erschienen in der taz, die Tageszeitung, am 9. November 2014
Ein Farbenmeer. So hab ich’s jedenfalls in Erinnerung, das Jahr 1991. Für blumenbunt wird es noch zu kalt gewesen sein. Wahrscheinlich war es spielzeugladenbunt. Wegen Karneval vielleicht. Oder weil der Westen zu dieser Zeit ohnehin so bunt war wie kein zweites Mal. Weil alles neu war. Weil ich endlich die ganzen Onkel und Tanten besuchen konnte, die ich nur aus Fotoalben und Westpaketen kannte.
Alles bunt. Ganz besonders, weil Mutti so happy war. Sechs Jahre haben wir in Gera gewohnt. Zweieinhalb Zimmer, Schubladen-Badewanne in der Küche, Trockenklo auf halber Treppe, Kohleofen und kein Telefon, dafür Schimmel an den Wänden und eine verkalkte Vermieterin im Erdgeschoss. Das war ätzend, so im Nachhinein betrachtet.
Mutti wollte nach Ahrweiler, wo die ganze Westverwandtschaft lebt. Wollte sie immer. Und dann kam die Wende und der Umzug und wir waren endlich zu Hause.
Ein neues Leben
Und ich hatte ein neues Leben. Flummis, Furzkissen, Vampirgebisse. Knete, Knallfrösche, Comics, ich will alles. Mutti guckt nach Stiften und Heftumschlägen für den ersten Schultag. Ich zähle die absurd kleinen 50-Pfennig-Stücke in meiner Tasche. Gucke nach, was ich mir davon alles kaufen könnte, und stecke das Geld wieder ein. Wer den
Pfennig nicht ehrt, hat Tante Annelie gesagt, und danach noch irgendwas.
Wir versammeln uns in Zweierreihen auf dem Pausenhof und ich habe Panik vor den vielen Kindern. Mutti ist noch mit dabei. Sie hält das Notfalltaschentuch für mich bereit, das hier Tempo heißt. Nur zur Sicherheit. Maike nimmt mich an die Hand und schon ist alles gut. Denn Maike ist so toll wie Julia damals in Gera, nur ein bisschen toller, weil sie nicht ständig von ihrem unsichtbaren Freund erzählt. Im Treppenhaus riecht es nach frischen Brötchen anstatt nach Wofasept.
Alles bunt
Bunte Kreide, bunte Bücher, bunte Schulranzen, die hier Büchertaschen heißen. Bunte Kinder. Ja, die auch. In Gera saß ich neben Christian und vor Michael, beide so blond und käsig wie ich. Hier sitze ich neben Byloss und vor Chantang. Wir tauschen Aufkleber.
Im Unterricht sind ein paar Sachen anders. Vor der ersten Stunde wird zum Beispiel gebetet. Ich muss mir das Kreuzzeichen von den anderen abgucken. Außerdem sind die Kästchen im Matheheft quadratisch. Der Sportunterricht ist eher ein Spielunterricht. Geländetoben statt Geräteturnen.
Die Markstücke poliere ich mit Elsterglanz nach. Sparen ist wichtig, sagen alle. Sparen macht reich. Wie lange das dauert, wird nicht verraten. Aber ich will das Streifenhörnchen aus der Tierhandlung. Das kostet 89 Mark. Und da ist nicht einmal der Käfig mit dabei. Was komisch ist, sagt Mutti. Denn die Miete für den Käfig, in dem wir
mal gewohnt haben, hat nicht halb so viel gekostet.
Und dann auch noch Bayern
Ein paar Monate später ziehen wir nach Mellrichstadt. Erst DDR, dann Westen, und nun also ein drittes Land: Bayern. Mitten im Wald, direkt an der ehemaligen Grenze. Dort, wo die Kinder nicht auf den Feldern toben durften, weil vielleicht mal jemand schießen könnte.
In der Schule bin ich plötzlich nicht mehr so besonders. Denn die Geschichten von drüben, was hier Ossiland heißt, kennen alle schon. Ich tue mich schwer mit dem fränkischen Dialekt. Damit ich besser verstehe, sprechen manche für mich Ossisprache,
indem sie lauter Ös und Üs zwischen die Konsonanten quetschen, die hier Mitlaute heißen. Höllöö, üsch bün dör Phülüpp. Die Kinder lachen. Aber nicht lustig. Mehr so doof.
Ekkehard erklärt mir, dass Ossi hier so was wie ein Schimpfwort ist. Denn viele Leute sind sauer auf die Wende, weil die von drüben immer die Kaufhalle plündern, die
hier Supermarkt heißt. Weil die Ossis die Arbeitsplätze klauen.
Ossi bleibt
Ein paar Jahre später ist die große Wendewut Geschichte. Das Grenzland kriegt ein bisschen Extrageld, ein paar Dörfer bekommen eine Umgehungsstraße. Ossi bleibt trotzdem ein Schimpfwort, bis zum Schluss.
Ich bin mir nicht sicher, wie stark mich der Osten oder der Westen oder Bayern prägt. Die Kultur, die Kirche, die Kohle. Das Nomadendasein im Kindesalter hat auf jeden Fall etwas mit mir gemacht. Ich weiß dadurch, dass man überall einen besten Freund oder
sogar eine Liebe findet, so unromantisch das auch klingt. Und ich weiß, dass ich heimatlos bin.