Sebastian Meschenmoser

Sebastian Menschenmoser: „Prinzessin Lillifee, furchtbar“

erschienen in der taz am Wochenende am 30. April 2021

Er gestaltet Kinderbücher, die auch Große mögen. Sebastian Meschenmoser übers Huhn Chick und Michael Ende, das N-Wort und Geschlechterstereotype.

Wir treffen uns in Meschenmosers Atelier am Berliner Park Hasenheide. An den Wänden hängen Bilder in Arbeit, Öl auf Leinwand: menschenleere Freizeitparks, wo Kojoten mit Tentakeln kämpfen und Affen auf Dinoskeletten klettern. Dino- und Affenfiguren stehen neben Pflanzen auf den Fensterbänken, wir kippen uns eine French-Press-Kanne Kaffee rein.

taz: Herr Meschenmoser, in Ihrem nun schon fünfzehnten Kinderbuch sprengt ein Huhn die Rollenbilder, weil es vom Hahnsein träumt. Ist eine Coming-of-Age-Trans-Hühner-Geschichte ein gefälliges Kinderbuchthema, das sich gut verkauft?

Sebastian Meschenmoser: Das Buch heißt ja nur „Chick“ und nicht „Chick ist trans“. Man kann es als lustige Kindergeschichte lesen. Aber ich hoffe natürlich, dass es darüber hinaus ein bisschen zum Nachdenken anregt. Man könnte sich fragen: Was ist für mich vorgegeben? Allein schon durch den Namen, den mir meine Eltern ausgesucht haben. Wie prägt mich das für mein Leben? Wenn ich das zu genau thematisiere, erreiche ich nur Eltern, die das ihren Kindern ohnehin schon vermitteln. Aber auf diesem Weg kann ich jemanden erreichen, der einfach nur ein Hühnerbuch lesen möchte – und vielleicht trotzdem eine Diskussion anregen.

Den Fotos auf Ihrem Instagramaccount kann man entnehmen, dass die geflügelte Emanzipation auf einer wahren Geschichte beruht.

Größtenteils. Wir haben tatsächlich Hühner zu Hause großgezogen, sie wohnen mittlerweile auf einem Schulgelände. In der Nähe wohnt auch der Stadtfuchs, der im Buch vorkommt. Und tatsächlich hat er einmal den Stall überfallen und die Hühner in Stücken verteilt. Aber das wollte ich den Kindern im Buch nicht zumuten.

Was ist aus Chick geworden?

Die neuen Hühner leben jetzt in einem gesicherten Stall. Dazu gibt es eine Voliere mit Außenbereich – plus Schulgarten für viel Auslauf zum Scharren und Gucken und Picken. Dort lebt auch Chick, die heute eine schöne, schwarze Henne ist. Die Schulkinder erleben sie, füttern und pflegen sie, machen den Stall sauber. Sie sammeln die Eier, backen daraus Waffeln, nehmen den Kreislauf wahr, wo Lebensmittel herkommen. Viele Kinder haben dort gar keinen Bezug mehr zur Natur. Dafür haben sie sehr krass klassische Rollenmuster. Die Mädchen wollen Stewardess werden, die Jungs Fußballspieler.

Aus Rollen ausbrechen und seine eigene Persönlichkeit finden – das haben Sie auch in früheren Büchern thematisiert. Zum Beispiel beim gar nicht so bösen Wolf, der sich als die Mutter der sieben Geißlein verkleidet, mit Kleid, Make-up und Klopapierrollen als Hörner.

Ja, das kann der Wolf gut. Ich glaube, der mag das einfach. Im Märchen sind die Rollen ja immer klar verteilt: Der Wolf ist der Böse und die jungen Mädchen verkörpern die Unschuld. Bei mir ist das anders. Weil ich gern persifliere und es ja auch wirklich furchtbar einfach ist. Ich drehe einfach die Rollen um. Rotkäppchen ist fies drauf und der Wolf ist total nett zur Oma. Oder der Wolf hat eigentlich einen Putzfimmel und räumt bei den Geißlein auf.

Welche Botschaft wollen Sie in Ihren Geschichten vermitteln?

Vordergründig gar keine. Wenn man das direkt vor hat, hat man schon versagt, das kenne ich aus der Kunst. Ich will höchstens zum Nachdenken anregen und Fragen aufwerfen, mehr nicht. Ich mag es nicht, eine Aussage festzunageln, sondern will lieber zu Diskussionen anregen. Ich möchte Geschichten schreiben, die den Kindern Spaß machen und an denen sie wachsen. Ältere sollen in derselben Geschichte neue Dinge für sich entdecken. Ein Kinderbuch braucht mehrere Ebenen. Schließlich müssen die Eltern das ja auch zehntausend Mal lesen und Gefallen daran finden.

Inzwischen sind Sie selbst Vater. Welche Geschichten will Ihr Sohn zehntausend Mal hören?

Das kann ich noch selbst entscheiden, er ist erst 14 Monate alt. Bücher mit Klappen mag er gern. Ich mag Bücher mit schönen Bildern. Wenn mir der Text zu holzig ist, erfinde ich einfach einen besseren. Ich lese jeden Abend sechs Bücher. Da suche ich mir aus, welche Geschichten ich vorlesen will. Die doofen sortiere ich heimlich aus.

Malen Sie auch schon mit ihm?

Ich habe schon Stifte besorgt. Letztens hat er mit einem Bleistift auf Papier herumgekritzelt. Da war ich natürlich sofort stolz und dachte: Der Junge hat einen verzwirbelten Draht gemalt! Mein Sohn ist begabt! Ich habe große Lust, mit ihm gemeinsam zu malen, auf großen Papierbögen, vielleicht bald im Atelier. Aber hier sind überall Lösungsmittel und Ölfarben – und das Kind findet mit einer erstaunlichen Präzision immer sofort die gefährlichen Dinge. Ich möchte auch Geschichten für ihn schreiben. Schließlich nehme ich die Welt durch meinen Sohn noch einmal anders war. Er beißt in einen Tisch und ich erinnere mich: Stimmt, so hat das geschmeckt. So hat sich das Holz an den Zähnen angefühlt.

Werden Sie Ihrem Sohn in Zukunft bestimmte Kinderbücher vorenthalten?

Ja! Prinzessin Lillifee finde ich furchtbar. Es kann sein, dass solche Bücher mal bei uns auftauchen, weil wir sie geschenkt kriegen. Aber die würden dann wohl auf wundersame Weise wieder verschwinden.

Was ist mit Büchern, die nicht mehr zeitgemäß sind?

Ich sehe Bücher nicht als Spielzeug an, sondern als etwas, das man gemeinsam erlebt. Man sollte immer begleitet lesen. Es gab ja bei Pippi Langstrumpf die berühmte Diskussion. Auch bei Jim Knopf kommt das N-Wort vor, weil Herr Ärmel das benutzt. Aber der ist sowieso ein Idiot. Trotzdem ist Michael Ende deshalb sicher kein Rassist, im Gegenteil. Ich bin dafür, dass man Texte entsprechend ändert. Oder in einem Vorwort schreibt, dass es sich um eine historische Ausgabe mit alter Sprache handelt, die erklärungsbedürftig ist. Auch Kinderliteratur ist Literatur.

Welche Bücher haben Sie enttäuscht?

Die Comics, die ich in den 80ern gelesen habe, waren alle sexistisch. Diejenigen, die die Abenteuer erleben, sind die Männer. Donald Duck, Lucky Luke und so weiter. Daisy bindet sich nur ihre rosa Schleife ins Haar und beschwert sich am Ende, dass Donald ihr keinen Schmuck mitgebracht hat. Wie scheiße ist das. Aber genau das sind die Muster, die ein Kind subtil lernt. Dennoch habe ich sie als Kind gern gelesen, aber ich war ja auch ein kleiner Junge und weiß nicht, wie sich das für kleine Mädchen anfühlt. Die Geschichten müssen ja auch nicht schlecht sein, aber es liest sich heute eben anders.

Und das wollten Sie besser machen?

Darüber habe ich zuerst nicht nachgedacht. Ich habe schon immer gemalt. Als Kind habe ich mit Tesa Bilder zusammengeklebt, später für die Schülerzeitung gezeichnet. Mir wurde immer gesagt, man könne damit kein Geld verdienen. In der Kleinstadt an der Mosel, in der ich aufgewachsen bin, gab es, wie in jedem Dorf, einen Dorfkünstler. Der lief in meiner Erinnerung immer im Poncho herum und gab eben das Bild ab, das man von einem Künstler hat. Und der konnte natürlich nicht von der Kunst leben, weil irgendwann jeder eines seiner Weinbergbilder gekauft hatte. Trotzdem wollte ich immer zeichnen und habe mich dann entschieden Kunst zu studieren.

Haben Sie dort Ihre typische Art zu zeichnen gelernt?

Ja, das ist dieser naturalistische, skizzenhafte, kritzelige Stil. Der ist ungewöhnlich für Kinderbücher. Vielleicht hat das den Leuten gefallen, weil es einfach mal etwas anderes war. Es erscheinen ja 8.000 Kinder- und Jugendbücher pro Jahr in Deutschland. Wahrscheinlich muss man sich ein bisschen abheben. Außerdem hat mich Ausmalen immer genervt. Auch deshalb sind meine ersten Bücher sehr sparsam koloriert.

Dafür überzeugen die Bilder durch die Mimik ihrer Figuren – und das Gefühl, das in ihnen steckt. Was können Sie nicht malen?

Pferde sind schwierig. Weil die so absurd viele Knochen in den Beinen haben. Diese komplizierten Beine, diese langen Gesichter, daran sitze ich ewig. Pferde sehen so unrealistisch aus. Illustratoren zeichnen Pferde deshalb gern im hohen Gras, dann sieht man die Füße nicht. Das ist ein schäbiger Trick. Niemand malt Pferde in der Wüste. Deshalb hat man sich Kamele ausgedacht. Die gibt es gar nicht wirklich. Die sind nur dazu da, damit man keine Pferde zeichnen muss.

Es hat ja auch ohne Pferde einigermaßen geklappt. Waren Sie überrascht von Ihrem Erfolg?

Davon waren alle überrascht! Ich hatte Glück, dass sich mein Verlag getraut hat, Kinderbücher zu veröffentlichen, die kaum Farbe enthalten und krakelig gezeichnet sind. Die Geschichten waren irgendwie merkwürdig, aber man wollte es ausprobieren. Und auch jetzt ist es wieder schön, dass der Verlag bei dem Hühnerbuch mitgemacht hat. Ich bin dankbar, dass ich als beinahe Querschläger sonderbare Formate ausprobieren darf.

Hatten Sie keine Strategie im Bezug auf das, was auf dem Buchmarkt gerade beliebt ist?

Nein, da gab es kein Kalkül. Weil ich nie gedacht hatte, dass ich überhaupt Erfolg hätte. Ansonsten hätte ich anders gezeichnet und gefälliger geschrieben. Prinzipiell schreibe ich die Bücher für mich selbst. Wenn mir das gefällt, denke ich, dass das anderen auch so gehen könnte. Nur ein paar anderen. Es ist ja nicht so, dass ich damit Riesenverkaufszahlen erziele. Aber wenn ich einige wenige Leute erreiche, dann freut mich das schon ungemein.

Wüssten Sie heute genauer wie der Buchmarkt und die kaufkräftigen Zielgruppen ticken?

Nein, den Geschmack kennt auch niemand. Die heutigen Eltern sind anders, wir haben einen ganz anderen Zugang als früher. Wir sind mit den Simpsons und den Muppets aufgewachsen. Wir haben Spaß an anderen Sachen. Wir schauen „Spongebob“. Wer hätte denn gedacht, dass jemand eine Trickserie mag mit dem langweiligsten Tier auf der ganzen Welt, nämlich einem Schwamm? Das gucken unter Umständen auch Erwachsene, wenn sie die Stimme aushalten.

Wie sehr Kind muss man sein, um Kinderbücher zu schreiben?

Ich habe wahrscheinlich genug kindliche Eigenschaften dafür. Ich kaufe mir immer noch gern Plastikdinosaurier und tue dann so, als bräuchte ich die für meine Arbeit. Ich lese immer noch Kinderbücher und schaue gern die „Muppetshow“. Oder „Adventure Times“. Großartig! Überhaupt glaube ich nicht an das Konzept des Erwachsenseins. Wo ist denn hier bitte jemand erwachsen? Die tun doch alle nur so. Manche kaufen sich statt Dinosauriern halt Whiskey.

Welche Bücher haben Sie nicht erst heute zu schätzen gelernt, sondern schon als Kind geliebt?

Wimmelbilder habe ich gemocht. Oder auch „Ich bin der kleine Hase“ von Richard Scarry. Das habe ich mir erst kürzlich noch einmal angesehen und gemerkt, dass ich unterbewusst den Stil einiger Bilder daraus in meine eigenen Bücher eingebaut habe.

Das Kinderbuch, das mich am meisten geprägt hat, ist eins von Ihnen. Da war ich allerdings schon um die 30. Dort verliebt sich der Igel – und muss feststellen, dass er sich versehentlich in eine Drahtbürste verguckt hat. Der Schock der Desillusionierung kommt mir bekannt vor.

Ja, das passiert. Wir haben so unsere Vorstellungen eingetrichtert bekommen. Irgendwann entsteht da dieses rosa Bild von einer Person und man denkt sich: Wow, das ist sie! Und dann kommt die große Enttäuschung. Das haben viele schon selbst erlebt, ich auch.

Wer war Ihre Drahtbürste?

Ach, da gibt es viele. Mit einigen Drahtbürsten bin ich heute befreundet.

Sie erzählen Geschichten aus Ihrem eigenen Leben und zeichnen sich auch mal selbst als Holzfäller oder Hühermutter in Ihre Bücher hinein …

Ja, ich verstecke mich dort gern. Ich tauche in fast allen Büchern auf. Autoren sind ja sonst eher unsichtbar, mal im Vergleich zu Schauspielern. Ich finde es aber wichtig, den Kindern zu zeigen, dass da jemand Lebendiges dahinter steht. Dann denken sich manche Kinder vielleicht: Okay, das kann ich auch versuchen. Ich lasse dadurch einen greifbaren Realitätsbezug entstehen.

Müssen Sie den auch jenseits der Bücher herstellen? Über soziale Netzwerke zum Beispiel?

Schon, aber da bin ich nicht besonders gut drin. Ich bin ja auch angeblich schon 40. Ich könnte dort mehr tun, bewegte Bilder posten anstatt nur Fotos von Hühnern. Ich würde aber nie mein Privatleben zur Schau stellen. Die Hühner sind zwar privat, aber nur ein gezielter Ausschnitt. Meine Familie wird nie zu sehen sein. Aber die Netzwerke sind ein schönes Medium, um auf meine Arbeit aufmerksam zu machen.

Früher war auf Ihrem Instagram-Account ein bisschen mehr los. Hat sich Ihr Leben stark verändert in diesen irren Zeiten?

So sehr habe ich die Veränderung zuerst gar nicht wahrgenommen. Im Januar 2020 wurde unser Sohn geboren, da ist man automatisch in einer Art Shutdownsituation. Da sieht man ohnehin nicht so viele Leute. Und nun durften wir das auch gar nicht, das war in dem Fall ganz entspannend. So konnten wir uns auf den neuen Menschen einstellen, den es vorher noch gar nicht gab. Dann wurde es mit der Zeit aber anstrengend, weil wir die Großeltern nicht besuchen durften oder andere Freunde mit Kindern. So viele Möglichkeiten fielen weg. Ohne Krabbelgruppe oder Familienzentrum ist es schwieriger, das haben wir gemerkt.

Hatten Sie als Künstler Schwierigkeiten?

Da habe ich Glück gehabt. Ich hatte keine Ausstellungen geplant, konnte einfach weiter im Atelier malen. Ich bin weiterhin um 9 Uhr hierher gekommen, habe diese schmutzigen Klamotten angezogen. Die sind für mich wie ein Superheldenkostüm, die bringen mich sofort in den Arbeitsmodus. Ich war außerdem froh, dass die Buchläden als systemrelevant eingestuft wurden und geöffnet blieben. Es ist eine gute Sache, Bücher zu kaufen und Läden zu unterstützen, die es wegen Amazon sowieso nicht leicht haben. Aber mir tun die Leute im darstellenden Gewerbe leid. Ich kenne einige Puppenspielerinnen und Puppenspieler. Die haben Totalausfälle, denen geht es übel.

Wäre Corona ein geeignetes Thema für das nächste Kinderbuch? Eine Figur, den Tapir, haben Sie ja immerhin schon von oben bis unten in Klopapierrollen eingekleidet.

Da war ich wohl vorausschauend. Wobei ich selbst als letztes auf die Idee gekommen wäre, mich mit Klopapier einzudecken. Wenn ich jetzt ein Coronabuch anfange, wäre ich vielleicht rechtzeitig zur sechsten Welle fertig. Ein besseres Thema wäre die Spanische Grippe. Das ist historisch. Es würde mehr ins Bewusstsein rücken, dass Pandemien immer wieder aufkommen. Sie sind ein bewährtes Mittel der Natur gegen eine parasitäre Spezies. Und genau das sind wir ja für diesen Planeten. Wir benehmen uns total daneben, breiten uns immer weiter aus und machen die Welt dabei kaputt. Was wäre, wenn es die Natur noch ernster mit uns nehmen würde? Durch einen multiresistenten Darmvirus zum Beispiel. Dass das kommt, ist klar. Wir wissen nur nicht, wann. Die Frage ist nur, ob wir daraus lernen.

Interview und Bild: Philipp Brandstädter

Der Mensch: *1980 in Frankfurt/Main, in Bernkastel-Kues bei Trier aufgewachsen, Studium an der Akademie für Bildende Künste in Mainz. Mit 22 Jahren wurde er mit seinem Bilderbuch „Fliegen lernen“ erfolgreich – und mit der Illustration von Michael Endes „Unendliche Geschichte“ bekannt.

Das Buch: „Chick“, gerade erschienenes Bilderbuch über eine Coming-of-Age-Trans-Hühner-Geschichte. Im März 2021 im Thienemann-Verlag erschienen.

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