Homotaz

Verliebt, niemals verlobt

erschienen in der Homotaz am 7. Juli 2013, Felix-Rexhausen-Preis 2014, 2. Platz

Philipps Freundinnen mochte ich nie. Die konnten noch so nett sein, noch so witzig und bemüht um meine Anerkennung. Ich verachtete sie schlicht für das, was sie waren: die Frau an seiner Seite. Ich ging ihnen aus dem Weg. Doch jetzt war das unmöglich. Erstes Semester in Leipzig, Neustart, eigentlich. Philipp wohnt über mir, er ist mein bester Freund, und ich bin verliebt in ihn.

Acht Jahre ist das her. Die Nähe ist unerträglich. Früher auf dem Dorf konnte ich nur mutmaßen, wann er Frauenbesuch hatte, jetzt weiß ich es. Höre es. Kichern, Stöhnen, quietschende Betten. Ich will hochgehen, sie wegzerren, aus dem Fenster schmeißen.

Ich bin ein Meister geworden im Verbergen von Gefühlen. Im Verdrängen auch. Doch sobald eine neue Frau kommt, übernimmt das Herz die Kontrolle. Ich sage: „Noch so ein Blondchen.“ Es verletzt ihn. Also gibt es Ärger, mal wieder. Neun Monate halte ich die Nähe aus, dann ziehe ich ans andere Ende der Stadt.

Paul lehnt an meiner Badezimmertür und raucht. Wir haben uns gestritten und nichts mehr zu sagen. Weil von allem zu viel nicht immer das Beste ist. Verletzte Gefühle, verletzter Stolz, das macht stumm, das weiß jeder, der liebt. Aber Paul ist mein Freund, mein bester, nicht mein Freund, mein Partner. Zwar verbringe ich mit niemandem mehr Zeit, aber nicht so. Zwar leben wir zusammen, aber nicht so. So what?

Am Wochenende war Annett da. Wir haben die Wände rot angemalt, Obst und anderen Dekoschrott gekauft und peinliche Sexpausen mit Smalltalk überbrückt. Ich verliere mich in ihren Augen, ich will sie nicht mehr loslassen, ich vergesse die Zeit und alles um uns herum. Paul hat keinen Mucks von sich gegeben. Saß wahrscheinlich in seinem Zimmer und hat geraucht. Ist halt so ein Blondchen, hat er über meine neue Liebe gesagt. Das war alles. Und ich habe nicht verstanden, warum sich Paul nicht für mich freut, jetzt, da ich mich doch gerade freue. Ich bin sauer. Keinen Bock mehr auf Zugeständnisse, Kompromisse, Diplomatie. Also gibt es Stress.

Der sprachgewalttätige Freund

Vielleicht, weil Paul ein besonderer Freund ist, in allen Belangen. Der ungeduldige, vereinnahmende, sprachgewalttätige Freund. Der Freund, der etwas irre ist. Mit Paul habe ich Erinnerungen verdaut, neue Ideale erdacht, meine Zukunft geplant. Mit Paul habe ich Dummheiten gemacht. Paul hat mir Sorgen bereitet. Paul hat mich zum Nachdenken gebracht. Paul hat vieles auf den Kopf gestellt. Die Kleinigkeit, warum er sich nie für Mädchen interessiert hat – geschenkt.

Was bringt all die Gleichstellung, der gesellschaftliche Fortschritt, wenn man als 16-Jähriger in der fränkischen Provinz merkt, dass man Jungs interessanter findet als Mädchen. Es gibt keine schwulen Vorbilder, keine Offenheit, keinen Mut. Nur Versteckspiele. Ich bin anders, das merke nicht nur ich. Die gelegentlichen Schwuchtel-Rufe in den Schulgängen überhöre ich meist. Oder lächle sie weg. Ich verknalle mich ständig in meine Freunde. Der Klassiker. Und entknalle mich wieder. Weil es hoffnungslos ist.

Dann kommt Philipp. Es wird eine besondere Freundschaft. Eng, vertraut, zeitintensiv. Sein Haus ist meine zweite Heimat, mein Auto sein zweites Zuhause. Die ersten Konzerte, die ersten Joints. Musik, Filme, Partys. Ein rauschhaftes Leben. Es ist schön – und schmerzhaft, weil ich mich wieder verliebe. Seine erste Freundin sehe ich als Konkurrentin, die uns die Zeit stiehlt. Ich bin zickig, eifersüchtig, bösartig. Philipp duldet das und fragt nie nach. Jahrelang nicht.

Ich kenne Paul fast noch aus dem Sandkasten. Zwei Ossis im Frankenland, nicht ganz einfach, das Los. Wir haben Zeit geteilt, zu zweit, in der Clique, online. Vor allem in der Oberstufe. In der Schülerzeitung, auf Reisen, unter gleichen Gedanken. Sehr viel Zeit. Meine Eltern fanden das befremdlich. Paul hat dich wohl ein bisschen zu gern, was? Mir hat das wenig ausgemacht. Er ist mein Gefährte, verdammt. Ihn stoße ich nur dann zurück, wenn mir eine Umarmung zu lange dauert.

Paul fordert Zweisamkeit. Aber die gilt gerade Jenny, meiner ersten Freundin. Wir wollen Zeit für uns, ich bilde mir ein zu wissen, was Liebe ist, die Momente sind wertvoll. Paul sieht das nicht ein. Der Grund liegt auf der Hand. Doch unterschätze nicht die Macht der Verdrängung. Homosexualität ist für mich kein Thema. Das Mysterium „Mädchen“ ist universell, ich wage es gar nicht zu hinterfragen. Und deshalb benehme ich mich auch entsprechend mit Chauvisprüchen daneben. Alter, verschon mich bitte mit deiner Schwuchtelmucke. Ich denke nicht viel nach. Höchstens: Vielleicht ist Paul ja asexuell. Ein bisschen anders halt. Fragen stelle ich keine.

Cool, elitär und kleinkriminell

Nicht nur Philipp fragt nicht nach. Dabei müsste sich doch zumindest meine Clique wundern. Warum hat er keine Freundin? Warum schweigt er, wenn wir über Frauen reden? Warum guckt er Philipp so an? Ich bin Außenseiter, irgendwie besonders. Besonders komisch. Ich weiß, warum. Meine Freunde nicht. Für sie bin ich der leicht verrückte, elitäre, undurchschaubare Paul, der gerne mal verletzend ist, wenn er verletzt wird, was andere gar nicht als Verletzung erkennen. Ich lenke die Gespräche auf andere Bahnen, weg von Mädchen, Brüsten, Sex. Suche neue Themen, setze mich damit durch.

Wir sind zu viert in unserer Clique und halten uns für etwas Besonderes. Wir sind nicht diese Prolls vom Dorf, wir sind alternativ, ragen heraus aus dem Trott. Wir reden stundenlang über Politik und Medien und über das, was sein soll und sein wird. Wir lachen und rangeln und spielen und leben. Uns gehört die Zukunft. Wir sondern uns bewusst ab, aber meine Absonderung ist anders, sie ist nicht selbst gewählt. Es ist eine schöne Zeit. Trotz allem. Ich behalte mein Geheimnis für mich.

Vermutlich Paul zuliebe tauschen wir Titten und Trichtersaufen gegen Popkultur und Philosophie ein. Wir kiffen, um Joints drehen zu lernen, und lesen Bücher, um Anspielungen aus Filmen und Songs zu verstehen. Wir sind unvorstellbar cool, elitär und kleinkriminell. Jenny passt da nicht mit ins Konzept. An ihrer Seite erfülle ich das, was die Welt von mir erwartet. Meine Jungs erwarten mehr. Also führe ich zwei Leben. Herz neben Verstand, Körper neben Geist, Tradition neben Revolte.

Die Jungs und ich. Wir sind nicht anders als der Rest. Wir sind besser. Wir tun, was man auf dem Dorf so tun kann, plündern Supermärkte, bereisen Festivals, brechen Hausfrieden. Dann gehen die ersten beiden Jungs studieren. Paul und ich bleiben zurück. Aber Paul schafft es, die Freunde zusammenzuhalten. Dank seinem alten Ford Fiesta, dem kein Weg zu weit ist, und einem entwaffnenden Durchsetzungsvermögen.

Paul und ich, wir verschwenden unseren Feierabend. Lungern in den Kneipen herum, fahren durch die Dörfer, brüllen vor der Startbahn des Frankfurter Flughafens die landenden Maschinen an, jagen nachts im Auto Feldhasen auf dem gefrorenen Acker. Wir bereisen die Welt, gucken uns die großen Städte an, teilen uns ein französisches Bett im YMCA von Brooklyn. Wie das beste Freunde eben so machen.

Raus aus dem Dorf

Paul ist immer da für mich. Besonders, als mit Jenny Schluss ist. Paul zuliebe? Na ja, vielleicht, aber nicht wirklich. Gegen sie sprachen weitere Jahre auf dem Land, Familienpläne und die Panik vor Verantwortung. Für ihn sprachen die gleiche Berufsidee, die gleiche Stadt und die gleichen Partys.

Raus aus dem Dorf, rein in die Stadt. Es wäre der richtige Zeitpunkt gewesen. Es endlich zu sagen. Endlich zu leben und zu lieben. Jemand anderen. Doch meine Altlast kommt mit. Philipp und ich. Ich und Philipp. Wir wollen beide Journalisten werden, bekommen den Studienplatz in Leipzig. Wir suchen gemeinsam nach Wohnungen, finden zwei im gleichen Haus, übereinander. Ich zweifle, zeige es aber nicht. Für ihn ist es das Natürlichste der Welt. Für mich die Fortsetzung der Qual. So nah bei ihm. Aber noch immer mutlos. Habe Angst vor den Konsequenzen des Outings. Bilde mir ein, die Freundschaft mit Philipp, die so unendlich wichtig ist, würde das nicht aushalten. Würde zerbrechen. Und dann stünde ich am Ende ganz alleine da.

Anstatt ein neues Leben zu beginnen, bleibe ich beim alten. Ich habe mich so eingerichtet, bin vorbereitet. Habe Antworten auf die Fragen parat, die immer kommen. Kann Frauen charmant eine Abfuhr erteilen, ohne sie zu verletzen. Habe langsam gelernt, den Schmerz auszuhalten. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie es anders sein könnte.

Deshalb stehen wir da, in meiner Einraumwohnung im Leipziger Ghetto. Ich. Und Paul. Lehnt an meiner Badezimmertür und raucht. Paul zieht kurz darauf aus. In das Ghetto am anderen Ende der Stadt. Wir treffen uns mit ein paar anderen Freunden aus anderen Kreisen. Paul lernt neue Kumpelfreundinnen kennen. Manche mögen ihn, weil er polarisiert. Manche lieben ihn vergeblich und befürchten, es liegt an ihnen. Auch ich lerne neue Mädchen kennen. Manche können Paul gut leiden, manche nicht so. Manchmal haben wir mehr miteinander zu tun, manchmal nicht so.

Wir gucken uns ein paar eigene Wege aus, finden ein paar eigene Ziele. Ich bin Techno, er ist Pop, ich bin Club, er Kneipe, ich bin selbstsüchtig, er ist auf Suche, ich gehe schlafen, er macht durch, ich gehe zur HNA nach Kassel, er zur taz nach Berlin. Was immer bleibt, ist unsere Freundschaft. Und seine Fassade, die er auch in Leipzig nicht aufgibt. Vier Jahre lang. Nur für mich?

Also am anderen Ende der Stadt. Der räumliche Abstand tut gut. Ich frage nicht mehr zwanghaft nach, was Philipp so getrieben hat. Seine Abenteuer, seine Mädchen. Er versteht wohl. Das Thema wird ausgespart. Die Freundschaft bleibt. Sie normalisiert sich, und ich entliebe mich von ihm. Langsam, endlich.

Jetzt wäre der Weg frei. Doch ich habe mich zu tief eingegraben, zu sehr in Lügen verstrickt, zu lange geschwiegen. Ich habe Angst. Man würde mich für irre halten. Man würde mich fragen, warum erst jetzt. Dabei weiß ich das selbst nicht. Was würde Philipp denken, wie käme er damit klar, dass ich so ganz andere Gefühle für ihn hatte? Dann lieber Schweigen. Es ist irrational. Unerklärlich. Das Geheimnis bleibt. Ich habe den richtigen Zeitpunkt verpasst.

Dann, kurz bevor ich nach Berlin ziehe, kommt eine Frau in mein Leben. Ausgerechnet eine Frau. Sie verliebt sich in mich, ich mich in sie. Es ist verwirrend. Aber sie kann ich nicht lange belügen, dafür ist sie zu wichtig. Ich oute mich, mit 24. Es ist befreiend, es zu sagen. Ich bin schwul. Und noch mal: Ich bin schwul. Eine Lawine bricht los. Nach und nach sage ich es meinen Freunden. Beim Bier, einfach so. Rufe an, mache mir einen Spaß daraus. Immer der gleiche Satz. Ich bin schwul. Ich erlebe Stürme der Begeisterung. Meine Mutter öffnet Champagner. Nur Philipp kann ich es nicht sagen. Ich schreibe ihm.

Eine Email im Postfach

Ich öffne abends mein Postfach. „Lange keine Mail mehr geschrieben, mein Guter, aber es ist an der Zeit, ein dringendes Anliegen brennt mir auf den Lippen, in den Fingern, auf dem Herzen, und eine E Mail ist dafür der denkbar schlechteste Weg. Aber was muss, das muss. Jetzt kommt der Satz, setz dich hin: Ich bin schwul, und ob das gut ist, das weiß ich auch noch nicht.“

Dann folgen ein paar Absätze, in denen Paul einräumt, dass er anfangs schon ein bisschen verliebt in mich war, und dann beschreibt er, wie glücklich er jetzt ist und dass alle Freunde froh sind und jubeln und sich auch für ihn freuen. Und ich so: Scheiße.

Hast du solche Angst um unsere Freundschaft, dass du mir das nicht einfach ins Gesicht sagen kannst und dann auch noch schönreden musst? Was willst du mir verkaufen, Paul? Hast du geglaubt, ich würde dich deshalb weniger mögen? Bin ich es, der dich über Jahre hinter deine Fassade gezwungen hat? Bin ich wirklich so ein schrecklicher Mensch? Was war ich für ein beschissener Freund.

Dass es so unspektakulär kommt, ich hätte es nie geglaubt. Wir reden, einmal, zweimal über mein Outing. Er freut sich für mich. Es ist unangenehm, jemandem zu gestehen, dass man jahrelang verknallt in ihn war. Ich dachte, es würde etwas zerstören. Das Gegenteil passiert.

Ich ziehe nach Berlin, beginne einen neuen Job, ein neues Leben. Habe Liebschaften, Beziehungen. Die Freundschaft zu Philipp bleibt immer. Sie wird besser. Sie wird ehrlicher. Ich rede mit ihm über all das, was wir so lange ausgespart haben. Gefühle, Affären, Beziehungen, Sex. Ich bin glücklich.

Das Coming-out fegt alle Konflikte vom Tisch. Alles vergessen. Weil ich es endlich verstehen kann. Seitdem haben wir uns nicht mehr gestritten. Keine verletzten Gefühle, kein verletzter Stolz. Keine Eifersucht, kein fehlendes Verständnis, keine Lügen mehr. Nächsten Monat ziehen wir wieder zusammen. Er wird arbeiten gehen und das Geld nach Hause bringen, ich werde die Wohnung in Schuss halten. Wie das beste Freunde eben so machen.

Text: Philipp Brandstädter, Illustration: Magazin JAM (Aktion Mensch)

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