im Habichtswald

Kassel City Hike

erschienen im Walden Outdoor-Magazin Nr. 4, 2016

Von Nostalgie vernebelt schauen wir auf das Tal hinab. Ich und der nackte Typ mit der versteinerten Mine, den hier alle nur Herkules nennen. Wir gucken am Neptunbassin, dem Fontänenteich, dem Schloss und der jahrhundertealten Gartenkunst vorbei auf die Stadt und staunen uns wortlos an.

Der Bergpark Wilhelmshöhe ist ein gern besuchter Rückzugsort für alle Kasseler, Kasselaner und Kasseläner, wenn sie mal abschalten müssen. Wenn ihre Huskies in der Eissporthalle oder ihr KSV im Auestadion wieder einmal ein Heimspiel vergeigt haben. Oder wenn sie sich wieder einmal zu oft anhören mussten, dass ihre Stadt nur eine von alliierter Konsequenz planierte und pragmatisch wieder aufgebaute Unzumutbarkeit sei, die alle fünf Jahre mit den Relikten einer zeitgenössischen Kunstausstellung gespickt wird, weil den Schrott sonst keiner haben und für dessen fachgerechte Entsorgung niemand aufkommen wollte.

Unter Herkules und mir die Stadt. Drei Stunden bin ich schon durch den Bergpark getingelt. Bin bis zur Endhaltestelle Wilhelmshöhe gefahren und habe mir dann die Bauten und Seen und Grotten, die Teufelsbrücke, das Aquädukt und die Löwenburg angesehen. Dann die gefühlten zehntausend Stufen an den Kaskaden hinauf zum Herkules, dem Wahrzeichen der Stadt. Die Bergparkbesucher treten bereits ihren Heimweg an. Fußball gucken. Oder im Garten grillen, sicherheitshalber unterm Balkon oder Pavillon. Denn der Himmel zieht sich allmählich zu.

Von Herkules in den Wald

Mir ist die Gegend durchaus vertraut. Aber weiter hinaus als bis zur sorgfältig gepflegten Gartenkunst der Wilhelmshöhe bin ich nie gewandert. Der Herkules ist bislang immer Ausflugsziel gewesen, nie der Startpunkt. Dabei erstreckt sich hinter ihm der Habichtswald. Ich will ihn in einem größeren Bogen bis zum Silbersee durchstreifen, entscheide ich mit einem Blick auf eine Wandertafel. Ein Badesee mitten im Wald, im Schutze eines verlassenen Steinbruchs klingt verlockend.

Zugegeben, mir wird ein bisschen mulmig. Schließlich lernt doch jedes Kind: Wenn ein Gewitter aufzieht oder die Sonne untergeht: ab nach Hause. Für gewöhnlich tritt man den Heimweg an, anstatt schnurstracks in den Wald hinein zu schlurfen. Aber genau das ist mein Plan. Ich möchte der Stadt und ihren Bewohnern entfliehen. Auch hinter dem Park im Habichtswald zwischen Kassel und seinen Nachbarorten, Bundesstraße und Autobahn ist eigentlich nicht allzu viel Platz für unberührte Natur. Findet auch Google Maps, bevor mein Handy bei seiner vergeblichen Suche nach einem GPS-Signal den Geist aufgibt.

Vor mir die Wildnis

An einem sonnigen Sonntagnachmittag gehören die vorbildlich ausgeschilderten Waldwege noch den Spazierfamilien. Jetzt aber, bei Dämmerung und unbeständigem Wetter, gehört das Terrain mir allein. Auf den letzten Metern in den Wald kommt mir noch ein ergrauter Jogger entgegen, der mich und den dunkler werdenden Himmel skeptisch im Wechsel mustert. Er ist der letzte Mensch, den ich an diesem Tag zu Gesicht bekomme. Hinter mir die Lichter der Stadt, vor mir die Wildnis.

Der Wald riecht nach feuchtem Moos und Matsch und den frisch geschlagenen Festmetern, die sich in Reih und Glied am Wegesrand stapeln. Zwei wärmeverliebte Mücken umschwärmen mich. Ich bilde mir ein, es seien immer dieselben, über Kilometer hinweg. Dann geht die Welt unter. Es blitzt, es grollt, eine kurze Windböe rauscht durch die Baumwipfel – und schon fängt es an zu schütten. Die Mücken fliehen unter ein Ahornblatt ihrer Wahl und ich bin froh, nicht ganz so herkulesnackt auf der Wilhelmshöhe zu sein.

Ich zerre meine Regenjacke und eine Plane aus meinem Rucksack hervor, stelle mich an einem Rastplatz unter und checke meine Ausrüstung: Hängematte, Regenklamotten, Stirnlampe, Proviant, Kamera. Ein Zelt habe ich mir gespart. Schließlich bin ich nicht im Nirgendwo, sondern halbwegs vor der Haustür. Wenn das Wetter so gar nicht mitspielt, muss ich eben wieder zurück. Doch Minuten später bricht die Sonne wieder durch die Wolken. Und ich habe sie ganz für mich allein.

Schwer zu verlaufen

Der Kasselsteig zieht sich auf rund 160 Kilometern einmal um die Stadt. Seine erste Etappe verläuft durch den Habichtswald. Dort gibt es am Wegesrand etliche kleine Seen und Sehenswürdigkeiten zu begucken. Die Igelsburg, die Grabmäler der Künstlernekropole, die ein paar Freaks errichtet haben, um sich irgendwann dort bestatten zu lassen.

Auf dem Asphalt bis zum Waldhotel Elfbuchen kann man sich nicht wirklich verlaufen. Erst danach beginnt die Natur und führt auf matschigen Trampelpfaden hinein in den Märchenwald, wo das Gros der Grimmschen Sagen entstanden sein soll. Manche von ihnen werden bis heute in einer Waldhüttensiedlung am Hang des Hühnerbergs nachgespielt. Ich überlege kurz, ob ich rotzfrech eine dieser Hütten als Nachtquartier wählen sollte, bis ich bemerke, dass eines der Häuschen bewohnt ist. Die Tür steht offen, harziger Rauch steigt aus dem Metallrohr am Wellblechdach empor – und ich feige Nuss traue mich nicht, wenigstens mal anzuklopfen.

Eine knappe Stunde später stehe ich am Silbersee. Behauptet jedenfalls ein Wegweiser. Ich kann nur weit und breit weder Ufer noch Wasser entdecken. Bis ich merke, dass ich direkt davor stehe. Der Silbersee ist klatschgrün und nicht silber. Seine Wasseroberfläche lückenlos von Entengrütze und Gräsern bedeckt. Ein Reiher verharrt regslos im Schilf. Ich werde ihm seinen Platz nicht streitig machen. Ich drehe mich um – und traue meinen Augen nicht.

Good old sundown

Der Sonnenuntergang an der Lichtung des Waldes verschlägt mir den Atem. Für wenige Sekunden werden der Hügel und die davor liegenden Felder in ein so verkitschtes, unwirkliches Gold gepresst, dass ich nur ungläubig den Kopf schütteln kann. Ich opfere den heiligen Augenblick der vernünftigen Entscheidung, das letzte Tageslicht zu nutzen, um mein Lager aufzubauen.

Entsprechend dahingepfuscht präsentiert sich schließlich meine zwischen zwei Buchen geknotete Schlafkonstruktion aus Hängematte und Moskitonetz. Professionell geht anders, aber dafür bin ich fix. Fixer jedenfalls als ich mir im Dunkeln die Kontaktlinsen aus den Augen pfriemeln kann. Verrichteter Dinge werfe ich mich zufrieden in die Matte, mache mir im Lichtkegel meiner Stirnlampe noch ein Feierabendbier auf und schnippe mir lässig eine Zecke vom Handrücken. Die Sache mit dem schützenden Blutsaugernetz hätte ich vielleicht doch vorher mal üben sollen.

Ich krame in Erinnerungen. Willst du Hustle, komm‘ nach Kassel, scherzte damals ein Freund, als ich aus Berufsgründen hierher zog. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mit der Stadt warm wurde – auch wenn sie so viel schöner ist als ihr Ruf. Die ersten paar Wochen habe ich nur gearbeitet und geschlafen und bin am Wochenende sofort nach Hause. Dann hat mich die Stadt gepackt. Zuerst ihr Nachtleben. Die Bars auf der Friedrich-Ebert-Straße, die Konzerte im Schlachthof, die Abstürze in den Clubs. Drei bis vier Stunden Schlaf mussten von nun an reichen. Ich denke an meine Mitbewohner Johannes und Tina, unsere WG-Partys, unsere Küchengespräche. Ob ich heute Nacht ein Auge zu kriege?

Tiere und Kirmes

Ein Kauz krakeelt in den Wipfeln, der Wind trägt bruchstückhaft die Neunzigermucke einer Dorfkirmes aus dem Tal hinauf, ein Motorrad prollt die B irgendwas entlang. Der Regen setzt wieder ein. Nieselt mir durch das Netz hindurch aufs Gesicht. Am Geräusch der Tropfen auf den Blättern versuche ich noch zu erkennen, ob und wann mein Nachtlager von den Fluten fortgespült wird. Dann sinke ich in einen traumlosen Schlaf.

Zur blauen Stunde hämmert mich schließlich ein Buntspecht aus der Hängematte. Ich sortiere mich. Die Klamotten feucht von Tau und Niesel, eine Schnecke hat sich in meiner Bierdose verkrochen. Die Stunden, die hinter mir liegen: unwirklich. Sonst alles in Ordnung.

Der Wald, die Grabstätte, die Hexenhäuschen, der See – und dann dieser Sonnenuntergang. Und vor allem: diese herrliche Einsamkeit. So ein abendlicher City Hike ist ein greifbares Abenteuer. Irgendwie schön zu wissen, selbst in Stadtnähe ein Stück Wildnis für sich zu haben. Einfach, weil nicht jeder bereit ist, die paar Schritte mehr zu machen als die Masse. Ich packe meine Sachen und trete auf müden Beinen den Heimweg an. Am Blauen See wasche ich mir Gesicht und Füße, dann lasse ich mich irgendwo im Norden der Stadt vom Wald ausspucken.

Hinter meiner Sonnenbrille verstecke ich mich vor der Sonntagslaune der Gassigeher, Brötchenholer und Spielplatzkinder. Mein Zustand ähnelt dem der Clubgänger, die sich nach durchfeierter Nacht auf ihren reuevollen Heimweg vorbereiten. Genau wie sie freue ich mich wie blöd auf eine Dusche und mein Bett. Wir sind erschöpft, etwas dunnhäutig, aber glücklich.

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