erschienen in der GEO 08/2019
Hamburger Hafengeburtstag, Hunderttausende Besucher. Und einer steht dumm rum. Oder sagen wir: logistisch unvorteilhaft. Auf der Fußgängerbrücke, die von der U-Bahn zu den St. Pauli-Landungsbrücken führt, ist im schlendernden Strom der Menschenmenge ein Mann mit beachtlicher Leibesfülle abrupt stehen geblieben. Er kramt sein Smartphone aus der Gürteltasche hervor, um den Pegelturm des Hafens zu filmen. Menschen werden langsamer, Menschen weichen aus, Menschen bleiben stehen. Menschen rempeln, einer aus Versehen, ein anderer mehr so absichtlich.
Ein zweistöckiger Baustellencontainer, einhundert Meter die Promenade hinunter. Eingepfercht zwischen Regalen, Aktenordnern, Computern und Mateflaschen, verfolgt eine Gruppe von Wissenschaftlern das Geschehen auf einem Monitor: Wo sich hinter dem Herrn auf der Brücke immer mehr Fußgänger stauen, überlagert eine farbige Wolke das Bild. Anfangs noch grün, dann gelb, jetzt tiefrot. Ähnlich einer Wetterkarte zeigt die „Heatmap“, dass sich da etwas zusammenbraut. Nämlich eine sehr dichte Menschenmenge.
Wäre dies der richtige Moment, um Sicherheitskräfte loszuschicken?
Spätestens seit der Loveparade in Duisburg kreisen diese Bilder im Kopf: zu viele Menschen auf zu wenig Raum. Sie verlieren den Halt, stürzen, oder werden hilflos gegen Wände und Zäune gedrückt. In Duisburg starben 21 Musikfans. Beim Hadsch in Mekka 2015 über 1800 Pilger. Und in Turin wurden 2017 bei einem Public Viewing 1500 Fußballfans verletzt, aufgeschreckt durch Feuerwerkskörper. Denn auch die Angst vor Anschlägen ist gewachsen. Bataclan. Nizza. Breitscheidplatz.
Wie verhalten wir uns?
Die Sicherheitskonzepte für Großveranstaltungen werden deshalb immer ausgefeilter. Dabei hilft es zu wissen: Wie verhält sich der Mensch in der Masse? Wann wird Gedränge gefährlich? Und wann entsteht Panik?
Fragen, die bisher erstaunlich schwer zu beantworten waren.
Feldexperimente zur Simulation von Gedränge: kaum möglich, weil hochgradig unethisch. Niemand darf im Dienste der Forschung Probanden gezielt in Panik versetzen. Wie sich Menschen in der Masse bewegen, in der Wissenschaft auch englisch „Crowd“ genannt, haben Katastrophenforscher bisher vor allem von kleineren auf größere Gruppen hochgerechnet; wie sie sich in Notsituationen verhalten, von historischen Tragödien abgeleitet. Der Großbrand im Beverly Hills Club. Das Flugzeugunglück in Ramstein. Die Tragödie im Fußballstadion von Hillsborough. Die Loveparade. Augenzeugenberichte sind dabei jedoch aufgrund ihrer oft verzerrten Wahrnehmung skeptisch zu betrachten. Sachlichere Analysen erlauben in jüngerer Zeit die vielen privaten Handyaufnahmen und der Einsatz von Überwachungskameras. Allerdings lässt sich selbst daraus nicht ablesen, wie viele Menschen sich gerade auf einem Quadratmeter drängen. Die Kameraperspektive trügt.
Doch neuerdings entwickelt sich die zivile Sicherheitsforschung zu einer eigenen, fachübergreifenden Disziplin. Auch im Hamburger Baucontainer sitzen Informatiker, Mathematiker, Psychologen, Sicherheitsberater und Juristen zusammen. Im Rahmen des deutsch-französischen Forschungsprojektes S2ucre entwickeln sie neue Sicherheitstechnologien für Großevents in „unübersichtlichen Umgebungen“. Dort also, wo das Gelände weitläufig ist, der Zugang nicht kontrollierbar: Marathons, Fanmeilen, Volksfeste. Der Hafengeburtstag ist dafür das perfekte Forschungsobjekt. Und die Fußgängerbrücke im Besonderen.
Die Crowd im Blick
„Hier kommt es immer wieder zu Gedränge, aber zum Glück passiert nichts Schlimmes“, erklärt Sascha Voth, den Blick auf die rote Wolke der Heatmap geheftet. Der Informatiker vom Fraunhofer Institut in Frankfurt braucht „eine gewisse Menschendichte“, um den Algorithmus der Heatmap zu trainieren: die erste videobasierte Technik, mit der sich die genaue Personenzahl pro Quadratmeter ermitteln lässt. Und zwar live.
Dazu haben Voth und seine Kollegen im Vorfeld das Gelände mithilfe von Drohnen kartiert, ein 3D-Modell erstellt und Videokameras installiert. Jetzt rechnet eine künstliche Intelligenz den Einfluss der Kameraperspektiven heraus und stellt die Menschendichte auf dem Videobild farblich dar. Auch auffällige Veränderungen im Bewegungsfluss der Fußgänger markiert sie.
So soll ein „Crowd-Manager“ zukünftig auf einen Blick sehen: Wo ist die Menge besonders dicht? Fließt oder stockt sie? Strömt sie schnell zusammen oder auseinander, weil etwas Ungewöhnliches passiert ist?
Gegebenenfalls kann er mithilfe der ferngesteuerten Kameras genauer hinschauen. „Ob eingegriffen werden soll, entscheidet immer noch der Mensch“, betont Voth.
Die Kameras liefern so hochauflösende Bilder, dass selbst XY zu erkennen ist. Aber kein Gesicht, dafür sind die Blickwinkel zu steil. „Gesichtserkennung ist bei uns ganz bewusst nicht gewünscht“, so Voth. „Wir wollen wirklich nur die Informationen nutzen, die wir für die Dichtemessung brauchen.“ Privacy by Design nennen das die Forscher. Und damit ihr Design auch mit der neuen Datenschutzgrundverordnung vereinbar ist, sitzen Juristen von der Goethe Universität in Frankfurt mit im Container.
Noch komplizierter dürfte der Datenschutz auf französischer Projektseite sein: Dort entwickeln Forscher in Zusammenarbeit mit der Pariser Polizeibehörde videogestützte Systeme, die verdächtige Aktivitäten und aggressives Verhalten melden sollen – und polizeilich bekannte Straftäter im Blick behalten.
Neben Voth bereiten Informatiker und Mathematiker von der Hochschule München schon den nächsten technischen Schritt vor: Beim kommenden Hafengeburtstag soll die Heatmap in eine Simulation übergehen, ähnlich wie der Wetterbericht in eine Vorhersage: Wie wird sich die Crowd auf der Brücke in den nächsten Minuten verhalten?
Dann könnten Ordnungskräfte schon eingreifen, bevor das Gedränge überhaupt eskaliert.
Beim aktuellen Stau gibt die Heatmap bereits Entwarnung. Der Mann, der den Fußgängerfluss aufgehalten hat, geht weiter. Die Wolke über dem Videobild wechselt von rot zu grün.
Was wäre wenn?
Massive Betonpoller rahmen den Hamburger Hafen ein, damit kein Lastwagen die Straßensperren durchbricht. Die Polizei zeigt Präsenz auf der Fußgängermeile. Ordner stellen sicher, dass die Notausgänge und Feuerwehrzufahrten frei bleiben. Und an allen Pontons, dass nicht zu viele Menschen ans Wasser drängen.
Florian Sesser erkundet das Gelände. Der 34-jährige Gründer von accu:rate, einem Münchener Start-up für Crowd-Simulation, hat das Programm entwickelt, mit dem die Heatmap verknüpft werden soll.
Zur Planung von Großveranstaltungen wie dem Oktoberfest oder der Hanse Sail ist es bereits im Einsatz: Auf der Basis virtueller Geländepläne simuliert es Besucherströme. Wie verteilen sie sich, wohin bewegen sie sich im Fluchtfall? So lässt sich durchspielen, wie ein Publikum schnellstmöglich evakuiert werden kann. Wie breit die Fluchtwege sein müssen. Wo man Notausgänge freihalten muss.
„Bisher können wir so etwas nur im Vorfeld einer Veranstaltung durchspielen, nicht während sie stattfindet“, so Sesser. Dazu braucht er die ständig aktualsierte Besucherdichte. Und viel Rechenkapazität.
Simulationsprogramme werden im Katastrophenschutz immer mehr an Bedeutung gewinnen. Konnten Einsatzkräfte bisher Übungen nur nach einem vorher festgelegtem Script durchführen, spielen Forscher die Auswirkungen von Anschlägen, Bränden, Naturkatastrophen und Seuchen auf Metropolen neuerdings auch am Großrechner durch. Dabei fließen nicht nur die lokalen Gegebenheiten mit ein, der Pixelbevölkerung sind auch unterschiedliche Verhaltensweisen einprogammiert: Manche Gruppen verlassen so schnell wie möglich das Gebiet, andere suchen Verstecke oder Krankenhäuser auf.
Auch Florian Sesser kann einige Eingeschaften seiner virtuellen Probanden verändern: Größe und Alter etwa, das beeinflusst die Gehgeschwindigkeit. Oder der Anteil von Familien. Wenn etwa an einem Sonntagnachmittag viele Eltern mit Kindern unterwegs sind, kann sich die „Entfluchtungsdauer“ verdoppeln.
„Aber vieles geht bei solchen Berechnungen noch im Gesetz der großen Zahlen unter“, sagt Sesser. „Dass jemand kopflos in die falsche Richtung läuft, kommt bei uns nicht vor.“
Zukünftig sollen jedoch auch psychologische Faktoren mit in die Simulation einfließen.
Die Macht der Masse
Gesine Hofinger, Gründerin des Team HF, Human Factors, steht auf dem Forschungscontainer und beobachtet Leute. Niemand scheint sich im Gedränge unwohl zu fühlen, niemand hat es eilig. Die Besucher schlendern, ändern ihre Richtung, bleiben stehen, kramen in ihren Taschen, werden zu Hindernissen. Sie lassen sich treiben und lassen sich locken. Von angenehmen Gerüchen und bunten Lichtern.
Hofinger analysiert ihre Bewegungen. Sie weiß, welche Bühnen und Buden die größten Besuchermagnete sind und wie man mit dem Ansturm auf sie umgeht. Etwa, dass man die zurzeit so beliebten Handbrot-Stände besser um neunzig Grad versetzt aufbauen sollte, damit die Warteschlangen davor nicht stören. Ein besonderes Augenmerk hat sie auf Gruppen. Deren Bewegungen zu verstehen, könnte die Simulation von Menschenströmen wesentlich verbessern.
„Gruppen bleiben zusammen“, so die Psychologin. „Sie suchen gemeinsam Schutz oder fliehen gemeinsam. Auch wenn das im Ernstfall wertvolle Zeit kostet.“
Aber wer gehört zusammen? Eltern mit ihren Kindern, Junggesellentruppen im Partnerlook lassen sich leicht erkennen. Andere Gruppen nur an ihren Bewegungsmustern im Gedränge. Drei oder vier Personen bilden eine Art V-Form, noch mehr eine Raute. Sie schaffen eine Art Keil nach vorn. Als strömungsoptimierter Wellenbrecher, sozusagen.
Um möglichst reibungslos aneinander vorbei kommen, organisieren sich Menschen verblüffend gut selbst: Bei Gegenverkehr halten sie sich rechts, beim Durchqueren von stehendem Publikum bilden sie Ketten, gegen den Strom laufen sie diagonal.
Aber ab einer gewissen Dichte berühren sich die Menschen, selbst wenn niemand drängelt. Dann übertragt sich Kraft von einem Körper zum nächsten, und viele kleine Bewegungen addieren sich zu einer mächtigen Kraft.
„Ab sechs Menschen auf einem Quadratmeter wird es kritisch“, weiß Gesine Hofinger aus Videoanalysen der Loveparade. Das bedeutet: Atemnot, Quetschungen, Rippenbrüche.
Nicht für jeden, denn die Menge als solche wogt in Wellen hin und her und kann so die enormen Kräfte halbwegs verteilen. Bis die Wellen auf Hindernisse stoßen, ein Nadelöhr wie der Tunnel auf der Loveparade. Doch auch mitten in der Menge kann es zu plötzlichen Turbulenzen kommen, zu „Crowdquakes“, wie der Physiker Dirk Helbing, einer führenden Erforscher von Crowd-Dynamiken, anhand der Love Parade nachgewiesen hat. Solche „Menschenmassen-Beben“ erhöhen den Druck schlagartig.
Aus Forschersicht ist das Unglück von Duisburg daher ein trauriges Beispiel für Crowd-Physik – und nicht für eine Massenpanik, wie die Veranstalter zunächst behauptet hatten.
Massenpanik ist ein Mythos
Den Begriff Massenpanik benutzen Wissenschaftler nur ungern. Die Menschenmenge, die sich, wie von einem Virus der Hysterie infiziert, in eine rücksichtslose rasende Herde verwandelt, tritt eher im Kino auf als im echten Leben. „Menschen sind weder irre noch irrational“, so Gesine Hofinger.„Es wäre evolutionstechnisch auch unsinnig, wenn wir uns bei der nächsten Gefahr über den Haufen rennen.“ Kooperation in Notlagen erhöhe die Überlebenschancen für alle.
Augenzeugenberichte, Befragungen und Videoanalysen aus jahrzehntelanger Katastrophenforschung belegen: Wir suchen und wir helfen uns.
Auch andere Muster wiederholen sich. Ältere Menschen schätzen Notfälle durch ihre Erfahrung besser ein als junge. Frauen reagieren tendenziell ängstlicher, rufen nach Hilfe, warnen andere. Männer geben sich eher gelassen und meinen, die Situation im Alleingang zu bewältigen. Weniger Gebildete folgen den Anweisungen von Einsatzkräften eher als Akademiker.
Und ganz allgemein gilt: Im Ernstfall reagieren viele Menschen zu langsam.
Etwa am 11. September 2001. Nachdem das erste Flugzeug in das World Trade Center gerast war, warteten viele im Gebäude zunächst ab, was ihre Kollegen tun würden, sie telefonierten, beendeten Emails, gingen noch zur Toilette, zogen sich um. Im Schnitt vergingen sechs kostbare Minuten, bevor sie sich auf den Fluchtweg machten.
Der Brite John Leach, Autor des Buches Überlebenspsychologie, hat festgestellt, dass bis zu 75 Prozent aller Menschen in einer lebensbedrohlichen Situation keinen klaren Fluchtgedanken fassen können: Deshalb retten sie sich nicht aus brennenden Häusern oder von sinkenden Schiffen. Sie denken nicht daran, den Notruf zu wählen, sie übersehen Fluchtwege.
Denn Extremsituationen sind so selten, dass wir dafür keine erprobten Handlungssmuster haben. Also verlängert sich die Reaktionszeit. Hinzu kommt die Angst. Zunächst schärft sie die Sinne, dann aber droht sie uns zu überwältigen: Körper und Geist sind wie gelähmt, Informationen können nicht mehr verarbeitet werden.
Deshalb ist es wichtig, sich schon vorher zu überlegen, was im Ernstfall zu tun ist. Im Flugzeug die Sicherheitshinweise beachten, in fremden Gebäuden oder bei Veranstaltungen die Notausgänge registrieren. Überlebende seien nicht mutiger, beobachtet Leach, sondern einfach besser vorbereitet. (Wir könnten zur Geschichte einen kurzen Info-Kasten mit Sicherheitstipps stellen)
Wissen, wo’s lang geht
Der Hafen wirkt bereits wenig herunter gelatscht. Die Leute haben ihren Müll fallen lassen und sind über die rotweißen Absperrbanderolen getrampelt. Ein paar junge Männer sitzen sichtlich angeknockt neben ihren Schnapsfläschchen auf dem Boden. Der Junggesellenabschied war lang. „Leider geben viele am Eingang ihre Eigenverantwortung ab“, bedauert Gesine Hofinger.
Die vielen Sicherheitsinformationen beim Hafengeburtstag nehmen sie nicht wahr. Die Wegmarkierungen, die Info-Säulen mit Lageplänen und Fluchtwegen. Eine Besucherbefragung von Team HR und Florian Sesser zeigt: Familien sind am besten informiert, sie haben das größte Risikobewusstsein.
„Die meisten anderen machen sich wenig Gedanken über ihre Sicherheit“, sagt Sesser. „Wer Angst hat, kommt vermutlich gar nicht erst.“ Erstaunt habe ihn allerdings, wie vielen seiner Gesprächspartner schon einmal in extremem Gedränge mulmig geworden ist.
Mehr als jedem zweiten.
Text und Bild: Philipp Brandstädter
Quellen:
Dietrich Ungerer, Ulf Morgenroth: Zivilschutzforschung. Analyse des menschlichen Fehlverhaltens in Gefahrensituationen, Bd. 43, 2001. S. 14 ff
Katja Schulze, „Situationsbezogene Helferkonzepte zur verbesserten Krisenbewältigung“, FU Berlin 2017, S. 13 ff.
Dirk Helbing: „The Walking Behaviour of Pedestrian Social Groups and Its Impact on Crowd Dynamics“, Plos One 2010
Annika Frische, BBK: „Panik in großen Menschenmengen“. Bevölkerungsschutz, 2010.
Stiftung Risiko-Dialog: „Das Verhalten der Bevölkerung in Katastrophen und Notlagen“, St. Gallen 2014. S. 19 ff.