veränderte Fassung, ursprünglich erschienen in der GEO 04/2016, nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2016, Kategorie „Freier Reporter“
Am schlimmsten Tag liegt das, was noch von ihr übrig ist, in meinen Armen und hört nicht mehr auf zu weinen. Sie fühlt sich fremd an. Als wäre sie zerbrochen. Sie riecht nach Hunger, Verzweiflung – und diesem abartigen Fruchtkaugummi. Würde ich es wagen, ihr ins Gesicht zu sehen, ich würde kaum mehr die Frau erkennen, in die ich mich vor sieben Jahren Hals über Kopf verliebt habe.
Ihre Stimme ist mir noch vertraut. Sie sagt: Ich kann nicht mehr.
Ich weiß nicht mehr, wann die Krankheit da war. Vielleicht fing es an, als sie sich nicht mehr in Kleidergröße 38 gefiel. Vielleicht, als sie begann, Kalorientabellen auswendig zu lernen. Oder, als sie jeden Tag joggte und sich zu Pilates-Videos auf dem Teppich dunkelrote Fransenabdrücke in die Unterarme turnte.
Wir kochten vegan. Sie züchtete Kresse, pürierte Macadamianüsse zu Sahnesoße, knetete Seitanmatsch zu Steaks. Was hätte ich an einem bewussten Lebensstil aussetzen sollen?
Kurz darauf war ihr Wunsch nach einem gesunden Leben dem Wunsch nach Selbstzerstörung gewichen. Plötzlich waren nicht nur alle Tierprodukte, sondern auch alle Fette und Kohlenhydrate tabu und nur noch ein paar Gemüsesorten erlaubt, die sie mit literweise heißem Malzkaffee hinunter schüttete.
Jetzt sitzt sie auf meiner Couch, das verrotzte Taschentuch in der einen, die leere Halbliterflasche Cola Zero in der anderen Hand. Studiert die Nährwerttabelle auf dem Etikett, null, null, nochmal null. Zwei Bubblemint zwischen den Kiefern mahlend, schlägt sie die knochigen Knie im Viervierteltakt gegeneinander, Tränen im Gesicht, Wut im Bauch und nicht ein einziges Wort im Raum.
Sie hat die Kontrolle verloren und ich habe keinen Schimmer, wie das geschehen konnte. Wer sich verlaufen hat, merkt es erst, wenn es zu spät ist.
Das Projekt
Die Magersucht beginnt als Idee. Als Projekt, das Zeit und Mühe in Anspruch nimmt und Unglück in Glück verwandeln soll. Dann spielt sich der Hunger in den Vordergrund. Erst bereitet er Schmerzen, aber auch Bestätigung. Denn Menschen mögen schöne Körper. Menschen schätzen Disziplin.
Irgendwann beginnen Menschen skeptisch zu gucken. Die einen aus Neid, die anderen aus Sorge. Sie sind überrascht – und sie schenken Aufmerksamkeit. Der Körper verändert sich. Wenn er seine Ressourcen verpulvert, kann er verdammt viel leisten. Einmal im Tunnel, läuft der Organismus wie von selbst. Wie im Rausch.
Dann verengt sich der Fokus. Der Alltag ragt nicht mehr über den Tellerrand hinaus, alles dreht sich ums Nichtessen. Der Hunger ist omnipräsent, verschleiert Gefühle wie Angst oder Liebe. Der Blick in den Spiegel verzerrt das Selbstbild. Bis es schließlich keine Option mehr ist, einfach aufzuhören.
Die Freunde sind ratlos und machen sich rar, die Familie erkennt die Not nicht. Schleichend lähmt die Müdigkeit, die Kraft schwindet. Bis auf dem Weg zur Arbeit der Kreislauf kapituliert. Jemand holt ein Stück Traubenzucker auf der Tasche und sagt: Iss mal was, Mädchen.
In der Klinik
Das Theodor-Wenzel-Werk in Berlin-Zehlendorf ist ein von Wald und Park und Stadtvillen umsäumtes Backsteinlabyrinth. Hinter Pappeln und Eichen versteckt, fügt sich die Klinik unbeachtet in das immergrüne Idyll.
Glasfassaden, Siebziger-Jahre-Charme. Umso auffälliger die gespenstischen Laufstegmädchen, die in knielange Pullis und Wallewalle-Tücher gehüllt auf der Potsdamer Chaussee zwischen „Bio Company“ und Psychiatrie hin und her staksen. Von früh bis Ausgangssperre. Um eine Packung Kaugummi zu besorgen oder eine Flasche Wasser. Aber immer, um ein paar Kalorien zu verbrennen.
In der Abteilung für psychosomatische Medizin und Psychotherapie stehen 17 Betten mit besonders weichen Matratzen, damit sich die Gespenster aus Haut und Knochen nicht an ihren eigenen Gerippen wund reiben. Für Angehörige, die den Mädchen durch die verwinkelten Wege der Klinik bis auf Station 9 folgen, endet der Weg in einem vom Personal überwachten Flur, in dem es nach Bohnerwachs und Filterkaffee riecht.
Die Bewohnerinnen nennen diesen Ort die „Bahnhofshalle“. Meistens sitzen einige von ihnen um einen Zeitschriftenstapel herum und halten sich an überdimensionalen Teetassen oder Wärmflaschen fest, stricken Wollsocken und warten. Auf Besuch. Auf Kaugummis. Darauf, dass alles wieder gut wird.
So wie Isa, die bis zu ihrem Zusammenbruch mit 89 Cent pro Woche auskam, weil sie sich, in ihrem Zimmer eingeschlossen, nur noch von ein paar Heidelbeeren und sieben Litern Wasser am Tag ernährte. Binnen sechs Monaten hat sie es geschafft, 30 Kilo Körpergewicht zu verlieren. Oder Julia, die schon 15 Jahre lang zwischen Fressanfällen und Magersucht pendelt. Für Julia ist es die zweite Klinik. Die erste hat sie als hoffnungsloser Fall entlassen. Durch einen Plastikschlauch tropft milchiges Kalorienkonzentrat in Julias Bauch. Sie hat ihre Sonde „Dieter“ getauft.
Meine Freundin sieht sich um, dann mich an – und schmunzelt. Immerhin ist ihr der Galgenhumor geblieben. Monatelang hat sie den Hunger bestimmen lassen. Sie hat sich ihm mit Stolz und Leidenschaft hingegeben. Ihm gezeigt, wie gut sie ihn aushalten kann. Bis sie sich nur noch gesalzenes Popcorn und gefrorene Himbeeren erlaubt hat.
Doch am Ende waren die Anstrengungen zu groß. Die Müdigkeit, der Alltag und der Druck von außen, der sie spüren ließ: So, wie du jetzt bist, bist du nicht liebenswert. Also hat sie den Entschluss gefasst, die Verantwortung abzugeben. Bis hierhin. Und wie weiter?
Anorexia Nervosa
Ich drücke ihr ihren Rollkoffer in die Hand und einen Kuss auf die tränennasse Wange, dann folgt sie einer Schwester, ohne sich noch einmal umzusehen. Für das nächste halbe Jahr wird die Klinik ihr Zuhause sein. Soweit habe ich es also kommen lassen. Teilnahmslos habe ich beobachtet, wie sie sich von 60 auf 48 Kilo herunter hungert. Hätte ich sie davor bewahren können? Und wie? Und von welchem Zeitpunkt an? Der Schall von ihren müden Schritten lässt die Ratschläge meiner Freunde nachklingen: Sieh zu, dass du Land gewinnst, bevor sie dich mit in den Abgrund reißt.
An jenem Tag bin ich mir sicher, dass es das gewesen ist zwischen uns. Was Liebe war, ist nun eine Krankheit. Im verflixten siebten Jahr habe ich meine Freundin an das Kalorienzählen, das ständige Wiegen und den Süßstoff verloren.
Am liebsten hätte ich die „Bahnhofshalle“ zusammen gebrüllt und jedes einzelne dieser egozentrischen Klappergerüste durchgeschüttelt: Welches Problem habt ihr, verdammt, hätte ich gerufen. Wie kann man denn bitteschön zu bescheuert zum Essen sein?
Aber so einfach sind die Dinge nicht. Und wer die psychische Erkrankung mit der weltweit höchsten Sterblichkeitsrate als kindische Dummheit abtut, ist, nun ja, kindisch und dumm.
Seit den 1970er Jahren ist Anorexia nervosa (zusammen mit anderen Essstörungen) eine anerkannte und öffentlich bekannte Erkrankung. „Anorektisch“ ist, wer weiter als 15 Prozent unter der Grenze zum Untergewicht liegt und dies selbst und willentlich herbeigeführt hat. Die Betroffenen: vor allem Frauen. Die Altersgruppe: wird jünger. Die Ursachen: verflucht komplex.
Manchmal liegt es an biologischen Faktoren. An den Genen, an einer Stoffwechselstörung etwa. Oft spielen familiäre Einflüsse eine Rolle. Magersüchtige haben häufig frühkindliche Kuscheldefizite in der Familie erlebt. Ihnen gelingt es nicht, ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln. Und immer gibt die Wohlstandsgesellschaft einen entscheidenden Stups in den Hunger. Weil Schönheitsideale, Leistungsdruck und Perfektionismus vor allem eines bewirken: das Gefühl von Unzulänglichkeit.
Aber kämpfen nicht die meisten jungen Menschen beim Erwachsenwerden um ihren Platz in der Welt? Warum trägt nicht jeder eine Essstörung davon? Die Forschung hat keine Antwort darauf.
Die eigene Prägung
Aber ich hätte es wissen müssen. Ich bin vorgeschädigt. Weil ich bunte Cornflakes und Scheiblettenkäse auf Buttertoast so sehr mochte, wurde ich von Mitschülern und Sportlehrern als Fettsack gemobbt. Mit meiner Schwester habe ich daher schon in der Grundschulzeit um die Wette gehungert – um dann wiederum bei nächtlichen Fressanfällen Muttis Backzutaten zu plündern. Unzulänglichkeit: unser zweiter Vorname.
Papa legte viel Wert darauf, ein korrektes Oberschichtenbild zu präsentieren, dem niemand gerecht werden konnte. Weder mein Vater, noch der Rest der Familie. Der enorme Druck, frei von Problemen und Makeln zu wirken, als sich selbst treu zu sein, hat auch mich geprägt. Als Sohn, als Freund, als Partner. Sind mit mir alle zufrieden, dann bin ich es mit mir auch.
Aber trotz bester Voraussetzungen hat es nur zu einem leichten Dachschaden gereicht. Von einer ernsthaften Essstörung blieb ich verschont.
Kein halbes Jahr, nachdem ich mich von meiner ersten essgestörten Freundin getrennt hatte, lernte ich sie kennen. An ihrer Seite habe ich alle Signale einfach übersehen. Ja, schon, zu viel, zu wenig, zu fleischlastiges Essen war ein Thema. Und dass sie so viel Sport trieb, imponierte mir eher als dass es mich beunruhigte. Nach dem Sandmännchen keine Kohlenhydrate mehr? Geschenkt.
Wenn es Probleme zwischen uns gab, dann wegen der Leistungsansprüche von ihr und ihrer Familie. Immer aktiv sein, immer engagiert, immer sportlich. Gut ist, wer viel auf Achse ist, viel arbeitet und mit Bestnoten überschüttet wird. Es ist nicht so, dass mir das elitäre Denken als gesundheitsgefährdend erschien. Doch ich hatte Angst, nicht mithalten zu können. Ich hätte es besser wissen müssen.
„Der Leidensdruck muss hoch sein.“ – Christian Thiele, Chefarzt
„Angehörige fühlen sich trotz besten Willens oft hilflos“, sagt Christian Thiele, der Chefarzt der psychosomatischen Abteilung im Theodor-Wenzel-Werk. Damit die Betroffenen Gewicht gewinnen, sei es unumgänglich, die Not hinter der Magersucht zu ergründen. „Die Askese hat bei den Betroffenen eine stabilisierende Funktion.“ Es koste deshalb viel Überwindung, sich für eine Behandlung zu entscheiden.
„Essgestörte haben sich die Kontrolle über ihren Körper erarbeitet und halten sie für die Lösung ihrer Probleme. Eine Therapie löst Angst vor dem Kontrollverlust aus. Jedes Hilfsangebot erscheint wie eine Überwältigung. Da muss der Leidensdruck schon hoch sein, bevor sich die Betroffenen an uns wenden.“ Zu Thieles Abteilung nehmen junge Frauen erst dann Kontakt auf, wenn sie die Folgen ihres Untergewichts nicht mehr im Griff haben. Den Schwindel, die Konzentrationsschwäche, das Frieren.
So wie sie ihrem Wahnsinn mit Hungern begegnet, so begegne ich meinem mit Schreiben. Wenn mir die Dinge zu viel werden, beobachte ich sie aus der Perspektive einer dritten Person: als unbeteiligter Protokollant.
Sieh zu, dass du Land gewinnst, bevor sie sich mit den Abgrund reißt, haben die Freunde gesagt. Ich kann nicht. Es ist doch nicht ihre Schuld, verdammt. Es ist ihre Krankheit. Ich bleibe. Ich schreibe.
Die Therapie
Wir telefonieren. Es gibt Kunst- und Musik- und Bewegungstherapien. Sie mag Töpfern. Und Specksteine. Mehr als die Stuhlkreise jedenfalls. Was soll eine Essgestörte schon Essgestörten über ihre Essstörung berichten, nörgelt sie. Und die Psychologen hörten immer nur zu, anstatt zu erklären, wie man geheilt wird. Zeitverschwendung.
Klinik ist ätzend. Wir wissen beide, dass die erste Phase einer Therapie erst einmal alles schlimmer macht. Wir ahnen nur nicht, wie schlimm. Doch sie ist kein Mensch, der hinschmeißt. Gesund werden muss schwer fallen, sagt sie. Sonst wäre es ja keine Leistung.
Außerdem gehört sie vielleicht doch auf diese Station, sagt sie. Denn sie fühlt sich immer noch zu dick. Auch wenn inzwischen kein Kleidungsstück mehr in ihrem Schrank hängt, in dem sie nicht versinkt. Sie ist im Internet auf den Begriff „Körperdysmorphie“ gestoßen: eine Störung der Körperwahrnehmung, bei der scheinbare Makel überbewertet in den Vordergrund rücken. Wenn ihre Sinne schon die Wirklichkeit des eigenen Körpers verzerren, meint sie, welche Wirklichkeiten dann noch? Am anderen Ende der Leitung höre ich sie langsamer denken.
Freitags kochen die Frauen selbst, ansonsten kümmert sich die Großküche. Auf dem Wochenplan steht unter jedem Essen die Kalorienzahl, nur auf Station 9 fehlt sie. Daher schleicht sich jeden Montag eine Patientin in die Küche und fotografiert den Originalplan.
Frühstück, Mittag, Abendbrot – in der Gruppe noch schwerer als allein, findet sie.
Am Tisch versuchen sich die Frauen gegenseitig beim Nichts-essen zu unterbieten. Und sowieso vergehe ihr der Appetit, wenn das Mädchen am Nebentisch von Heulkrämpfen geschüttelt eine Gurkenscheibe in 16 Teile schneidet. Sechzehn. Die ersten Tage in der Klinik isst sie weniger als je zuvor. Und verliert weitere zwei Kilo.
Sie erzählt mir von den Frauen auf ihrer Station. Eine setzt sich nie, sondern steht immer. Am liebsten am offenen Fenster, weil Frieren Kalorien verbrennt. Eine andere aß monatelang nur die Essensreste ihrer Mitbewohnerin, weil sie glaubte, kein frisches Essen verdient zu haben. Und die Zimmergenossin mit den geplatzten Adern in den Augen und den von Magensäure zerfressenen Zähnen rennt ständig aufs Klo rennt und erzählt, sie hätte ihre Bulimie schon seit Jahren überwunden.
Essgestörte krümeln gern
Sie will raus. Sie möchte nicht an der Seite von Kranken noch kränker werden. Die anderen seien doch viel schlechter dran. Viel kaputter. Viel dünner.
Zweimal in der Woche ist Wiegetag. Die Station kommt dann noch deprimierter daher als sonst. Entweder, weil die Bewohnerinnen abgenommen haben, was sie nicht dürfen, aber gern wollen. Oder, weil sie zugenommen haben, was sie sollen, aber nicht verkraften.
Sie bringt noch 43 Kilo auf die Waage. Ihre Leukozyten sind im Keller, sagt die Ärztin. Bei einem BMI unter 16 sei das normal. Ebenso wie es die verminderten Reflexe sind. Sollte sich eine Infektion anbahnen, muss sie sich umgehend melden, da ihr Immunsystem nicht in der Lage wäre, Gegenwehr zu leisten. Alles nicht ungewöhnlich.
Neu ist die heftige Laktose-Intoleranz, die sich ihr Körper während der veganen Jahre angeeignet hat. Die anderen Patientinnen sind neidisch. Wer laktoseintolerant ist, hat einen medizinischen Grund, auf Essen verzichten zu dürfen.
Vier Mädchen sitzen auf der schmalen Doppelcouch im Aufenthaltsraum vor der Glotze und gucken einen Disney-Film. Wir tauschen ein paar verstohlene Blicke und unbehagliches Schweigen, als ich mir am Esstisch einem Schwapp Vollfettmilch in den Kaffee kippe. Lightprodukte sind auf der Station tabu. Auf dem Boden knirscht es schlimmer als in meiner versifften WG-Küche. Essgestörte krümeln gern. Was vom Teller fällt, landet nicht auf den Hüften.
Ich folge ihr auf ihr Zimmer. Grußkarten, Familienfotos und ein riesiger Blumenstrauß auf dem Tisch durchbrechen die klinische Kälte. Sie ärgert es, dass alle sie möglichst schnell wieder normal funktionieren sehen wollen. Aber die Aufmerksamkeit gefällt ihr. Nichts in ihrem Leben habe ihr so viel Beachtung beschert wie die Magersucht, sagt sie.
Auf dem Laufsteg
Einmal gehen wir mit drei anderen Mädchen in ein Café. Sie sind in Ponchos und Schals und Stulpen gehüllt und wärmen ihre Hände an den Kaffeekübeln. Die Leute schleppen ihre Einkaufstaschen an unserem Tisch vorbei. Und gaffen. Manche entzückt. Die meisten entsetzt. Ja, schaut sie euch nur an, eure Schönheitsideale, will ich ihnen hinterher rufen. So sieht man aus, wenn man in eure Size-Zero-Jeans hineinpassen möchte. Aber natürlich bin ich zum Pöbeln zu feige.
Vielleicht trägt unsere Gesellschaft ihren Teil zum Körperwahn bei. Mit ihren Regeln, Beziehungskisten und Erdbeer-Spargel-Diäten. Mit ihrer Modeindustrie, die Frauen mit einem BMI unter 18 nicht auf den Laufsteg lässt.
Im Bus nach Zehlendorf sitzt ein Mädchen im pinkfarbenen Anorak neben mir, ein Bibi-und-Tina-Fotobuch auf ihrem Schoß. Zielsicher blättert sie zu einer bestimmten Seite. Eine Frau im Brautkleid ist darauf zu sehen, in goldblonder, gertenschlanker Makellosigkeit. Das Mädchen fährt mit dem Finger über die Konturen der Braut. Sie streichelt die Frau. Das Kleid, ihre Haare, minutenlang. Irgendetwas läuft hier falsch. Die nächste Haltestelle ist meine.
Sicherlich: Der paradiesische Überfluss unserer westlichen Kultur macht Essstörungen erst möglich. Wir können meistens frei entscheiden, welche Nahrung wir zu uns nehmen – und wie viel davon. Manche essen gesund, manche politisch korrekt, manche kostengünstig. Manche stopfen sich voll, um eine innere Leere zu füllen. Andere üben Verzicht, weil sie ihren Körper nach einer bestimmten Vorstellung formen wollen.
Doch wer einmal die selbstzerstörerische Wucht der Krankheit erlebt, weiß, dass hier nicht von einer Modekrankheit die Rede ist, die eine Handvoll orientierungsloser Teenies mal kurz auf die schiefe Bahn geraten lässt.
„Der Wunsch nach Selbstbestimmung einerseits und gleichzeitigem Anlehnungsbedürfnis andererseits treibt Jugendliche in die Magersucht“, sagt Christian Thiele. Zwei Drittel aller Mädchen würden sich nicht gefallen, hätten schon Diäten ausprobiert.
Verzicht macht stark
Magersüchtige aber hungern nicht oder nicht nur, um schön zu sein, so Thiele. Sie hungern nicht, um einen Kampf mit ihrer Umwelt aufzunehmen. Sie nehmen einen Kampf mit sich selbst auf, der im Verzicht auf die Befriedigung aller Bedürfnisse gipfelt. „Der Stolz über diese Leistung verschafft den Betroffenen ein vorübergehendes Hochgefühl. Doch das ist mit der Gesundheit auf Dauer nicht vereinbar.“
Was dabei in den Köpfen der Betroffenen genau vorgeht, lässt sich nur vermuten.
Die Ursache könnten frühkindliche Beziehungsstörungen sein. Wie wir als Kleinkinder gehalten, getragen, gelegt, zurückgelassen werden. Wird uns die körperliche Nähe entzogen, so können wir den Zugang zu unserem Körper verlieren. Die typische Magersüchtige bedient dadurch das Klischee eines hölzernen, wenig intuitiven Menschen ohne Verständnis für Sinnlichkeit. Man spricht vom so genannten Pinocchio-Syndrom.
An den Wochenenden stehen weder Therapiegespräche noch Kurse auf dem Plan. Sie und ich haben mehr Zeit füreinander. Je mehr Alltag wir vortäuschen, desto bewusster wird mir, wie meilenweit entfernt ich von meinem Lieblingsmenschen bin – und dem Wunsch, ihm nah zu sein. Und wie schmerzhaft es ist, ihn gegen sich selbst kämpfen zu sehen.
Sie rührt sich einen Löffel Puddingpulver und etwas Süßstoff in kochendes Wasser. Sie würde gern über andere Dinge als die Krankheit und die Klinik reden. Doch in diesen Tagen gibt es kein Leben jenseits davon. Also stürzen wir uns voller Masochismus in laienpsychologische Gespräche und bohren in unseren Wunden. Oder wie Herr Thiele sagen würde: Wir tendieren zur Gefühlsabwehr mittels Rationalisierung.
Vernünftige Gespräche ersetzen körperliche Nähe. Vor dem Badezimmerspiegel stehend erzählt sie mir von ihren Ängsten und Heimlichkeiten. Wie sie mit ihrem Hunger und dem Essen und der Maßlosigkeit ringt – und das schon als Kind getan habe. Wie oft sie sich von der besten Seite gezeigt habe, nur um mir und Freunden zu gefallen. Sie gebe ihrem Körper keine Stimme, sagt sie. Sie ignoriere ihre Bedürfnisse, lehne die Frau in sich ab, die Kurven, die Zerbrechlichkeit.
Noch 42 Kilo
Und als sie aus dem Bad kommt, nur mit einem Handtuch auf dem Kopf, kann ich sehen, wovon sie spricht. Vor mir steht ein verhungertes Neutrum, an dem sich jede Rippe, jeder Wirbel durch die pergamentartige Haut bohrt. Ich bin erschrocken, wie sich ein so vertrauter Körper in einen wildfremden verwandeln kann. Sie spürt meine Blicke. Sie legt den Kopf zur Seite, mustert mich kurz, dann wirft sie sich schnell etwas über. Am folgenden Wiegetag bringt sie nur noch 42 Kilo auf die Waage.
Auf Station 9 wird es nun ernst. Nach der Probephase beginnt das Zehn-Wochen-Programm – mit klaren Regeln und Strafen bei Verstößen. Die Patientinnen werden in unterschiedliche Stufen eingeteilt. Wer mindestens einen BMI von 16 hat, läuft unter Stufe 2 und muss 600 Gramm pro Woche zunehmen, sonst droht der Ausschluss aus dem Programm. In Stufe 1 landen Magersüchtige mit einem BMI bis 14,5. Sie müssen 700 Gramm zunehmen, haben Geländearrest und dürfen am Wochenende nur mit Begleitung vor die Tür. Stufe 0 ist für die Härtefälle: Sonde, Beruhigungsmittel, Bettruhe.
In der Woche, bevor das Programm beginnt, ist sie noch Kandidatin für Stufe 1. Wenn sie nicht weggesperrt werden will, müsste sie mal eben sieben Kilo zulegen. Das heißt: kurz vor dem Wiegen literweise Wasser trinken.
Dann der Zusammenbruch.
Sie hat 800 Gramm zugenommen – die Wasserkur nicht eingerechnet. Die Zahl erträgt sie nicht. Weinkrämpfe ersetzen den Schlaf. Sie scheitert an den Vorgaben, erhält die erste Verwarnung, dann eine Ausgangssperre für das Wochenende. Sie versucht die Ärztin zu überreden, ihr ein bisschen Radfahren zu erlauben, sie sei doch kein Kind. Die Ärztin überreicht ihr einen neonfarbenen Knautschball. Auf dem darf sie herum drücken, wenn sie sich langweilt.
In den Morgenstunden schleicht sie sich aus der Station. Heimlich ein paar Runden um den See joggen. Doch ihr Körper blockiert. Die verbrannten Muskeln versagen, die Bänder überreizen, sie humpelt zurück. Nachts kämpft sie mit Todesängsten. Sie fühlt ihren Puls, wie er auf 30 Schläge pro Minute herunterfährt. Sollte sie die Nacht überstehen, redet sie sich ein, fängt sie an zu essen. Aber als die Nacht überstanden ist, ist es so schlimm dann doch nicht gewesen.
Sie entschwindet nicht länger nur ihrem Körper. Sie entschwindet ihrem Geist. Sie will ihr altes Leben zurück, wimmert sie am Telefon. Bloß nicht noch ein Wochenende dem Wahnsinn dieser Station überlassen werden. Doch zunehmen kommt für sie momentan nicht in Frage: Sie habe es nicht verdient zu essen.
Ich habe es nicht verdient zu essen. Den Satz habe ich um die hundert Mal gehört. Ich habe ihn kein Mal verstanden. Ich kann sie nicht verstehen. Das ist doch irre. Wie kann ein kluger Mensch plötzlich an der einfachsten Sache der Welt scheitern.
Der Mensch, den ich liebe, ist nicht mehr da.
Mein Gefühl: eher Verantwortungsbewusstsein. Ich beobachte mich selbst dabei, wie ich der Tränen am Telefon überdrüssig werde. Ich verpasse immer häufiger die Bahn. Oder vertue mich mit den Besuchszeiten. Vielleicht versehentlich. Vielleicht traue ich mich nicht mehr hin. Die Notizen des Protokollanten fallen kürzer aus.
Sieh zu, dass du Land gewinnst, bevor sie dich mit in den Abgrund reißt. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Gehe ich mit oder lasse ich sie gehen? Darf ich ihr sagen, was ich fühle? Dass ich gerade nicht liebe, sondern mich nur noch an Liebe erinnere? Wie fühlt sich Liebe überhaupt an?
„Wenn es an sozialem Körperkontakt mangelt, vergrößert sich das Defizit umso mehr.“ – Martin Grunwald, Haptikforscher
Ich sitze zwischen Papierstapeln, Kaffeebechern und ulkigen Instrumenten neben Martin Grunwald und rauche sein Labor voll. Der Leipziger Haptikforscher studiert unseren Tastsinn.
Bei einem Experiment machte Grunwald eine interessante Beobachtung6: Er setzte eine Gruppe Probanden mit verbundenen Augen vor sein „Haptimeter“, ein Alugestell Marke Eigenbau mit zwei beweglichen Winkelarmen. Dann gab er mit dem einem Metallarm einen Winkel vor, den die Probanden erfühlen und mit dem anderen Arm nachstellen sollten. „Eine Person kam mit der Aufgabe überhaupt nicht zurecht“, murmelt Grunwald an seiner Holzpfeife vorbei. Sein Gesicht verschwindet einige Sekunden lang in weißen Rauchschwaden. „Eine junge Dame. Studentin. Schrecklich klug. Schrecklich dürr. Fahle Haut, flaumartige Körperbehaarung, riesige Hungeraugen.“
Der Haptikforscher vermutet, dass Magersüchtige magersüchtig sind, weil ihr Körperschema gestört ist. Das Körperschema ist das neuronale Abbild unseres Körpers im Gehirn. Es entwickelt sich beim Tasten, Bewegen und Berührtwerden zur Matrix im Gehirn, die unserem Bewusstsein nicht zugänglich ist. Ist diese gestört, so erleben die Betroffenen ihre körperliche Gestalt falsch – selbst wenn sie vor einem Spiegel stehen.
Das Körperschema lässt sich hinrphysiologisch messen. „Bei Männern wird es bereits vorgeburtlich angelegt“, erklärt Grunwald. Bei Frauen jedoch hemme das Östrogen die Entwicklung des Körperschemas. So ergebe sich ein Defizit, das durch den Kontakt mit Bezugspersonen später ausgeglichen werde. „Doch wenn es dann in der Kindheit an sozialem Körperkontakt mangelt, vergrößert sich das Defizit in dieser Hirnregion umso mehr.“
Grunwald spricht von Frauen, die den Kontakt zum eigenen Körper verloren haben und sich darum ganz auf ihren Geist konzentrieren. Die in tonnenweise Literatur versinken und die Schule und die Uni mit links abschließen, derweil sie ihren Körper auf Distanz halten.
Magersüchtige nehmen einfach nicht wahr, wie sie tatsächlich aussehen. Im Gespräch mit Martin Grunwald geht mir ein Licht auf. Nein, ich stehe wirklich nicht auf Magermodels. Aber ich umgebe mich gern mit cleveren, rationalen Frauen, die ihre Gedanken formulieren können, über ihren Gefühlen stehen und die Romantik mit Füßen treten. Ich mag Menschen, die so verkopft sind wie ich. Grunwald mustert mich und grinst. „Na, da haben Sie sich ja was eingebrockt.“
Im Neoprenanzug
Der Wissenschaftler hält nicht viel von den traditionellen Behandlungen. Warme Worte seien zwecklos. Er hat eine andere Form der Therapie entwickelt: „Wir stecken die Magersüchtigen mehrmals am Tag in einen maßgeschneiderten Neoprenanzug.“ Diese enge, zweite Haut sorgt dafür, den tatsächlichen Körper überdeutlich zu spüren. „So erkennt das Gehirn der Betroffenen nach und nach den Unterschied der zwischen dem verzerrt erlebten Körper und dem objektiv abgemagerten.“
Das ist noch Grundlagenforschung, so Grunwald, „aber die Therapie scheint zu wirken. Sie reorganisiert das Körperschema.“ Eine Studie an der Uni Salzburg untersucht zurzeit die Wirksamkeit per Hirnscan im MRT. Die Berliner Charité setzt die Anzüge in der Körpertherapie bei jugendlichen Patienten ein.
Sie vertraut mir viele ihrer Wahrheiten an. Auch die, von denen Partner besser verschont bleiben sollten. Sie trage zwei Rollen in sich, erzählt sie mir. Da ist die starke Frau, die alles unter Kontrolle hat, keine Hilfe braucht, erst recht keine Zärtlichkeit, und die am liebsten in Ruhe gelassen wird. An deren Seite habe ich schon einmal nichts zu suchen.
Und dann ist da noch das schwache Mädchen. Das geliebt und versorgt werden will. Doch dieser Wunsch macht sie verletzlich. Die starke Frau versucht das Mädchen zu beschützen. Und sperrt es weg. Je mehr ich mich bemühe, das Mädchen zu erreichen, desto ferner scheint sie.
Wagt es das Mädchen, Wünsche zu äußern – nach Trost, Lob, Liebe – dann kommt der Hunger ins Spiel. Sie sagt, dass sie essen will, wenn sie sich allein, traurig, leer fühlt. Doch das Essen stille den Hunger nicht. Und aus der Angst, immer mehr essen zu müssen, weil sich der Hunger einfach nicht stillen lässt, esse sie lieber gar nichts.
Ihr Hunger lässt sich nicht stillen, indem sie wieder ausreichend isst, das wissen wir beide. Doch zum Glück geht es nicht immer um die Heilung von Krankheiten und die Lösung von Problemen. Schmerz kann man auch lindern, wenn man ihn akzeptiert. Ängste verlieren ihre Wucht, wenn man sich ihrer Ursachen bewusst wird.
An diesem Tag rahmt sie ein Foto von sich hinter Glas und stellt es auf ihren Nachttisch. Das alte Schwarzweißbild zeigt ein kleines Mädchen, das im Garten spielt. Sie will das Mädchen nicht länger ignorieren.
Die Rückkehr
Wir frönen dem Trotz und gönnen uns ein Drop-it-Wochenende. Will heißen: Wir lassen uns fallen. Im Supermarkt räumt sie Knuspermüsli, Schokoriegel, Ofenkäse, Fruchtzwerge, Tiefkühlstrudel in den Wagen und kann gar nicht mehr aufhören zu kichern. Wir stopfen uns voll und arbeiten einen bösartigen Plan aus: Bei ihrem letzten Küchendienst auf der Station wird sie ihren Mädchen eine unsichtbare Kalorienbombe unterjubeln. Wir entwerfen einen sportlich anmutenden Heidelbeer-Joghurt-Smoothie, der im Dessertglas unbemerkt von sündhaften Butterkeksschichten durchsetzt wird.
Sie wirkt entspannter. Sie lächelt mehr. Sie sagt, sie habe ein paar Dinge in sich erkannt. Wer sie ist und wer sie nicht sein will. Was sie isst und was sie essen muss, um das Leben zu führen, das sie führen möchte. Die Erkenntnis ist nicht ihre Heilung. Aber vielleicht ein Schritt in die Richtung.
Sie fragt auch nach uns. Wir könnten doch ein Jahr Auszeit nehmen, meint sie, und uns in Südostasien neue Erinnerungen schaffen. Wir könnten über eine gemeinsame Wohnung nachdenken, nur mal so rein theoretisch. Vielleicht erst einmal zwei Wohnungen auf derselben Etage, mit Katzenklappen in den Türen. Sie traut sich Gedanken, die sie gestern noch abrupt mit „Ich kann das jetzt nicht“ abgewiesen hätte.
Nur ich muss noch eine Kleinigkeit entscheiden: Kann ich überhaupt wieder ihr Geliebter sein? Oder bleibe ich ihr bester Freund?
Du musst mich so nehmen, wie ich jetzt bin, sagt sie im Bus nach Zehlendorf. Warte nicht darauf, dass ich wieder so werde wie früher, das habe ich nicht vor. Wir müssen immer noch zwei Stationen vor der Klinik aussteigen. Sich so reglos faul mit den anderen Fettsäcken direkt vor die Türschwelle chauffieren zu lassen, das geht gar nicht.
Die Therapie im Theodor-Wenzel-Werk endet für sie, als sie gerade so beginnt, ihr Gewicht zu halten. Ihr wird eine leichte Depression diagnostiziert. Die Magersucht: deutlich gebessert, aber nicht geheilt. 43 Kilo sind zu wenig. So steht es auf dem Entlassungsschein, mit dem sie sich einen Therapeuten suchen soll, um in ein paar hundert Sitzungen ihre Persönlichkeitsstrukturen aufzubrechen. Die Neue auf der Station wuchtet für uns die schweren Türen auf. Sie ließen sich auch automatisch öffnen, aber das kostet keine Muskelkraft.
Sie sterben an aufgeschnittenen Pulsadern
Die Gewichtszunahme auf der Station sei nur ein vorläufiger, kurzfristiger Erfolg, erklärt der Chefarzt. Manchmal wirke er dauerhaft, manchmal erst beim zweiten oder dritten Klinikbesuch. „Die Hälfte der Patienten stabilisiert sich nach der Therapie, ein Viertel schwankt. Ein Viertel schafft es nicht.“ Thiele kennt Härtefälle, die von Klinik zu Klinik wandern; andere, die in betreuten Wohngruppen leben müssen. Anderen gelingt es, einsame Jahrzehnte mit der Krankheit zu leben.
„Sie können noch 30 Jahre so weitermachen, wenn ihnen das Freude bereitet“, hat eine Ärztin zu ihr gesagt. Wir kennen solche langzeitsüchtigen Menschen aus unserem eigenen Bekanntenkreis. Es sind Oberstudienräte, Lektoren, Schauspieler – klapperdürr, verbittert und einsam. Sie sagt, sie möchte nicht so werden.
Und ich möchte nicht mit so jemandem leben. Außerdem bin ich stolz auf meine Freundin. Weil sie die Kurve kriegen wird. Da draußen wartet ein Leben, das sie liebt. Ein Job, der ihr Spaß macht, Freunde, ihre Persönlichkeit, jenseits der Krankheit.
Kopfschüttelnd blättert sie in ihrem „Ess-Tagebuch“, das sie in der Klinik geschrieben hat. Liest nach, was sie gedacht, gegessen, gezeichnet, sich erlaubt und verboten hat. Wie irre das alles ist, sagt sie. Ein einziger Albtraum. Sie könne sich noch genau daran erinnern, wie sich die Frau in dem Buch gefühlt hat. Aber nicht mehr so recht, warum.
Eine von hundert Frauen und einer von tausend Männern leiden an Magersucht. Die Sterblichkeitsrate liegt bei 12,8 Prozent. Natürlich verhungern diese Menschen nicht im Wortsinn. Sie sterben an einer Sepsis durch Infektionskrankheiten, an Herz-Kreislauf-Versagen, an aufgeschnittenen Pulsadern oder einer Handvoll Tabletten.
Anorexia nervosa ist die tödlichste aller seelischen Erkrankungen. Besonders rückfallgefährdet sind Menschen mit Sportdrang. Zu ihnen gehört sie.
Früher ist sie fast jeden Tag laufen gegangen, um Gewicht zu verlieren. Heute verbringt sie viel Zeit im Fitnessstudio, um Muskeln zuzulegen. Es ist ihre Art, das Körperschema neu zu ordnen. Sie hat ihre Dämonen noch nicht besiegt. Sie hat ihnen erst einmal einen neuen Raum geboten, in dem sie wüten können, ohne ihren Körper hinzurichten. Immerhin.
Am schönsten Tag sitzen wir nach einer durchtanzten Nacht auf meinem Bett und essen eine Tiefkühlpizza. Als sei es das Normalste auf der Welt. Der Hunger ist kein unzähmbares Mysterium mehr, sagt sie. Aber gib‘ mir ein Zeichen, wenn ich irgendwann wieder in einen Tunnel rausche. Sie werde es vielleicht nicht rechtzeitig merken.
Wir wissen, dass unsere Zweisamkeit nicht selbstverständlich ist. Wir kennen die Zweifel. Trotzdem bleibe ich. Natürlich bleibe ich.
Text: Philipp Brandstädter
Quellen:
http://www.ednet-essstoerungen.de/