngsten Sohn. Berlin hat sich schmerzlich verändert. «Vielleicht ziehen wir irgendwann fort. Wir sind ja nicht mit Berlin verheiratet.»
Jillian Graham
Geboren 1990 im Bundesstaat New York
Beruf: Studentin der Business Psychology
Erst beim Reisen ist Jill aufgefallen, was man zu Hause alles vermissen kann. Fahrradwege zum Beispiel. Oder bevölkerte Parks. Und diese zuerst etwas überwältigende, dann aber so befreiende «Du-darfst-so-sein-wie-du-bist-Mentalität», die sie in Berlin kennen und schätzen gelernt hat.
Zu Hause, das war mal in einer Kleinstadt irgendwo im Bundesstaat New York. Die Leute sitzen dort weniger auf Rädern oder auf Wiesen oder Picknickdecken. Sie sitzen auf Sofas vor ihren Glotzen oder in Autos auf den Straßen, sagt Jill. Auf alle Fälle sehr isoliert. Den Menschen fehle der Kontakt mit Menschen. Und auf körperliche Isolation folge die geistige.
In den vergangenen Jahren sei die Gesellschaft in den USA zunehmend ungesünder geworden, «zunehmend» auch im wortwörtlichen Sinne, sagt sie augenzwinkernd. Aber ungesund können sich die Leute nicht leisten, weil sie keine Krankenversicherung haben. Auch die Sache mit dem Egoismus und dem fehlenden kritischen Denken sei aus ihrer Sicht immer schlimmer geworden, gerade zu Trump-Zeiten. Es fiel ihr immer schwerer, das mit anzusehen. Also ist Jill nach dem Studium abgehauen.
Entwicklungshilfe in Haiti und El Salvador. Dann Mali, Nigeria. Und weiter nach Serbien. Vor zwei Jahren ist Jill schließlich in Berlin gelandet. «Hier kann ich leben und studieren, ohne pleite zu gehen», sagt sie. Jill hat sich für Wirtschaftspsychologie eingeschrieben, mal sehen, was sie damit anstellt und ob sie nach ihrem Abschluss hier bleibt. Eigentlich sei es ziemlich einfach in Berlin, mit Englisch und ein paar Brocken Deutsch durchzukommen. Und natürlich sei es angenehm, sich auch nachts auf der Straße sicherer zu fühlen als vielleicht in ärmeren Ecken der Welt.
Es ist mehr die Infrastruktur als das Land, mehr die Leute als das kulturelle Angebot, was Jill an Berlin so sehr schätzt. Vor allem aber die große Freiheit, die sie hier aufsaugt. Die offenherzigen Menschen, die sich treffen und miteinander reden, sich tatsächlich füreinander interessieren. Die Meet-ups, bei denen sie neue Leute für Jam-Sessions und Backgammon-Partien kennenlernt. Die Restaurants, die sie besucht, wenn mal Geld übrig ist. Das Nachtleben, die Radwege, der Mauerpark. Das fühlt sich gerade alles besser an als das Leben in den Staaten. Und irgendwie auch nach einem neuem Zuhause.
Austin Romeo
Geboren 1993 in Atlanta
Beruf: Hat einen Abschluss als Master of International Affairs (Hertie School of
Governance), derzeit freiberuflich tätig (u.a. Rocket Internet)
Wir schlendern vom Richardplatz in die schmale Kirchgasse, über das Kopfsteinpflaster vorbei am Denkmal Friedrich Wilhelms, vorbei an kleinen bunten Fachwerkhäusern mit ihren noch kleineren Gärten, den Hecken, den Magnolienbäumen. Austin zeigt mir sein Rixdorf, die alte Gemeinde böhmischer Flüchtlinge, die so sehr anders aussieht als alles andere von Berlin, dörflicher. Die Plätze, Parks und Bauwägen inmitten des Neuköllner Trubels zwischen Sonnenallee und Karl-Marx-Straße haben Austin schon früher fasziniert. Schon damals, als er noch im fernen Prenzlauer Berg im Osten der Stadt gewohnt hat.
Jetzt lebt er hier in einer Zweier-WG, ist Teil der dörflichen Gemeinschaft. Wo alle miteinander leben und einander leben lassen, nickt Austin dem Mann im Comenius-Garten zu, der nie zurück grüßt. Und liest aus dem hohen Gras des Gemeinschaftsgarten die Walnüsse für die Dame auf, die sich ständig über die neuen Coworking-Lofts aufregt, die irgendein Spinner für ein paar hippe Startups mitten zwischen die Bauernhäuser und Jugendstilfassaden geklemmt hat.
Gentrifizierung ist überall Dauerthema, auch hier. «Natürlich bin auch ich Teil des Problems», sagt Austin. Aber immerhin verhalte er sich nicht wie ein Arsch. Wenigstens versuche er, nett und achtsam, freundlich und unauffällig zu sein. Das sei der feine Unterschied, sagt Austin. So ließen sich auch scheinbar so unterkühlte und introvertierte Urberliner aus ihrer harten Schale hervorlocken.
Als Austin vor fünf Jahren aus Atlanta hierher kam, hatte er nur eine grobe Vorstellung davon, wie Europa ticken würde. Gemeinschaftlicher, aufgeschlossener, freier als die Staaten. Nicht ganz so egoistisch, materialistisch, kapitalistisch. Genauso wusste er in etwa, inwiefern er sich hier anders durch die Stadt bewegen würde als die anderen, die zum Besuchen und Suchen herkommen. Austin ist kein Backpacker, kein Clubmonster, kein Instagramer.
Die digitale Sucht der Leute macht Austin traurig. «Legt doch mal eure verdammten Telefone weg und achtet darauf, was in dieser Stadt passiert», sagt er. Austin ist eher analog unterwegs, eher minimalistisch. Und dazu passe Berlin sehr gut. Wir biegen in einen Hinterhof ab. Dort liegt ein Haufen Kinderspielzeug in und um einen Sandkasten herum. Direkt vor einem kleinen Café und einem Fetisch-Shop. Könnte auch ein Postkartenmotiv sein, Austin mag so etwas. Juxtaposition, wie er dazu sagt.
«Mir kommt es oft so vor, als sei ich statt an einen anderen Ort in eine andere Zeit gereist.» In den Eckkneipen wird nach wie vor geraucht wie bekloppt und die Leute tanzen zu Musik aus der Jukebox. Die Ämter schicken sich Faxe. Es gibt sogar noch Telefonzellen. Dort können die Leute super ihre Kaffeebecher abstellen. «Manchmal kommt es mir so vor, als würde mir jemand eine 1980er-Doku direkt in mein Bewusstsein streamen», sagt Austin. In den Achtzigern fühlt er sich gut aufgehoben.
Texte und Bild: Philipp Brandstädter