erschienen in der taz, die Tageszeitung, am 12. August 2023
Durch den Menschen eingeschleppte Tier- und Pflanzenarten mischen Ökosysteme auf, der Klimawandel begünstigt die Ausbreitung noch. Welche richten Schaden an?
Die Eindringlinge haben einen weiten Weg hinter sich gebracht und machen sich nun heimlich bei uns breit. Werden mehr und mehr, bedrohen, was wir liebgewonnen haben, zerstören die Umwelt. Klingt nach AfD und vergifteter Einwanderungsdebatte. Nur sind in dieser Erzählung Pflanzen und Tiere gemeint.
Ob Japanischer Knöterich, Kaukasischer Bärenklau, Chinesischer Götterbaum oder die US-Importe Sumpfkrebs, Ochsenfrosch und Waschbär: Sie alle gelten als gefährliche Fremdlinge. Über diese sogenannten invasiven Arten wird genauso lange schon gestritten, wie wir Menschen uns die Erde untertan machen. Erst wird Land erobert und dann verteidigt, gegen alles, was auch ein bisschen Land wollen könnte.
Laut einer aktuellen Studie könnten eingeschleppte Tier- und Pflanzenarten in der EU bis 2040 für Kosten in Höhe von 142,73 Milliarden Euro sorgen. Grund dafür sind unter anderem Ernteverluste und Belastungen des Gesundheitssystems durch neue Krankheiten. Der Klimawandel beschleunigt diese Entwicklung und heizt auch einen Streit an: zwischen denen, die die unkontrollierte Verbreitung der Arten verhindern wollen, und denen, die finden, dass in den Lauf der Dinge nicht eingegriffen werden sollte.
Ökologische Verschränkung
Im Garten von Robin König fliegt und zirpt und flattert es, wo man nur hinsieht. Die blauen Hüllblätter des groß gewachsenen Alpenmannstreus – ursprünglich aus dem Mittelmeerraum und seit dem 16. Jahrhundert auch in Deutschland kultiviert – sind schon fast abgeblüht. Trotzdem umschwirren ihn derart viele Wildbienen, Wespen, Hummeln, Käfer und Fliegen, dass die Augen nur ein diffuses Flimmern zahlloser schwarzer Punkte ausmachen wollen.
Wie immer in diesen Sommertagen sieht es so aus, als könnte es jeden Augenblick regnen. Um das kostenlose Wasser direkt dorthin zu leiten, wo es benötigt wird, nämlich an die Wurzeln des Alpenmannstreus, hat der 24-jährige Hobbygärtner mit dem Spaten rundherum ein Becken ausgestochen. Dort unten wächst und blüht, was vorher noch schwer zu kämpfen hatte, denn bei dem Brandenburger Bodenmix aus Sand und Lehm beginnt erst tief die fruchtbare Erde. Danach will er sich endlich dem Japanischen Knöterich widmen. Denn: „Wie das Zeug schon wieder eskaliert ist, das ist nicht mehr feierlich“, sagt er.
In kürzester Zeit hat sich das bambusartige Ungetüm vom Gartenzaun über die anliegenden Beete erstreckt. Diese Auswüchse müssen weg. „Der Knöterich ist die wirtschaftlich teuerste Pflanze, die es gibt“, sagt König. Aber einfach mit der Machete in das Gestrüpp einfallen und die wuchernden Stängel zurückschneiden, reicht nicht.
Echt kein Spielzeug
Den müsse man „abfolieren“, also schwarze Folie über den Boden legen, damit kein Licht mehr rankommt. Sonst gebe die Pflanze wachstumshemmende Bitterstoffe an ihre Umgebung ab. Das Ding sei „eine ökologische Katastrophe“ und „echt kein Spielzeug“. König ist sich sicher: Würde er hier nicht eingreifen, würde gar nichts anderes mehr wachsen.
Der Knöterich ist eine nicht einheimische, eine gebietsfremde Art. Von der spricht das Bundesnaturschutzgesetz dann, wenn sie weder ursprünglich aus Mitteleuropa stammt, noch seit über 100 Jahren als verwilderte Art vorkommt, also quasi eingebürgert ist. Solche Pflanzen werden auch Neophyten genannt, die tierische Version davon sind Neozoen.
Von den unzähligen Arten fremder Tiere und Pflanzen, die seit Jahrhunderten über Kontinente hinweg als Samen oder Eier im Ballastwasser der Schiffe, in Lebensmittelkisten oder unter Schuhsohlen eingeschleppt werden, verschwinden die meisten einfach wieder. Sie keimen oder schlüpfen, fühlen sich dann in ihrer Umgebung nicht wohl und gehen schließlich ein oder werden gefressen.
Stare und Bienenfresser
Ein paar Arten aber bleiben. Manche nicht heimische Bäume halten die Trockenheit besser aus, manche Larven mögen die aufgewärmten Gewässer. Die Stare, die einst als kleine Gruppe im Central Park von New York City freigelassen wurden, bilden heute die zahlenmäßig stärkste Vogelgruppe Amerikas und werden von den meisten Menschen so geschätzt wie hierzulande der kunterbunte Bienenfresser an den Steilufern und Abbruchkanten in Sachsen-Anhalt oder der aus den Vogelkäfigen geflohene Halsbandsittich in der Rheinebene.
Etwa fünf Prozent aller fremden Arten bereiten laut Bundesamt für Naturschutz „naturschutzfachliche Probleme“ und gelten als invasiv. Sie breiten sich zu stark aus, schädigen Biotope und gefährden die biologische Vielfalt. Sie konkurrieren mit heimischen Arten um Nistplätze oder Nahrung, übertragen Krankheiten oder lösen Allergien aus, sind giftig oder vermiesen Landwirten die Ernte.
Europaweit werden aktuell 88 Tier- und Pflanzenarten als invasiv gelistet. Mindestens 46 dieser Arten kommen auch in Deutschland vor: Das Drüsige Springkraut überwuchert die Flussufer, die Wasserpest lässt Tümpel kippen, die Asiatische Hornisse jagt unsere Honigbienen, der Höckerflohkrebs frisst die Flüsse leer, und was Bisamratten und Nilgänse angeht – die kann sowieso niemand leiden.
Egal, wo ihr herkommt
Wo die Pflanzen in seinem Garten ursprünglich herkommen, ist Robin König eigentlich egal. „Mir geht es ausschließlich um die ökologische Verschränkung“, erklärt er und streichelt seine Armenische Traubenhyazinthe. „Die kam vom Balkan, hat sich sofort ins Ökosystem eingegliedert und leistet ihren Beitrag.“ König meint damit, dass die Pflanzen und Tiere eine lebhafte Wechselwirkung miteinander eingehen sollen: sich also gegenseitig Lebensraum und Nahrung liefern. Der Knöterich hingegen war ein ungebetener Gast in seinem Garten, verschränke sich nicht und nerve bloß.
Ingo Kowarik ist Professor für Pflanzenökologie an der Technischen Universität Berlin. Als er während seines Studiums zu städtischen Ökosystemen zu forschen begann, war noch gar nicht so klar, wie leicht sich fremde Arten an neuen Orten ansiedeln können. „In den Siebzigern haben wir erstmals in Berlin Brachflächen inspiziert und waren erstaunt von der Andersartigkeit der natürlichen Prozesse mitten in der Stadt“, erzählt der 68-Jährige.
Damals war der Japanische Staudenknöterich auf Privatgrundstücken gerade als Sichtschutz angesagt. Das Gewächs war schon Hunderte Jahre zuvor als Futter- und Zierpflanze nach Europa gekommen. Wurde er zu groß, flog er auf den Kompost, um sich dort erst so richtig zu entfalten – und mit ihm all die anderen achtlos ausgesetzten Zierpflanzen aus dem Gewächshaus.
Konsequenz des Kolonialismus
Von nun an bedeckte der Knöterich Böschungen, Brachen und Halden, weil er sich kein bisschen an den Schwermetallen im Boden störte. „Anfangs waren meine Kommilitonen und ich noch überrascht, wie schnell und dynamisch Wildnis ist“, sagt Kowarik. Umso wilder kämpften GartenbesitzerInnen damals zunächst gegen jedes Unkraut an, das sie nicht selbst in ihr Beet gepflanzt hatten. Inzwischen sei es anerkannter Mainstream, ein bisschen Natur unberührt zu lassen. Auch die nicht einheimischen Arten. „Es rührt mich, dass die Leute ein Herz für wilde Arten haben“, sagt er.
Die Verbreitung der Arten, sie ist eine Konsequenz aus Kolonialismus, Migrationsbewegungen und Globalisierung. Los ging es mit dem Start des Anthropozäns im 17. Jahrhundert. Erst schleppten Amerikas Pilgerväter Krankheiten aus Europa in die für sie Neue Welt und verantworteten damit ein Massensterben der indigenen Bevölkerung. Dann wurden die Kartoffeln aus den Anden nach Europa geholt und der Mais aus Mittelamerika und sehr viel früher die Äpfel und Birnen aus China, Zentralasien und dem Kaukasus und der Weizen aus dem Nahen Osten – denn ohne all diese Importe gäbe es hierzulande nicht viel mehr zu essen als Kraut und Rüben.
Im Anschluss machten es sich die Kolonialisten auf allen Kontinenten bequem. Von James Cooks Schiffen gingen Schafe und Kaninchen von Bord, um das wilde Australien etwas europäischer zu machen. Mit fatalen Folgen: Die Schafe traten mit ihren Klauen die Böden kaputt, die Kaninchen mümmelten die übrigen Triebe weg und Dingos fraßen schließlich die vom Hunger geschwächten heimischen Tiere. In den freigewordenen Nischen des australischen Lebensraums siedelten sich Amseln und Tauben, Mäuse und Ratten, Forellen und Lachse, Rotwild und Frettchen sowie Hunde und Katzen an. Das tragische Ende einer einmaligen Artenvielfalt.
Mit Ausrottung gegen Auslöschung
Im 20. Jahrhundert begann mit manchen Plagen auch ein Umdenken und man versuchte, die selbst verschuldete Auslöschung zu bremsen. Und zwar durch Ausrottung. Füchse, Katzen und eingeschlepptes Unkraut bedrohen in Australien beispielsweise die heimisch-ursprüngliche Barrington-Breitzahnratte, ein drolliges kleines, wühlmausähnliches Ding. Also werden die Invasoren erschossen und vergiftet. Neuseeland will sich wiederum bis 2050 aller nicht einheimischen Ratten entledigen. Denn die gefährden die einheimischen Vögel und Reptilien, heißt es.
Die US-Amerikaner sind ebenfalls nicht zimperlich. An der Ostküste wird die Bevölkerung aktuell ermutigt, fleißig alle gepunkteten Laternenträgerzikaden zu zerlatschen. In Florida soll die Burmesische Python dafür verantwortlich sein, dass bis zu 90 Prozent der Säugetiere aus den Sümpfen verschwinden könnten. Also schreibt man Kopfgeld auf die Würgeschlange aus. Gerade gewann ein 19-Jähriger bei einem Wettbewerb 10.000 US-Dollar, weil er 28 von ihnen erlegte.
Deutschland meuchelt da verhaltener. Früher erschlug man noch das ein oder andere dunkle Eichhörnchen in dem Glauben, es sei ein eingewandertes Grauhörnchen. Mittlerweile hat sich aber herumgesprochen, dass die Nager immer noch nicht bei uns angekommen sind. Dafür erlegen wir Nutrias und essen Sumpfkrebse, die sich in den Gewässern breitmachen. Die wohl hitzigsten Diskussionen aber werden um den Waschbären geführt.
Starke Lobby
Die Kleinbären büxten nach dem Krieg aus Pelzfarmen aus und haben sich seitdem prächtig bei uns eingelebt. Weil die gefräßigen Tiere Nester und Brutkästen plündern, gelten sie als invasive Art – und gleichzeitig als Internetstars, weil sie doch so furchtbar knuffig dabei aussehen, wie sie unsere Mülltonnen ausräumen und Dachböden ruinieren. Dadurch hat der Waschbär eine starke Lobby.
Während JägerInnen sich also auf den Naturschutz berufen und jedes Jahr neue Schießrekorde erzielen, argumentieren WaschbärfreundInnen ebenfalls mit dem Naturschutz. Sie behaupten: Wer Waschbären schießen will, komme mit dem Schießen nicht hinterher. Denn Weibchen reagieren auf Verluste mit verstärkter Fortpflanzung. Je mehr Abschuss, desto mehr Nachwuchs also. Im Gegensatz dazu bringen Waschbären weniger Junge auf die Welt, wenn sich ihre Lebensbedingungen grundlegend verschlechtern.
Was also bringt es, die einen zu töten, um die anderen zu retten? „Gar nichts, man muss keine Arten bekämpfen“, findet Denise Ritter vom Deutschen Tierschutzbund. „Prävention ist die Lösung.“ Es sei sehr viel sinnvoller, die Eintragungswege invasiver Arten strenger zu kontrollieren und den Wildtierhandel einzudämmen. „Prävention bedeutet aber auch, dass man Mensch-Tier-Konflikte von vornherein vermeidet“, sagt die 33-Jährige. Zum Beispiel indem wilde Tiere nicht angefüttert, Mülltonnen besser versiegelt und Ausweichflächen geschaffen werden. Also Orte, die als Lebensraum, Nist- und Futterplatz für die Tiere attraktiver sind als unsere Parks, Freibäder und Gärten.
Sterilisieren statt töten
Neben dem Waschbären hat in den vergangenen Jahren noch ein weiteres Tier für Aufregung gesorgt: die Nutria, ein biberähnlicher, bisamrattenartiger Nager aus Südamerika. Die Nutria wurde hundert Jahre zuvor ebenfalls wegen des Fells eingeschleppt und in Farmen eingesperrt, bis sich erste Populationen im Spreewald und an der Elbe ausbreiteten. Zu den Städten mit Nutriaproblem gehört beispielsweise Bonn. Weil die Nager die Ufer der Rheinaue kaputtnagen, werden die Tiere gefangen und getötet.
Denise Ritter plädiert hingegen für Einfangen und Sterilisieren. Die Zahl der Nutrias würde so sehr viel schneller sinken, erklärt die Tierschützerin. Das Töten von Tieren solle als allerletztes Mittel in Erwägung gezogen werden. Die Stadt hat den Vorschlag abgelehnt. Dieser Kampf der unterschiedlichen Naturschutzinteressen wirft entscheidende Fragen auf: Wie sehr bedrohen invasive Arten die heimischen tatsächlich?
In einem begrenzten Bereich können Invasoren wirklich gefährlich werden. Wenn der Waschbär auf einer bestimmten Fläche sämtliche Bodenbrüter wie Schnepfe und Kiebitz frisst, hat er die Art dort vernichtet. Aber damit ist das Raubtier noch keine Gefahr für die gesamte Population. Und sind Nutrias wirklich so problematisch, wenn sie nur eine begrenzte Anzahl an Deichen und Röhrichten kaputtmachen?
Der Mensch ist das Problem
Der Einfluss auf einzelne Arten kann gravierend sein, das allgemeine Artensterben hat aber andere Gründe. Oft besetzen invasive Spezies eine ökologische Nische, wenn die heimische Art zuvor schon durch den Menschen schwer beeinträchtigt wurde.
So konnte sich der Nerz erst dann in Europa ausbreiten, als die Population der Otter mangels Futter drastisch eingebrochen war. Soll man also jede neue Art erst einmal machen lassen und schauen, ob sie wirklich alle anderen Arten verdrängt? Und was dann?
In der Landwirtschaft, im Forst oder der Wasserversorgung kann man nicht einfach in Ruhe abwarten – da stört die Wildnis. Ihre Gefahren müssen rechtzeitig erkannt, eingeschätzt und abgewendet werden. Wenn sich eingewanderte Nager oder Heuschrecken ohne Fressfeinde über die Ernte hermachen, eine neue Käferart das Nutzholz im Wirtschaftswald durchlöchert, die Larven der Quagga-Muscheln in die Wasserleitungen schwimmen und die Förderanlagen verstopfen und der Knöterich das Treibgut festhält, dann wird das teuer.
Das wird teuer
Die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung hat kürzlich eine ungeheure Summe genannt. In ihrer Studie zu weltweiten Folgeschäden durch invasive Arten kam sie auf Gesamtkosten von fast 1 Billion Euro seit 1960. Allein Wanderratte und Wildkaninchen sollen eine Ernte im Wert von insgesamt über 100 Milliarden Euro von den Feldern weggefressen haben. Sind solche Beträge nicht Grund zum Handeln?
Das Bundesumweltministerium findet: ja. Es hat nach einer entsprechenden EU-Verordnung 2015 einen Aktionsplan für den Umgang mit invasiven Arten entwickelt, überlässt aber den einzelnen Ländern das Management. Innerhalb der Länder sind die Interessen unterschiedlich verteilt und der Plan ist nicht immer klar. Denn die Landesregierungen arbeiten mit unvollständigen Listen – invasive Tiere und Pflanzen sind in Deutschland nur unzureichend erfasst. Über manche Arten weiß man, wie großflächig sie für Probleme sorgen, über andere nicht. Für manche Arten gibt es effektive Sofortmaßnahmen, für viele andere nicht.
So existieren neben einer Unionsliste, die die invasiven Arten für den gesamten EU-Raum umfasst, noch eine lokale Aktionsliste, eine Handlungsliste, eine Beobachtungsliste und eine Managementliste. Die kann man dann für jedes Bundesland herunterladen oder in seiner Kleingartenordnung nachlesen, konkrete Handlungsanweisungen gibt es kaum.
Die eine Gartenbesitzerin wütet dann eben halbherzig gegen die eigene invasive Wildnis an, der andere macht sich die Mühe nicht. Wer den Deich unverbuscht halten will, gräbt die Traubenkirsche aus. Wer den Buchsbaum mag, setzt dem Buchsbaumzünsler ein Ende. Und wem die Nase juckt, der reißt die Beifußambrosie aus. Denn, und auch das ist ein Faktor, die Eindringlinge können für allergische Reaktionen sorgen – und im schlimmsten Fall für Krankheit.
Der Mückenatlas
Im Büro bei Doreen Werner vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung in Müncheberg warten schon wieder Dutzende neue Umschläge. Jeden Tag ist die Postkiste voll. Ihr Inhalt sind tote Mücken. Jahrzehntelang hat sich die Forschung nicht für Mücken interessiert. Von ihnen ging keine Gefahr mehr aus, in Deutschland gab es seit den Fünfzigerjahren keinen einheimischen Malariafall mehr. Durch die invasiven Arten hat sich das mittlerweile geändert.
„Seit 2011 erfassen wir die Einsendungen in einem Mückenatlas“, erklärt Werner. Die HobbyjägerInnen sollen dazu Mücken mit einem Glas oder Becher einfangen, unversehrt im Gefrierfach ins Jenseits und anschließend zum Leibniz-Zentrum nach Müncheberg befördern. „Diese Daten sind unheimlich wertvoll für uns“, sagt Doreen Werner. „Ohne die Citizen Science hätten wir die nicht.“
Das Institut hat die Daten, Doreen Werner hat die Arbeit. Sie bestimmt die Stechmücken, Kriebelmücken und Gnitzen unter dem Mikroskop. „Mit bloßem Auge ist das unmöglich“, sagt sie. „Die Muster, die Punkte auf den Flügeln, die Größe, es gibt so viele Merkmale, die man genau unterscheiden muss.“ Niemand im Institut kennt die so genau wie Doreen Werner. Damit ist sie eine ständig gefragte Expertin, sowohl bei den KollegInnen als auch in den Medien. Und die wollen seit Jahren nur eines wissen: Wie gefährlich ist die Asiatische Tigermücke?
Penetranter Blutsauger
Die gestreifte Nervensäge ist nicht halb so groß wie unsere Hausmücke, aber doppelt so lästig. „Die heimischen Mücken fliegen schüchtern und summend an“, erklärt Doreen Werner. „Die Tigermücke hört man erst gar nicht. Sie verfolgt ihr Ziel penetrant.“ Die Biologin hat den Blutsauger im Visier, weil er etliche Viren übertragen kann, darunter das Dengue-, West-Nil- und Zika-Virus.
Spätestens seit dem Zika-Sommer 2016 seien die Leute verunsichert, sagt Doreen Werner. Die Tigermücke wird als genauso gefährlich angesehen wie damals der Pestfloh, und viele Menschen glauben, schon einmal von einer Tigermücke gestochen worden zu sein. Tatsächlich aber landen nur wenige echte Exemplare dieser Art unter dem Mikroskop der Expertin.
In fast allen Ländern Europas gilt die Tigermücke als etabliert. In Deutschland tritt sie regelmäßig auf. Nachdem seit 2007 über Jahre hinweg nur Einzelexemplare gefunden wurden, haben Doreen Werner und ihr Institut inzwischen auch größere Populationen nachgewiesen: in Bayern, Baden-Württemberg und Berlin.
Keine Panik
So geht Doreen Werner jedem Hinweis nach. Identifiziert sie eine Tigermücke, fährt sie zum Fundort und untersucht die Umgebung. Sie checkt die Lebendfallen, die das Institut zusätzlich aufhängt, und informiert die Behörden. Die nehmen dann Regenfässer und Vogeltränken, Eimer und Gießkannen unter die Lupe, um zu klären, ob es sich bei der Tigermücke nur um einen angeschwirrten Einzelfall handelt oder ob es bereits Larven gibt, die als nächste Generation ausschwärmen könnten. Die geschlüpften Mücken müssten dann das Blut einer an einem Tropenvirus erkrankten Person saugen und sich selbst infizieren, um das Virus übertragen zu können.
Noch ist der Moskito aus Asien aber nicht flächendeckend in Deutschland verbreitet. Auch hat es noch keine Ausbreitung von Denguefieber oder einer anderen Tropenkrankheit gegeben. „Vor drei Jahren hatten wir einmal einen Denguefall in einem Krankenhaus in Freiburg“, erzählt Werner. „Zur selben Zeit wurden wir über eine Tigermückenpopulation an einem Friedhof in der Nähe informiert.“ Der Patient wurde sofort verlegt, um Erreger und Mücke nicht zusammenzubringen. Schließlich muss sich auch eine Mücke erst einmal anstecken.
Bis dahin bleibt der Wirbel um die Tigermücke Panikmache. Trotzdem liegt es auf der Hand, dass sich die invasive Art ausbreitet – und mit ihr die Gefahr von Krankheiten. Der Klimawandel begünstigt dabei die Einwanderung oftmals.
Klimakatastrophe beschleunigt
Die Geschwindigkeit der Entdeckung neuer Arten ist weltweit rasant gestiegen. Tiere und Pflanzen fühlen sich plötzlich an Orten wohl, an denen es ihnen Jahre zuvor noch zu kalt, zu nass, zu trocken oder zu heiß gewesen wäre.
In Ostafrika gehen riesige Flächen an Weideland durch eine Mimosenart verloren. In Kalifornien explodiert der Schwarze Senf und verwandelt die Äcker in ein einziges Dickicht.
Fabian Sittaro hat die Entwicklung in Deutschland erforscht. In seiner Doktorarbeit an der Universität Leipzig verknüpft er Geografie und Biologie miteinander, um den Lebensraum von invasiven Pflanzen zu kartieren. Die Habitate wurden aus Satellitenbilden erfasst und auf klimatische Veränderungen in puncto Temperatur und Niederschlag untersucht. „Die Mehrzahl der invasiven Pflanzen werden durch den Klimawandel begünstigt“, resümiert der 34-Jährige im Videocall, eine unverwüstliche Schusterpalme grünt im Hintergrund.
Bessere Daten
Am stärksten profitierten die Pflanzen, die noch keinen großen Lebensraum für sich beanspruchen: das Kamtschatkaveilchen, der Blauglockenbaum. „Die kommen noch nicht häufig in freier Wildbahn vor, weil sie oft nicht so frosthart sind.“ Aber das müssen sie ja auch bald nicht mehr sein. Umgekehrt würden die bereits als invasiv bekannten Problempflanzen nicht viel problematischer. „Der Riesenbärenklau und das Drüsige Springkraut werden es in den nächsten fünfzig Jahren deutlich schlechter bei uns haben“, so Sittaro.
Seine Karten sollen bald auf einer Website veröffentlicht werden, um zu veranschaulichen, an welchen Orten welche Arten welche Effekte haben. „Wir müssen genau wissen: Wo ist das Habitat? Wie ist die Ausbreitung? Erst dann kann man rechtzeitig und effektiv eingreifen.“
Mit der Modellierung aus Satellitendaten, Fernerkundungsverfahren und maschinellem Lernen verschafft Sittaro den ganzen Listen und Plänen des Ministeriums überhaupt erst eine Grundlage. „Schwarz-Weiß-Denken und emotionale Befindlichkeiten helfen der Debatte nicht“, sagt der Forscher. „Daten aber schon.“
Platz für die Wildnis
Zwanzig Jahre lang war TU-Professor Ingo Kowarik Berlins Landesbeauftragter für Naturschutz. Heute weiß er: „Eine Bekämpfung ist theoretisch möglich, aber praktisch eine Riesenaufgabe“, sagt er. „Nun ist die Frage: Wohin lenke ich meine Energie? Ausschließlich auf die neuen Arten sicherlich nicht.“ Laut Kowariks Daten spielen bei der Gefährdung heimischer Pflanzen Neophyten eine gar nicht so große Rolle. Intensive Landnutzung und durch den Menschen zerstörte Lebensräume lösen Artensterben viel häufiger aus.
„Ich glaube, es lohnt nicht, eine Art an sich zu bekämpfen. Wenn wir versuchen, die biologische Vielfalt zu erhalten, muss das auch mit einer Aufgeschlossenheit für den Wandel der Natur vereinbar sein.“
Der Wildnis neuen Raum zu verschaffen, werde künftig umso wichtiger. Gemeint ist damit nicht nur eine nach unseren Vorstellungen intakte Natur. Götterbaum, Bärenklau und Knöterich haben gezeigt, dass sie sich auch auf stillgelegten Fabrikanlagen und Aschehalden wohlfühlen, auf vertrockneten Feldern, gerodeten Waldflächen und vergifteten Weiden, also an Orten Wurzeln schlagen können, die der industriellen Umweltzerstörung zum Opfer gefallen sind. Denn die Spezies, die für diese Welt den größten Schaden anrichtet, bleibt immer noch der Mensch.
Text und Bild: Philipp Brandstädter