Meditation schult Achtsamkeit. (Foto: Philipp Brandstädter)

Die Kraft der Meditation

erschienen in der GEO 02/18

Lebe im Hier und Jetzt. Genieße den Augenblick. Sei gesund, geborgen, unbeschwert. Atme. Werde glücklich. Dieses Wellness-Gefasel, diese Kalenderweisheiten kreiseln durch meinen Kopf, als ich auf einem Meditationskissen balancierend mit geschlossenen Augen eine Rosine inspiziere.

Etwas angewidert rolle ich sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Das Glück liegt in den kleinen Dingen, rede ich mir ein: Nimm den Moment wahr. Der Rosinenmatsch duftet fruchtig. Nicht so intensiv wie das Bohnerwachs in der Turnhalle des Hauses Rheinsberg, keine anderthalb Stunden Reisebusgetuschel von Berlin entfernt. Ich bin ganz hier. Wir.

Ich und meine Skepsis.

Mit Sinnsprüchen ist das nämlich so eine Sache. Manchmal sind sie so fürchterlich schwammig und abgedroschen. Wenn mir die Worte fehlen, um eine Sache zu beschreiben, fällt es mir schwer, die Sache ernst zu nehmen. Ich lasse mich lieber von der modernen Wissenschaft überzeugen als von uralten Traditionen und Lehren.

So habe ich ein Weilchen gebraucht, um mich auf die Meditation einzulassen. Keine Frage, dass sie Menschen bereichern würde. Aber wie soll ich plötzlich eine Sache beherzigen, die ich immer belächelt habe?

Das ReSource Project war DIE Gelegenheit für mich: Meditieren lernen im Sinne der Wissenschaft! Resource ist die größte Studie, die es bislang in der Meditationsforschung gegeben hat. Durchgeführt vom Max Planck Institut in Leipzig, unterstützt von der Berliner Charité und der EU.

Dabei wird erstmals die Wirkung verschiedener mentaler Techniken miteinander verglichen: Wie verändern sie Gehirn, Körper und Verhalten? Womit lassen sich Achtsamkeit, Mitgefühl und Sozialkompetenz am besten trainieren? Als Teilnehmer wurden 160 Meditationsanfänger gesucht. 2700 haben sich beworben.

Tausend Tests

Ich habe psychologische Eignungsgespräche über mich ergehen lassen. Eintausend Fragen beantwortet, angekreuzt, skaliert, mich selbst beurteilt. Wie intensiv spüren Sie beim Duschen die Wassertropfen auf Ihrer Haut? Ein bisschen? Ein bisschen mehr? Keine Ahnung? Ich habe Auskunft darüber gegeben, wie immungeschwächt, wie zornig, wie suizidgefährdet ich bin. Ich habe mein Gehirn im Magnetresonanztomographen durchleuchten lassen. Ich habe Blut abgegeben, in Röhrchen gespuckt und mir abstoßende Fotos vorsetzen lassen. Verletzte Kriegsopfer, verkohlte Leichen. Verstörend. Und zeitaufwändig. Es hat Wochen gedauert, um es in die finale Auswahl zu schaffen.

Schließlich finde ich mich für meine erste Meditationslektion in einer Turnhalle wieder. Um mich herum gestresste Mütter, gestresste Lehrer, gestresste Büroangestellte. Sie können nicht mehr ruhig schlafen, sagen sie. Ihr Chef mache sie wahnsinnig, sagen sie. Darum lassen sie sich in ein straffes Mammutprogramm einspannen, das Rettung verspricht.

Neun Monate ReSource. Alle drei Monate zwei neue Meditationstechniken. Scans im MRT, viele Computertests, unzählige Fragebögen. Jeden Tag meditieren, jede Woche Unterricht. Und drei Wochenenden in Rheinsberg, ein Idyll zwischen Schlosspark und Seenlandschaft.

Achtsam im Hier und Jetzt

Ich verbiege meinen Rücken in eine ungewohnt aufrechte Haltung. Von den knapp 200 Probanden und wissenschaftlichen Mitarbeitern in der Turnhalle macht Trainerin Isabella auf dem Sitzkissen die beste Figur. Dicht gefolgt von den anderen 16 ReSource-Coaches. Psychologen, Therapeuten, Ärzte, Pädagogen, Philosophen, Kommunikationstrainer.

Isabella referiert gelassen und regungslos im Lotos-Sitz. Ich ahme sie nach, mir schlafen die Beine ein. An meinem rechten Schulterblatt brennt ein Muskel, den ich bis jetzt noch nicht kannte. Isabella spricht von einer Methode, die unsere Mitte stärken soll, wenn uns der reißende Strom an Nachrichten, Aufgaben und Erwartungen fortzuspülen droht. Die Methode heißt Atmen. Atmen will ich auch und nicke. Die Probanden um mich herum nicken mit. Bewusstes Atmen ist die Grundlage des Projekts, sagt Isabella. Es soll uns in der Gegenwart verankern. Das erste Modul des ReSource-Programms heißt deshalb „Präsenz“.

Modul „Präsenz“ (drei Monate):
Im Mittelpunkt steht das Selbst: Wie kann ich mich besser auf den Augenblick konzentrieren – ohne zu urteilen, ohne zu werten?
Techniken: Atemmeditation und Bodyscan

Denn wer seinen Körperzustand bewusst wahrnimmt, der erkennt den Augenblick, heißt es. „Achtsamkeit“ nennen Forscher die Konzentration auf das Hier und Jetzt. Und wer im Moment lebt, ist glücklich. Studien belegen das.

Das leuchtet ein. Wenn mich mein Terminplaner unter Druck setzt, lenke ich mich mit Erinnerungen ab. Meist denke ich dann an Deadlines, die ich verpennt, an Hausaufgaben, die ich aufgeschoben, an Menschen, die ich enttäuscht habe. Ich ersetze Stress durch Stress. Am eigentlichen Augenblick lebe ich vorbei. Seitdem ich in Berlin wohne, bin ich hektischer, miesepetriger und desinteressierter geworden. In der Stadt der Heimatlosen ist mir alles zu viel, wenn ich durch die Straßen zu einem Termin hetze, den Blickkontakt scheue, kaum etwas um mich herum wahrnehme. Manchmal weiß ich gar nicht, wen ich zuerst ignorieren soll.

Ich will gern achtsamer sein. Meine Welt wahrnehmen. Mein Bewusstsein entwickeln.

Also dann. Beginne zu atmen, sage ich mir.

Atemmeditation (10min): Die Aufmerksamkeit ruht ganz auf dem Atem. Sobald Gedanken und Gefühle auftauchen, wird die Konzentration wieder sanft zurück auf die Atmung gelenkt.

„Lenke deine Aufmerksamkeit auf den Punkt, wo du gewohnt bist, den Atem zu spüren“, sagt Isabella. „Begleite die Atemwellen. Vom Beginn des Einatmens bis zum Ende des Ausatmens. Und durch die Pause dazwischen.“

Es könnte so einfach sein. Doch die Gedanken spülen mich aus dem Raum.

Bilder, Erinnerungen, Phantasien. Sie entführen mich erst in die Vergangenheit, dann in die Zukunft und wieder zurück. Ich rieche Parfüm, blinzle kurz, vor mir die Studentin mit der weinroten Strickjacke und der Ballonhose. Blickkontakte angeln. Sie könnten das ständige Schweigen erträglicher machen. Ich höre knurrende Mägen, schniefende Nasen. Ich sehe ein rotes Nachrichtenband, das meine Gedanken verschriftlicht. Ich säe Zweifel. Soll ich Erlösung finden, indem ich einfach nur atme?

Tagelang passiert gar nichts. Zu Hause, wo ich mir mit meinem Sitzsack und drei Kissen ein Meditationsprovisorium gebaut habe, spricht Coach Axel via Smartphone zu mir. Jeder von uns hat so ein „Medifon“ bekommen. Es zeichnet unsere Übungen auf, erinnert uns an Fragebögen und spielt die Tonspuren ab, die die Trainer für die Anleitungen zuhause eingesprochen haben.

Das Telefon ahnt nicht, dass ich die vorgegebene Meditationszeit einfach nur mürrisch absitze. Genauso wie die wöchentlichen Gruppentreffen in der Charité.

Den meisten Probanden geht es ähnlich, erzählen sie. Sie sind angestrengt, haben hohe Erwartungen an sich, wollen gute Daten liefern. Genau, wie es das Leistungsprinzip verlangt. Genau, wie Meditation nicht funktionieren kann. Bis wir vor lauter Konzentrationskrampf wegdämmern.

Es tut sich etwas

Doch genau in dieser schlaftrunkenen Zwischenwelt zwischen Traum und Bewusstsein gibt es jene Momente. Dort lösen sich Hast und Zweifel durch Ruhe und Genügsamkeit ab. Etwas verändert sich. Ich bin begeistert: Jetzt meditierst du endlich! Wie das erst wird, wenn du die Techniken perfektioniert hast! Dann bist du vielleicht noch leistungsfähiger, brauchst weniger Schlaf und kannst noch mehr aus deinem Leben herausholen. Produktiver sein! Irgendwann einmal… Und schon wieder bin ich meilenweit vom Augenblick entfernt.

„Wenn deine Aufmerksamkeit gewandert ist, dann lenke sie zurück zum nächsten Atemzug“, sagt Axel.

Die hellen Momente häufen sich. Sie motivieren mich zum Üben. Langsam erschließt sich mir der Fokus auf die Atmung. Sie lenkt die Wahrnehmung von meiner Umgebung in meinen Körper. Atmen entspannt. Atmen ist eine gute Sache, finde ich, Kontraktion und Entspannung, es ist tatsächlich so, als ob ich einen Muskel trainieren würde.

In meinem Kopf tut sich etwas.

Im Park unter rauschenden Blättern. Ihr Grün ist bereits dem Rot und Gold gewichen, doch die Luft fühlt sich immer noch nach Sommer an. Ich bin hier: nicht gestern oder morgen, sondern jetzt. Zum ersten Mal. Liege im Gras und sinke mit jedem Atemzug tiefer in den Boden. Ich übe „interozeptives Gewahrsein“. So heißt das. Per Bodyscan. Der zweiten Übung, die ich neben der Atemmeditation täglich trainieren soll.

Bodyscan (20min): Die Aufmerksamkeit wandert nach und nach durch jedes Körperteil und registriert alle Empfindungen, ohne sie zu bewerten.

„Es gibt nichts zu tun und nichts zu erreichen“, flüstert Axel durch die Kopfhörer. „Richte deine Aufmerksamkeit auf deine Zehen des linken Fußes.“

Von den Zehen aus reise ich durch meinen Körper. Nehme Kribbeln, Taubheit, Wärme wahr. „Spüre tief in dein linkes Kniegelenk hinein“, flüstert Axel. Igitt. Es ist mehr ulkig als angenehm, die Nuancen der Körperempfindungen zu unterscheiden. „Sei einfach eine Antenne, die alles wahrnimmt, ohne die Wahrnehmung zu bewerten“, flüstert Axel aus dem Smartphone.

Die Übungen machen mich ruhiger, gelassener, genügsamer. Meinen Alltag verändern sie auch. Ich registriere mehr Details in meiner Umgebung. Die Giebel und Sockel von Häusern, an denen ich schon hundertmal vorbei gefahren bin. Die Verästelungen der Bäume im Park. Das Atmen stärkt meine innere Mitte. Und beim Sport funktioniert mein Körper wie von allein, so scheint es. Meine Joggingstunde durch den Wald ist auf einmal 20 Minuten kürzer und die Hanteln im Fitnesscenter sind leichter als in der Woche zuvor.

Die Verwandlung geht schnell. Langsam wird sie mir unheimlich.

Wie ticke ich, wie ticken die anderen?

Seit 12 Wochen im ReSource-Projekt. Atmen, bodyscannen und Stillsitzen kriege ich mittlerweile hin. Ich finde mich erneut in Rheinsberg wieder. Retreat, Runde zwei. Die neue Lektion: Perspektive.

Modul „Perspektive“ (drei Monate):
Im Mittelpunkt steht das Wir: Die Teilnehmer lernen, ihr eigenes Denken zu reflektieren und sich in andere Menschen hineinzuversetzen.
Techniken: Gedankenmeditation und Perspektiv-Dyade

Ab jetzt beobachten wir unsere Gedankenwelt. Diesen kaum greifbaren Wirrwarr, den ich bis dato abschütteln musste, weil er mich von der Achtsamkeit abgelenkt hat. Gedanken beobachten sei wichtig, meint Trainerin Susanne. Denn bevor wir im dritten Teil unser Mitgefühl schulen, müssten wir erst einmal mit uns selbst klarkommen. Das leuchtet ein: Fällt der Luftdruck in der Flugzeugkabine, ziehen wir zuerst uns selbst die Sauerstoffmaske über.

Gedankenmeditation (20min): Zunächst werden die Gedanken kategorisiert, etwa nach Vergangenheit/Zukunft, negativ/positiv oder selbst/andere. Dann wird ihr Kommen und Gehen beobachtet, ohne auf sie zu reagieren – so soll Distanz zu den eigenen Gedanken und Gefühlen entstehen.

Meine erste Gedankenmeditation ist eine einzige Enttäuschung. Von wegen: Die Gedanken sind frei. Von wegen: Tausend Ideen schießen uns auf einmal durch den Kopf. Ich komme gerade mal auf sieben. Sie wiederholen sich nur in einer Endlosschleife. Mein Job, meine Partnerin, meine Freunde, mein Job, die letzte Party, ein Haushaltsplan, mein Job. Die Agenda wird von meinem Kalender festgelegt.

An den Gedanken kleben meist Urteile, die ich nie ernsthaft hinterfragt habe. Meist habe ich sie nicht einmal selbst gefällt. Meine Umwelt hat sie mir beigebracht. Du verschwendest zu viel Zeit! Du sorgst nicht genug für deine Zukunft! Du lebst zu ungesund! Langsam wird mir klar, dass ich in einer Ich-muss-noch-dies-und-das-tun-Zukunft gefangen bin, die ich mir nicht einmal selbst geschaffen habe.

Die Erwartungshaltung anderer reißt eine riesige Lücke zwischen dem Leben, das ich gern hätte und dem Leben, das ich gern haben sollte. Ich bin schockiert.

Nicht mehr normal

Barfuß tragen die Probanden des ReSource Projects ihre Brummschädel über die Wiese vor dem Hotel. Kaffeetasse in der einen Hand, Keks oder Kippe in der anderen. Wie immer schweigen wir. Wir achten auf die Länge unserer Schritte, die Geräusche, die Grashalme zwischen den Zehen. Eine Familie spaziert an uns vorbei.

„Was machen die Leute da auf dem Rasen?“, fragt das Kind. „Guck da nicht so hin, die sind behindert“, antwortet die Mutter.

Was wir da tun, ist nicht normal. Normal ist, auf der Straße mit einem Knopf im Ohr in leuchtende Geräte hinein zu faseln. Normal ist, sich mit hundert Dingen gleichzeitig zu beschäftigen, um nicht über sich selbst nachdenken zu müssen.

Trainerin Susanne lächelt. Susanne lächelt eigentlich immer. Man könnte meinen, es sei aufgesetzt. Mein Urteil. Meine Schuld, dass ich das meine. Die hagere kleine Frau gestikuliert schon die nächste Technik in den Raum hinein: eine Dyade. Dabei handelt es sich um eine Meditation im Dialog. Augenbrauen werden gehoben, Köpfe geschüttelt. Susanne lächelt.

Perspektiv-Dyade (10min): Es wird zu zweit meditiert, von Angesicht zu Angesicht oder über das Smartphone. Die Partner wechseln wöchentlich. Der Sprecher erzählt aus einer seiner persönlichen Rollen heraus ein Erlebnis. Der Zuhörer versucht, die Erzählperspektive unvoreingenommen nachzuvollziehen. Jeder spricht zweimal 2,5 Minuten.

Wir seien soziale Wesen in Beziehungsgefügen, betont sie. Im Lauf unseres Lebens nehmen wir verschiedene Rollen ein, die zu Anteilen unserer Identität würden. Wir seien Kinder, Freunde, Partner, Berufstätige, Eltern. Bestimmte Rollen für bestimmte Menschen, die ihre eigene Sicht auf uns entwickeln. Und diese Menschen verwechseln gern ihre Mitmenschen mit deren Rollen.

Der unfreundliche Kontrolleur in der Bahn. Die lahme Oma vor uns an der Supermarktkasse. Das plärrende Kind in der Nachbarwohnung. In Stresssituationen werden sie schnell als durch und durch unangenehme Menschen abgeurteilt.

Also beginnen wir als erstes, unsere eigenen Rollen besser zu verstehen. Ich schreibe die typischen Anteile meiner Persönlichkeit auf Pappkarten. Der Faulpelz, der Angsthase, der Kontrollfreak. Der Beobachter. Der ist omnipräsent. Immer ein bisschen distanziert und analytisch, neutral und unterkühlt. Beobachten ist mein Beruf.

Und dann ist da noch der Sucher in mir. Erst, als ich gedankenverloren im Bus nach Hause sitze, wird mir klar, dass es ihn gibt. Es ist der, der mich als Kind stundenlang in die Sterne starren ließ und der, der mich jetzt aufs Meditationskissen zerrt, um dem tieferen Sinn und dem ganzen Drumherum nachzugehen. Erkenne dich selbst. Mit der Einsicht schwingt Leichtigkeit, Gleichmut. Innerer Frieden. Und die Reise geht gerade erst los. Glaube ich.

Zu zweit über das Smartphone meditieren

Ich sitze einem bärtigen Mann mit Brille und Norwegerpulli gegenüber. Wir haben noch nie ein Wort miteinander gewechselt, aber vertrauen uns nun in einer Dyade an. Wir sollen aus einer Rolle heraus ein Erlebnis erzählen. Ich habe das Bedürfnis, mein Gegenüber zu unterhalten. Ich schauspielere, anstatt mich um mich selbst zu kümmern.

Beim Mittwochtreffen klärt die Trainerin die Dyaden-Sache auf: Aus verschiedenen Rollen heraus zu sprechen, lässt uns verstehen, dass wir und jeder andere nur eine Wirklichkeit konstruieren und dass diese aus jedem Anteil heraus ganz anders aussehen kann. Es reicht aber nicht, das einmal festzustellen, das müsse wie eine Muskel trainiert werden. Sowohl das Sprechen aus wechselnden Anteilen als auch das Zuhören und Verstehen, was nicht zwingend Gutheißen bedeuten muss.

Die Leute aus der Gruppe werden interessanter. Olaf, den ich als verbitterten Fachangestellten abgespeichert hatte, ist in Wirklichkeit Didgeridoo-Spieler für Wachkoma-Patienten. So kann man sich täuschen. Woran’s liegt?

Mit den Dyaden taten sich die meisten anfangs schwer, mit der unmediativen Art, mit dem Sinn. Aber sie lieben es zuzuhören, sich in verschiedenen Rollen auszutoben, lieben es, dass ihnen niemand ins Wort fällt.

Das alte Leben passt nicht mehr

Im Max-Planck-Institut wird mein Kopf gescannt, schon zum dritten Mal. Die Neurowissenschaftler wollen sehen, wie die Meditation mein Gehirn verändert. Zuvor haben sie mit meinen Gefühlen gespielt. Stromschläge, die meine Empfindsamkeit erfassen sollten, haben mich wütend gemacht, von den Ekelfotos am PC wurde mir übel, und in der virtuellen Horror-Realität bin ich ein bisschen in Panik geraten. Beinahe hätte ich die Kabel aus meinem 3D-Helm gerissen. Jetzt liege ich in der Röhre. Zeit zum Nachdenken, über mich, das Projekt, und die guten Vorsätze für das neue Jahr.

Zwischendurch dachte ich wirklich, meine Mitte gefunden zu haben. Ich glaubte, ein neues Weltbild zu entwickeln und meine Mitmenschen daran teilhaben lassen zu müssen. Schlaue Ratschläge für alle. Glückskeksweisheiten.

Meine Freunde sind wegen der Studie längst skeptisch geworden. Sie fürchten, ich bin einer Hirnwäsche zum Opfer gefallen. Würde mir bald den Schädel rasieren und mich in orangefarbene Tücher hüllen. Sie finden, Ruhe und Gelassenheit ließen mich nur Wurzeln ins Sofa schlagen. Kollegen haben gefragt, was denn nicht stimme. Ich sei in letzter Zeit so wortkarg, würde überhaupt nicht mehr lästern oder gehässig sein. Was sei denn bloß aus den ganzen politisch unkorrekten Randgruppenscherzen geworden.

Mir kommt es vor, als würde ich nicht mehr in die Gesellschaft passen. Auf einmal wurde es mir zu eng in Berlin. Die Leute in der Bahn, mit ihren dicken Fellen und ihren Scheuklappen, sie machten mich plötzlich rasend. Überall Smartphone-Zombies, unaufmerksam, lieb- und leblos. Ich passe hier nicht mehr hin. Ich weiß nicht, wohin sonst, beginne zu zweifeln. Der MRT-Scanner surrt und pocht mich in Trance.

Zu Besuch bei meinen Eltern spaziere ich zu der Wiese, auf dem ich mit meinen Schulfreunden oft die Zeit vergammelt habe. Beim Meditieren habe ich mich manchmal dorthin geträumt, ganz unbewusst. Dort könnte ich meinem persönlichen ReSource Project einen neuen Schub verleihen, denke ich mir. Doch anstelle der Wiese mit ihren roten Mohnblumen und weißen Margeriten steht nun ein riesiges Rapsfeld in Blüte. Gepachtet, beackert, kultiviert. Ich nehme das persönlich. Ich gehöre hier nicht mehr hin.

Erschöpft und ratlos fahre ich ins letzte Retreat. Noch einmal Rheisberg. Die Auszeit tut gut. In der Turnhalle liegen Taschentuch-Boxen aus. Die seien für die Leute da, die nah am Wasser gebaut sind, erklärt Coach Ulrike. Die letzte Phase von ReSource behandle nämlich die Regulation von Emotionen und das Mitgefühl, sagt Ulrike. Als Psychotherapeutin sei sie davon ein Fan. Es geht ans Herz.

Modul „Affekt“ (drei Monate):
Im Mittelpunkt stehen die Akzeptanz eigener Emotionen und das Mitfühlen mit anderen. Altruismus soll gestärkt werden.
Techniken: Herzmeditation und Affekt-Dyade

Zu Beginn der Studie war mir die Sache mit dem Mitgefühl nicht so wichtig. Das Leid in mir und um mich herum hält sich in Grenzen, meinte ich; das konnte ich bislang ganz gut bewältigen, ohne mich bewusst um mehr Mitgefühl bemühen zu müssen. Doch was Ulrike anspricht, passt gerade ziemlich gut zu meiner Hilflosigkeit. Sie sagt, prosoziales Verhalten sei Teil einer Lebenseinstellung und werde mit körpereigenen Opiaten belohnt. Der Wunsch, das Leiden anderer zu mindern, sei die Grundlage für ein friedliches Miteinander. Und das sei uns in dem momentanen Leistungs-System gerade ein bisschen abgegangen. Dort, wo nur der Wettbewerb belohnt wird, gehe die Bindung zu den Mitmenschen und der Zugang zu den Emotionen verloren. Die Folge: Stress, Burnout, Sprünge aus dem Bürofenster im zehnten Stock.

„Richte deine Aufmerksamkeit auf den Herzraum und spüre die natürliche Atembewegung“, sagt Ulrike. „Dann nutze deinen persönlichen Zugang zum Herzen, damit es sich öffnen kann.“

Herz-Meditation (20min): Man stellt einen geliebten Menschen vor und dehnt das Gefühl von Wärme allmählich aus: auf die eigene Person, auf Freunde, schwierige Personen, Fremde. So sollen Gefühle von Wohlwollen, Liebe und Fürsorge gegenüber sich selbst und anderen gestärkt werden.

Mein Zugang ist Henriette, meine adipöse Katze. Die schnurrende Inkarnation des Gleichmuts. Und zwar gute zwölf Pfund davon. Wenn ich an Henriette denke, dann ist die Welt gleich ein bisschen flauschiger. „Wende dich nun dir selbst zu und schenke dir liebevolle Selbstzuwendung“, sagt Ulrike weiter. Und dann kommen vier Glückskekswünsche, die mich einfach mal umhauen, weil sie die Schnittmenge aller menschlichen Bedürfnisse bilden – auch wenn sie etwas gestelzt sind. „Möge ich glücklich sein“, spricht Ulrike vor. „Möge ich mich sicher und geborgen fühlen. Möge ich gesund sein.“ Und ein Satz für mich: „Möge ich unbeschwert leben.“

Das Mitgefühl der Meditierchen

Mir wird warm ums Herz. Ich kann die Hitze in meinem Brustkorb spüren. Ein breites Lächeln auf meinem Gesicht. Ich weite die Wärme aus, erst auf meinen Körper, dann auf die Meditierchen um mich herum, dann auf meine Lieblingsmenschen, und noch weiter. Mitgefühl für alle. Die Energie wird schwächer, je weiter ich sie ausdehne, ihre Dosierung strecke. Dann schwindet meine Kraft, es ist schwierig. Trotzdem habe ich ein bisschen Glückseligkeit entfacht, einfach so, ohne Lieblingssong, ohne Blick aufs Meer, unabhängig. Ich bin hin und weg. Erst war ich von der Achtsamkeit überrascht, jetzt vom Glück.

Kann ich das noch verstärken? Werde ich nächsten Monat zu einem Perpetuum mobile der Glückseligkeit und verpuffe dann in einer Energiewolke? Klar ist: Meine emotionales Spektrum kann ich noch erweitern. Das merke ich bei der neuen Dyade.

Affekt-Dyade (10min): Es wird zu zweit meditiert, von Angesicht zu Angesicht oder über das Smartphone. Die wöchentlich wechselnden Partner erzählen einander, wie sie ein kürzliches Erlebnis emotional und körperlich empfunden haben. Der andere hört empathisch zu. So sollen Mitgefühl, Empathie und Dankbarkeit geschult werden.

Ich muss Thorsten beschreiben, was für mich angenehme und unangenehme Gefühle sind. Auf die schwierigen kann ich mich nicht besinnen. Bei den positiven merke ich, dass ich mir im Überschwang meist peinlich bin, wenn ich kichere und Blödsinn rede. Lieber sind mit die ruhigen, schönen Gefühle, auf einer Wellenlänge mit meinen Jungs, nostalisch auf dem Hügel, ein Bier, ein Lächeln, eine Karmawolke. Thorsten versteht das und hat Tränen in den Augen.

Ich muss erstmal gar nichts

Der Frühling ist explodiert und die Kirschbäume sind zugeknallt mit rosa Blüten, vielleicht seit Wochen schon. Mir fällt es zum ersten Mal auf. Die Achtsamkeit im Alltag lässt zu wünschen übrig. Ich komme gar nicht auf die Idee, an mein Herz zu denken und an gute Wünsche für Fahrgäste in der U-bahn. Aber ich bin gut drauf, vielleicht ist das ja schon etwas. Den anderen geht es auch so. Die Herzmeditation ist schön, das gute Gefühl funktioniert quasi mit einem Fingerschnippen. Die Dyaden mit Alex sind superwitzig. Cooler Typ, ein Punk, ein Kind, ein Filmspinner. Wir erzählen uns keine schwierigen Geschichten, es ist nichts mehr schwierig.

Der Druck von außen, die Macht schlechter Gedanken, der Stress, alles nicht mehr so schlimm. Ich bin sehr mit mir im Reinen und zufrieden. Ich bin nicht motiviert, etwas zu ändern. Ich mache kaum noch Sport, gehe nicht raus, denke nicht nach, stehe nur arrogant über den Dingen, über den Problemen, fühle mich besser als der Rest. Wenn ich Leute sehe, die sich fleißig 14 Stunden am Tag überarbeiten, dann denke ich: Macht ihr mal.

Wo soll das hinführen? Ich zweifle.

„Ich glaube, wir haben uns da eine Horde kleiner Egozentriker gezüchtet“, sagt Christina aus dem Labor.

Eine neue Haltung

Beim letzten Training reflektieren wir noch mal. Lothar hat seine Ernährung umgestellt, Ute Frieden mit ihrer sterbenden Mutter gefunden, Olaf hat sich das Rauchen abgewöhnt, Doris hat keine Kopfschmerzen mehr. Wir können unsere Gedanken ordnen, unsere Mitte finden. Aber in dieser Mitte sind die meisten von uns hängen geblieben. Vielleicht braucht es für das Mitgefühl doch mehr als nur ein paar Wochen Training.

Wir planen, wie wir weiter meditieren können. Mit Tonspur, oder traut sich jemand die Anleitung zu? Den Raum der Charité können wir vorerst weiter benutzen.

Auf den Dielen klebt Konfetti. Ich verfrachte Flaschen und Gläser in die Küche, ziehe einen Müllsack hinter mir her. Zu meiner Geburtstagsparty waren alle da. Meine Freunde haben mir die neue Hippieattitüde verziehen. Und ich habe mir die Meditationspredigten auf der Feier verkniffen. Was gar nicht so einfach war, denn mir sind permanent irgendwelche Zen-Ratschläge durch den Kopf gerauscht. Dass es hilfreich ist, sein dickes Fell abzulegen, wenn man mehr wahrnehmen möchte. Dass es leichter ist, hinter den Wasserfall der Gedanken zu treten und ihn vergnügt zu beobachten, anstatt sich von ihm ertränken lassen. Dass es nicht darum geht, ein Ziel zu erreichen. Sondern darum, eine Haltung zu kultivieren.

Eine halbleere Packung Studentenfutter, wieder sind nur die Rosinen übrig geblieben. Niemand mag Rosinen sonderlich. Ich picke mir eine aus der Tüte heraus und kaue zaghaft darauf herum. Prüfe ihren Geschmack, ihre Konsistenz. Rosinen haben Kerne. Ist mir nie aufgefallen. Ich nehme noch eine, fühle ihre Struktur, rieche an ihr, halte sie ans Ohr. Sie macht Geräusche. Rosinen knistern, hätten Sie’s gewusst?

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