„Wir müssen neue Werte schaffen, nicht nur Müll“

„Wir müssen neue Werte schaffen, nicht nur Müll“

erschienen im GREEN Magazine 2021

Die NGO Cradle to Cradle will unsere Wirtschaft und Gesellschaft auf den Kopf stellen. Im Interview sprechen die beiden Gründer Nora Sophie Griefahn und Tim Janßen über den Wert von Rohstoffen, die Null-Bock-Haltung der Industrie und den Mut zum Wandel.

Neben den vielen Dingen, die die Menschen zum Leben brauchen, produziert unsere Wirtschaft vor allem riesige Berge aus Müll, kontaminierte Gewässer, versuchte Böden und ziemlich viel dicke Luft. Dass das nicht sein muss, sagt die NGO Cradle to Cradle, kurz C2C. 2012 von der Umweltwissenschaftlerin Nora Sophie Griefahn, 29, und dem Wirtschaftswissenschaftler Tim Janßen, 34, in Berlin gegründet, hat die NGO sich zum Ziel gesetzt, eine neue Wirtschaftsphilosophie zu etablieren, die nicht auf linearen Wertschöpfungsketten beruht, sondern auf geschlossenen Systemen, in denen sich Ressourcen immer wieder erneuern. Eine Kreislaufwirtschaft.

Ihr seid Geschäftsführende der Cradle to Cradle NGO. Was hat es damit auf sich?

Tim Janßen: Cradle to Cradle (C2C) bedeutet „von der Wiege zur Wiege“, oder auch: vom Ursprung zum Ursprung zurück. Es geht dabei um eine andere Art über unser Leben und unsere Wirtschaft nachzudenken. Bislang haben wir mit aller Selbstverständlichkeit Müll erzeugt. Weil wir nicht wussten, was wir mit den wertvollen Materialien anstellen sollen außer sie wegzuwerfen oder zu verbrennen. Wir haben Produkte hergestellt, die uns krank machen, weil sie schädliche Inhaltsstoffe enthalten. Unser Selbstverständnis ist, bessere Produkte mit besserer Qualität herzustellen. C2C steht dabei für eine Philosophie, in der der Mensch nicht mehr Schädling, sondern Nützling ist und als Teil der Natur einen positiven Fußabdruck hinterlässt.

Nora Griefahn: Durch C2C entstehen Dinge, die nach der Nutzung immer noch genauso viel wert sind. Die Materialien gehen nicht mehr linear von der Wiege zur Bahre. Sie wandern in kontinuierliche Kreisläufe zurück und bleiben damit nützlich. Das ist unsere Denkschule, die erste Dimension. Die zweite ist das Designkonzept. Hier geht es darum, C2C in die Praxis umzusetzen und schon in den Anfängen der Herstellung die benötigten Ressourcen als Rohstoffe für ein neues Produkt zu sehen. Produkte so zu gestalten, dass sie gesund sind für Mensch und Umwelt. So verlieren die Materialien nicht mehr an Qualität und es entsteht kein Müll mehr.

Wie kann das funktionieren? Wir benutzen doch ständig Dinge, die verschleißen.

Tim: Wir unterscheiden da zwischen zwei Kreisläufen. Im technologischen Kreislauf zirkulieren Güter, die sich nicht abnutzen und immer wieder verwendet werden können. Im biologischen Kreislauf hingegen gelangen Verbrauchsgüter in die Umwelt. Das dürfen sie auch, solange sie biologisch abbaubar sind. Ein Fahrradreifen, dessen Abrieb in die Umwelt gelangt, muss also so produziert werden, dass er Nährstoff für etwas anderes werden kann anstatt schädlich zu sein.

Und solche Reifen gibt es?

Nora: Etliche kreislauffähige Produkte gibt es längst, andere sind noch nicht auf dem Markt, obwohl die Lösungen schon gefunden sind. Die Reifen gibt es leider noch nicht. Dabei kommen 40% des Plastiks, das aus Deutschland in den Meeren landet, von Autoreifen. Man muss also unbedingt das ganze Auto so konzipieren, dass es in beiden Kreisläufen funktioniert. Für den technischen Kreislauf wäre es ein perfektes Rohstofflager. Man müsste die Rohstoffe zurückgewinnen, anstatt sie nur zusammenzupressen und schlechteren Baustahl daraus zu machen.

Vielleicht können wir es nicht besser.

Nora: Doch, können wir. Meistens ist das Problem nicht die Umsetzbarkeit, sondern unsere gewohnte Art zu wirtschaften. Es wird auf Effizienz abgezielt, aber nur während der Nutzung. Es wird nicht bedacht, was am Ende mit dem Material geschieht. Vielleicht wäre die Effizienz ja höher, wenn mir das Produkt nach der Herstellung nicht egal wäre. Das ist der falsche Ansatz. Ich könnte doch das Material wiederverwenden und bin in der zweiten Nutzungsphase viel effizienter. Doch dafür muss ein gesamtgesellschaftliches neues Verständnis her. Wir müssen radikal umdenken und alles anders machen.

Tim: Und das entwickelt sich allmählich. Als ich vor zehn Jahren anfing, mich mit C2C zu beschäftigen, gab es zwar schon Ansätze in Wissenschaft und Wirtschaft, aber in der Gesellschaft war das Thema längst noch nicht bekannt. Dann habe ich Nora kennengelernt, sie hatte sich schon länger mit der Sache befasst. Wir hatten beide den Drang etwas zu verändern. 2012 haben wir die NGO gegründet, um Menschen zu vernetzen und Bildungsarbeit zu leisten. Heute bekommen wir so viele Anfragen. Und wir bekommen Rückenwind von der EU-Kommission. Wir beraten immer mehr Leute aus Wirtschaft, Politik, Verbänden, um die Sache zu verbreiten.

Einer der ersten Wissenschaftler auf dem Gebiet war der Chemiker Michael Braungart, der mal ganz nebenbei auch dein Vater ist, Nora. Deine Mutter war Umweltministerin und hat Greenpeace Deutschland gegründet. War dein Weg vorgegeben?

Nora: Nicht unbedingt. Mein Zugang war eher der, die Welt zu hinterfragen. Damit bin ich schon bei manchen Lehrkräften angeeckt. Ich wollte mehr verstehen, mehr Zukunft gestalten, und weil ich in der Schule zu wenig darüber mitbekommen hatte, entschied ich mich Umweltwissenschaften zu studieren. Dort ging es viel um Umweltschutz, Nachhaltigkeit und um die moralische Perspektive, etwas nicht zu tun, damit man weniger schlecht ist. Überall ging es nur noch um Verzicht. Aber das war mir zu passiv. Ein bisschen weniger Idiot zu sein, reicht nicht aus. Der logische nächste Schritt für mich war deshalb C2C.

Ist das Bemühen um Nachhaltigkeit denn sinnlos?

Tim: Nachhaltigkeit ist meist gut gedacht, aber oft nicht gut gemacht. Das Ziel ist vernünftig und nachvollziehbar. Man erkennt viel guten Willen – aber nur wenig gute Taten. Mit Recycling und Langlebigkeit ist uns nicht geholfen. Wir lösen keine Probleme, indem wir ein bisschen weniger Müll machen. Auch nicht, indem wir Müll upcyclen und eine Schuhsohle aus einem alten Autoreifen basteln.

Warum ist Cradle to Cradle der bessere Ansatz?

Tim: Er ist menschlicher.

Nora: Er führt dazu, dass man überhaupt mit Optimismus in die Zukunft schauen kann.

Tim: Das, was den Menschen ausmacht, ist der Gestaltungswille. Was aus ihm entspringt, können wir als Kultur zusammenfassen. Wenn wir nicht mehr gestalten, entfernen wir uns vom Menschsein. Der Mensch hat Lust, er will genießen, er will sein, er will machen, größer, schöner, kreativer. Wenn wir die Welt verändern wollen, dann mit allen Menschen zusammen. Dann müssen wir den Gestaltungswillen nutzen. Bei C2C machen wir das, was uns die Natur vormacht. Wir schaffen Werte anstatt Müll.

Wann sind wir eigentlich falsch abgebogen und haben den ganzen Müll verursacht?

Nora: Das ist nicht mit böser Absicht geschehen. Wir haben ja keinen Müll bewusst erfunden. Das ist passiert, weil Menschen neugierig sind und Dinge ausprobieren. PVC zum Beispiel wurde erfunden, weil man aus der industriellen Produktion so viel Chlor übrig hatte. Das war damals ein großer Gewinn, heute haben wir einen Riesenärger damit. Weil Menschen auch Gewohnheitstiere sind und bewährte Dinge einfach beibehalten. Erst lief beim Entwickeln von Materialien etwas schief und dann bei der Überlegung, was man damit macht. Es wurden Kunststoffe geschaffen, die einerseits viel Gutes gebracht haben. Mehr Hygiene zum Beispiel. Ohne die Kunststoffe würden wir alt aussehen – oder besser: nicht mehr so alt werden. Auf der anderen Seite sind manche Kunststoffe die Pest.

Tim: Manchmal geht unser Fortschritt einen Schritt zu weit. Dann muss man ihn später wieder einfangen. Das ist heute genauso wie damals in der Industriellen Revolution, die Geschichte wiederholt sich. Die Art, wie wir wirtschaften, schafft immer wieder ein Ungleichgewicht. Und das in sehr kurzer Zeit. Andere Lebewesen machen das in ständiger Balance. Die Biomasse von Ameisen ist zwar etwa viermal größer als unsere, aber trotzdem machen die keinen Abfall. Wir müssen uns klüger anstellen und einen volkswirtschaftlichen Weg im Ökosystem finden, der Ressourcen nicht nur schont, sondern sogar wieder aufbaut. Wir müssen mit unserer Landwirtschaft Böden mit Nährstoffen anreichern. Die Gewässer müssen sauberer werden, während wir sie nutzen.

Wie genau können wir wirtschaften und wachsen, ohne dabei den Planeten zu ruinieren?

Nora: Schauen wir uns die Debatte um den Kohlenstoff an. Das ist eine Ressource, die im Kreislauf gehalten werden muss. Wir können ihn nicht in Form von Öl aus dem Boden nehmen und verbrennen, schon gar nicht in der Geschwindigkeit. Natürlich können wir Rohstoffe nutzen, das ist grundsätzlich nicht verkehrt. Wir schaden der Umwelt ja nicht, weil wir Rohstoffe nutzen, sondern weil wir sie verschwenden. Der Kohlenstoff muss also zurück in den Boden, genauso Phosphor, den wir mitsamt den Pflanzen entnehmen. Aber wir bringen ihn nicht auf die Felder zurück, sondern verbrennen ihn als Klärschlamm. Nur, um dann wieder Phosphor aus Gesteinsminen zu holen und den auf die Felder zu bringen, allerdings mitsamt Cadmium und Uran, was unsere Böden verseucht. Wir müssen mitdenken, an allen Stellen, und zwar im Kreislauf, nicht in linearen Prozessen.

Was sagen die produzierenden Unternehmen dazu?

Tim: Das ist die große Herausforderung, die zu überzeugen. Und ein Unternehmen, dass C2C sein will, muss eine ganzen Zulieferer überzeugen. Der Begriff Wertschöpfungskette bedeutet, dass du mit etwas in partnerschaftlichen Abhängigkeiten in den Verkehr bringst. Das heißt dann eben auch, dass du jedem Partner ein Menschenbild verklickern musst. Du musst sie dafür begeistern. Ein C2C-Kleidungsstück zum Beispiel hat einen Stoff, eine Farbe, einen Garn, einen Reißverschluss, einen Knopf – und für jedes Einzelteil einen eigenen Hersteller. Alle müssen mitspielen. Da stehst du in der Produktion und sagst: Ich will ab jetzt Baumwollgarn statt Polyester. Ein Partner antwortet: Das geht nicht, der Faden reißt. Dann musst du halt so lange an den Maschinen herumtüfteln, damit das im industriellen Maßstab mit einem anderen Faden funktioniert. Und das, nachdem du den anderen Garn 30 Jahre nicht gewechselt hast. Klar stößt du da auf Gegenwind. Die werden alle dagegen sein. Die Leute haben keinen Bock auf Veränderung, erst Recht nicht, wenn sie Geld kostet. Und dann musst du auch noch erklären, dass nicht der Kunde das gerade will, sondern du als Hersteller selbst, weil du Verantwortung übernehmen willst. Denn der Markt ist noch nicht so weit. Märkte sind oft kompliziert, da gibt es viel auszuhandeln.

Kann diese Verantwortung überhaupt wirtschaftlich profitabel sein?

Nora: C2C kann sich lohnen, weil die verwendeten Materialien zurückkehren. Anfangs ist es vielleicht teurer, weil man Geld in Innovation stecken muss. Das kostet was. Aber das Produkt selber muss nicht teurer sein. Das Unternehmen kann entscheiden, ob es die Innovationskosten auf das Produkt umwälzt oder nicht.

Tim: Gerade für kleinere Unternehmen ist es deshalb schwer, diesen Anschub aufzubringen. Wenn sie das aber geschafft haben, schlagen die positiven Effekte ökonomisch zurück. Es ist doch das Marketing und das Branding, das so viel Geld kostet. Deine Arbeiter und den Planeten nicht auszubeuten, macht nur ein paar Cent in der Lieferkette aus. Henry Ford soll doch gesagt haben: „You can have any colour you like as long as it’s black.“ Man könnte jetzt sagen: „You can have any product as long as it’s cradle.“ Die Unternehmen müssten nur diesen neuen Standard setzen.

Nora: Dafür müssen Leute vorgehen. Dafür braucht es viele gute Leuchttürme, die zeigen, dass das möglich ist. Das muss den Menschen erst einmal allen bewusst werden. Die Hersteller müssen begreifen, dass ihre Rohstoffe etwas wert sind. Manche tun das jetzt schon. Der Produzent dieses Teppichbodens hier freut sich schon darauf, dass wir ihn nicht mehr nutzen wollen. Weil er weiß, dass die Qualität super ist und sich das Material wieder in den Kreislauf bringen lässt. So ist das auch mit unserer Spülmaschine, die wir nicht als Gerät, sondern pro Waschgang bezahlen. Wenn wir die Maschine nicht mehr wollen, nimmt sie der Hersteller zurück.

Tim: Das Bestechende ist, dass es wahnsinnig viele Beispiele gibt. Aus dem Baubereich, aus dem Verpackungsbereich, Druckereien, die mit anderen Farben arbeiten. Im Textilbereich gibt es Riesen wie C&A und Lidl, die es schaffen, entlang einer komplexen Wertschöpfungskette von der Faser über die Garne bis zu den Farbstoffen alles zu verändern. Es gibt viele differenzierte Fragestellungen, die immer klarer beantwortet werden können. Diese Faser hier zum Beispiel! Mit der wird eine Trinkflasche hergestellt. Das ist ein modifizierter Polyester, der biologisch abbaubar ist. So etwas begeistert uns.

Was gibt es noch an C2C Leuchttürmen?

Nora: Es gibt viele große Bauprojekte, im niederländischen Venlo, in Hamburg, Berlin, auch in kleineren Orten in Süddeutschland. Und natürlich gibt es uns! Mit unserem Lab haben wir selbst als Bauherren gezeigt, dass man in der Sanierung C2C sein kann.

Tim: Wir haben nur mit kreislauffähigen Materialien gebaut. Der Dämmstoff ist aus Seegras, die Fenster sind austauschbar, weil verschraubt anstatt mit Bauschaum zugeklebt. Die Trennwände, die hier eingezogen sind, kannst du komplett demontieren und an anderer Stelle wieder einbauen. Die sind so eingebaut, dass du die immer wieder weiter nutzen kannst, anstatt sie zu recyclen.

Wofür nutzt ihr diese Räume?

Nora: Wir zeigen mit dem Lab selbst, wo C2C in unserem Alltag schon alles möglich ist. Wir zeigen etliche Beispiele von Produkten und ihren Hersteller. Es geht weniger darum, ein perfektes Büro darzustellen, sondern die Möglichkeiten. Manche Wände lassen wir unverputzt, damit man zum Beispiel die halogenfreien Kabel sehen kann und so weiter. Wir beleuchten, was in der Entwicklung und der Forschung in den Unternehmen passiert. Und wir bringen Menschen auf Konferenzen zusammen und gemeinsam zum Umdenken.

Was steht diesem Umdenken am meisten im Weg?

Nora: Unsere eigenen Gewohnheiten, denke ich. Die Umwelt zu schützen darf keine Strafe für die Wirtschaft sein. Das müssen wir lernen zu verstehen. Natürlich brauchen wir auch vernünftige Rahmenbedingungen durch Gesetze. Das, was die EU mit dem Green Deal gemacht hat, ist schon gar keine schlechte Richtung. Es kann ruhig konkreter werden, wie wir uns die Erneuerung vorstellen. Wir brauchen eine circular economy, eine neue Wirtschaftsform. Wir brauchen einen Gesellschaftsvertrag, mit dem wir gezielt auf 2050 hinarbeiten. Da darf es nicht darum gehen, nur Schäden zu minimieren.

Tim: Häufig ecken wir auch bei Leuten an, die denken, dass sie bereits richtig denken. Wer aber darüber nachdenkt, globale Wertschöpfungsketten zu optimieren, bleibt immer noch im selben schlechten System. Dabei muss das gesamte Produkt und dessen Produktion hinterfragt werden. Wir können optimieren und effizienter sein, wir können weniger Material verbrauchen, aber das bedeutet immer noch nicht, dass wir kreislauffähig sind. In der Bauindustrie bewegen wir da recht viel, in anderen Bereichen haben wir noch zu tun.

Mal angenommen, ihr wärt intellektuelle Diktatoren der Welt. Was würdet ihr ändern?

Nora: Also, C2C funktioniert auch in demokratischen Systemen. Die freie Marktwirtschaft hält uns nicht davon ab, die Umwelt zu schützen. Aber es wäre sicher wichtig, dass man mit dem linearen Denken keinen Profit mehr machen kann. Macht und Erfolg dürfen nicht daran hängen, falsch zu handeln. Das verändert sich mit den Generationen. Das Prestige, etwas zu besitzen, ist heute schon nicht mehr so stark vorhanden wie früher. Diejenigen, die den Wohlstand schon von ihren Eltern vererbt bekommen haben, fragen sich: Wie soll das weitergehen? Wollen wir noch reicher werden oder etwas grundsätzlich ändern?

Tim: Wenn ich etwas beeinflussen könnte, dann würde ich gerade eben nicht sagen, wie es gehen soll. Das beste wäre, nur den Auftrag in die Gesellschaft zu geben, an diesen Stellen nachzudenken. Bei C2C geht es um vielfältige Lösungen. Man muss immer im Einzelfall herausfinden, wie C2C umgesetzt werden könnte. Jeder einzelne, der etwas herstellt, verkauft und in den Verkehr bringt, muss darüber nachdenken: Wer will mein Produkt nutzen, wie wird es verwendet, welche Materialien brauche ich dafür, wie geht das in den Kreislauf? Da gibt es in keinem Fall nur eine Antwort drauf. Da geht es um zigtausende Lösungsansätze. Was wir brauchen, ist ein Bewusstseinswandel hin zum positiven Fußabdruck. Für den kämpfen wir.

„Parteivorsitz? Bloß nicht!“

erschienen in der taz am Wochenende am 8. Mai 2021

Sebastian Hotz aka El Hotzo gelang 2020 im Internet der Durchbruch. Ein Gespräch über Serotonin durch Likes und die größte Krankheit der deutschen Comedy.

Es ist Samstag, wir sitzen mit Bier und Brause auf einer Bank im Volkspark Humboldthain in Berlin. Um uns herum machen Menschen das, was seit einem Jahr alle machen: spazieren gehen. Wir schauen Richtung Wedding und prosten uns zu.

taz am wochenende: Sebastian, du bist mitten in der Pandemie nach Berlin gezogen. Warum bloß?

Sebastian Hotz: Ich habe vorher in Erlangen studiert, gearbeitet – und gekündigt. Hätte ich gewusst, dass ein halbes Jahr später Pandemie ist, hätte ich das nicht gemacht. Aber ich hatte fest vor, wegzuziehen und ein paar Sachen nachzuholen.

Die Freiheit der Großstadt atmen, die Kultur, das Nachtleben …

Genau. Was ich gerade mache, kann ich sowieso von überall machen. Und dann habe ich im Wedding eine günstige Wohnung gefunden. Bisschen runtergerockt, wie der Rest meines Körpers.

Und dort hast du dann die Härte des Weddings kennengelernt.

Geht so. Zurzeit ist es ja eigentlich immer wie sonntagmorgens im Winter. Immer alles zu, immer alles kalt. Ich kenne Berlin nur als kalte Stadt, in der Leute verzweifelt auf der Suche nach Freizeitgestaltung sind.

Spazierengehen und Schwänefüttern sollen hoch im Kurs stehen.

Schwäne sollen sich mal ficken. Das sind durch und durch fiese Tiere. Aber wo waren wir?

Wir wollten etwas über den Menschen hinter dem Twitteraccount erfahren. Ich hatte nach deinen ersten Tweets ja vermutet, du seist eine Frau.

Das höre ich oft und nehme es als Kompliment. Das klingt vielleicht ein bisschen Einhorn-Kondom-feministisch, aber ich finde es schön, wenn mein Humor nicht eindeutig männlich ist. Das habe ich auch gelernt, diesen gewissen Ton, den ich gut finde. El Hotzo ist ein Produkt dessen, was ich die ganze Zeit im Internet konsumiere.

Wie viel El Hotzo steckt denn in Sebastian Hotz? Gib uns einen Richtwert.

20 Prozent. Nicht gerade dann, wenn ich komplett ausgedachten Bullshit rede. Aber ein paar wiederkehrende Themen sind schon als Wahrheit erkennbar: die Unsicherheit, die Selbstzerstörung, ein paar politische Themen und die Beziehung zu meinem Vater.

Was ist mit den anderen 80 Prozent?

Ich bin zum Beispiel viel angreifbarer und verletzlicher als El Hotzo. Ich beschäftige mich zu viel mit Leuten, die mich nicht gut finden. Das würde ich niemals offen zugeben, außer natürlich, die taz redet mit mir. Ich habe sehr gern Menschen um mich, was leider nicht so richtig wahrgenommen wird. In meinem alltäglichen Umgang mit Menschen berührt mich viel. Ansonsten bin ich nicht gerade eine mehrdimensionale Persönlichkeit. Dafür bin ich aber auch nicht der fürchterliche Eigenbrötler, der ich im Internet vorgebe zu sein. Genauso tue ich extrem zynisch und ironisch, was gar nicht stimmt. Aber vielleicht ist das auch nur eine Masche, um mich noch besser zu verkaufen, wer weiß das schon genau.

So könntest du dich jedenfalls prima auf deinem Datingbörsen-Profil beschreiben.

Ich habe panische Angst vor Onlinedating. Da mache ich mich zu sehr angreifbar. Das ist nicht meine Bühne. Das ist, als hätte man das Schlechteste einer Party entnommen. Nicht, dass ich ein großer Fan vom Dating auf Partys wäre. Man macht sich von der Zuneigung des anderen Menschen so abhängig. Und ich finde es weird, Onlinedatinggespräche zu eröffnen. Wie geht das?

Hey du, voll schöne Bilder, wie war dein Wochenende? Aber bis du auf der nächsten Party in der verrauchten Küche Handynummern tauschst, wird es noch ein bisschen dauern.

Im Moment bin ich sehr gern allein in meiner Wohnung und schaue zum siebten Mal die Formel-1-Zusammenfassung von 1991. Ich bin riesiger Formel-1-Fan, ich weiß nicht, warum.

Du twitterst auch viel mit Referenz auf Filme und Musik aus den 80ern. Wie kann das sein? Du bist 25.

Ich bin in einem Dorf in Franken aufgewachsen. Im Jahr 2000 kam dort gerade das an, was der Rest Deutschlands in den 80ern und 90ern erlebt hat. Meine Eltern haben mich nicht sehr viel fernsehen lassen. Das war sehr protestantisch. Stattdessen habe ich viel mitbekommen, indem ich die Fernsehzeitschrift gelesen habe. Ich habe mir alles durchgelesen, was ich nicht schauen durfte.

Du hast „Beverly Hills Cop“, „Karate Kid“ und „Zurück in die Zukunft“ als Programmbeschreibung in der Fernsehzeitschrift gelesen?

Ja. In der TV14 war außerdem immer so ein komischer Wissensteil drin, der war toll. Und dazu noch die Pornowerbung der Jamba-Sparabos auf der letzten Seite. Die fingernagelgroßen Vorschaubilder haben mir schon gereicht. Es war alles toll, was nach nackter Haut aussah.

Du bist weiß, privilegiert, Fan der Formel 1 – und von Arminia Bielefeld. So viel Angriffsfläche, man müsste aus allen Ecken auf dich einhacken.

Aber das mache ich ja schon selbst.

Und die anderen schauen zu …

… und können sich überlegen, ob es sich lohnt, zusätzlich auf mich einzuprügeln. Und es lohnt sich! Denn sich selbst lächerlich machen, hat sich letztlich zu einem Karrieremove verselbstständigt, obwohl das nicht so geplant war. Das tut mir irgendwo leid.

Hast du das in der Schule schon gelernt? Die Schwäche, das Weiche preiszugeben?

Sich selbst verletzen, damit es andere nicht tun? Natürlich! Das Weiche entspringt ja nur aus der Härte anderer. Anstatt auf jemand anderen einzuprügeln, machst du dich halt über dich selbst lustig. In der Hoffnung, dass niemand noch fieser ist. Als Abwehrstrategie kann ich das aber nur bedingt empfehlen.

Visierst du durch diese Verletzlichkeit eine spezielle Zielgruppe an?

Ich möchte am liebsten Leute erreichen, die ich cooler finde als mich selbst. Das funktioniert aber nicht mehr so gut, weil ich Mainstream geworden bin. Die Leute, die cooler sind als ich, lehnen mich mittlerweile ab. Die Menschen, die ich erreiche, sind die, die vor fünf Jahren die „Känguru-Chroniken“ gelesen haben. Das sage ich mit einem sehr abfälligen Tonfall. Das ist ein studentisches Milieu zwischen Anfang und Mitte 20, die späten Millennials, die frühe Gen Z.

Diese Leute müssen das Klima und die Werte unserer Gesellschaft retten. Haben die überhaupt noch etwas zu lachen?

So eine Verantwortung nach außen hin schließt den Spaß an der Selbstzerstörung nicht aus. Du kannst dir ja als 15-Jähriger vor der Mathestunde die erste Xanax einwerfen und trotzdem korrekt gendern.

Worüber hat die Generation davor gelacht?

Die hat unbedarfter gelacht. Ende der 90er gab es mit Harald Schmidt und Stefan Raab zwei Leute, die den gesamten Humor in Deutschland geprägt haben – und dazu absolut keine Haltung brauchten. Das geht nicht mehr, weil sich alle der gesellschaftlichen Probleme bewusst sind.

Das heißt, es gab früher mehr Randgruppenwitze als heute?

Es wurde mehr nach unten getreten. Über deutsche Klischees kann man sich natürlich immer noch lustig machen. Das ist ja auch ein großer Teil meines Humors. Die klassischen A­usländerwitze hingegen funktionieren nicht mehr, weil sich jeder der strukturellen Diskriminierung bewusst ist. Meist ist es zu blöd, sich schlicht über Äußerlichkeiten lustig zu machen.

Och, das geht schon manchmal.

Es kommt auf die Machtstruktur an. Wenn du den Innenminister von NRW als verwachsene Eule bezeichnest, dann ist das schon witzig, weil die Eule eindeutig mächtiger ist als du.

Darf man sich über Verschwörungen und ihre Fans lustig machen?

Nicht über die Einzelpersonen. Aber unbedingt über die große Erzählung, die darüber steht und eigentlich immer offen antisemitisch und rechts ist. Das muss man kritisieren. Es bringt aber nichts, diejenigen als dumm zu bezeichnen, die daran glauben. Da kann man genauso gut in Naziforen die Kommasetzung korrigieren. Das ist zu plump.

Du meinst, es kann mal passieren, versehentlich in Verschwörungsgefilde abzudriften?

Das ist mir selbst schon passiert, der Youtube-Algorithmus ist dafür verantwortlich. 2012 habe ich mir unglaublich viele Clips zum Weltuntergang angeschaut. Oder darüber, dass Aliens die Pyramiden gebaut haben.

Worüber lachst du selbst am meisten?

Meine Eltern sind so anstrengende Kabarett-Leute. Da wollte ich erst mitmachen. Ich habe „Die Anstalt“ geguckt, weil ich mich schlau fühlen wollte. Richtig lustig fand ich das nie. Stattdessen habe ich Serienformate gemocht, in denen nicht nur mit Punchlines gearbeitet wird, sondern auch mit Situationskomik. Slapstick-Humor ist in Deutschland unterrepräsentiert. Ich finde es unglaublich lustig, wenn jemand hinfällt. Das ist eine völkerverbindende Art des Humors.

Und worüber lachst du im Internet?

Ich kann ja mal meine Facebook-Gruppen vorlesen: tolle Koch- und Backrezepte mit drei Ausrufezeichen, Mallorca 2021, Trucker halten zusammen, Dogspotting Society, Goldstrand Forum Golden Sands, Böhse-Onkelz-Tattoos, Tupperware-Gruppe Deutschland, Waltz – Wanderschaft – Traditionelle Reisen von Handwerkern. Ich liebe die Kommentare dort. Ich interessiere mich einfach für Leute.

Du sendest jeden Tag zwanzig Tweets, das muss doch anstrengend sein.

Nein, das Twittern macht mir ja Spaß. Und den Gedanken denke ich sowieso. Da ist es egal, ob ich den jetzt noch ausformuliere oder mir eine Pointe dazu überlege. Natürlich habe ich mir dieses Denken antrainiert. Mein Gehirn ist inzwischen abhängig davon, dass da regelmäßig ein paar Likes reinschneien. Twitter und Instagram sind unglaublich wichtig für mein Ego als Serotoninquelle. Das mache ich für mich, als richtige Arbeit nehme ich das nicht wahr.

Trotzdem warten die Fans auf neue Witze. Die Zahl deiner Follower ist pandemisch exponentiell durch die Decke gegangen. Wann hast du gemerkt, dass du selbst mit Lustigsein Erfolg haben kannst?

Vor einem Jahr wurde mir klar, dass so etwas passieren könnte. Da hat mich das Vice-Magazin interviewt, weil ich 20.000 Follower hatte. Das war ein komischer Moment in meiner Eigenwahrnehmung. Da bekam ich so langsam das Gefühl: Hier könnte etwas wachsen. Es könnte sein, dass ich damit meinen Lebensunterhalt bestreiten könnte.

Das Pandemiejahr war also nicht nur schlecht.

Es tut mir unglaublich leid, aber 2020 war ein geiles Jahr für mich. Ich habe nun die Freiheit, kreativ zu schreiben und unter dem größtmöglichen Spaß dabei noch ein paar Euro zu verdienen. Daran hatte ich selbst nicht mehr geglaubt, das erfüllt mich mit seltsamer Ehrfurcht und Stolz. Das aber dann ins Verhältnis zu setzen, tut weh und fühlt sich falsch an: sich über 2020 freuen, während andere weinend von ihren Schichten nach Hause kommen. Im Sommer hatte ich jedenfalls mehr Follower, als es Coronafälle in Deutschland gab, so um die 200.000. Das ist mittlerweile leider anders.

Weißt du eigentlich immer, wie viele Follower du hast?

Aktuell über 700.000 auf Instagram und irgendwas mit 140.000 auf Twitter.

Was doppelt so viel ist wie Laschet und Söder zusammen.

Die haben ja auch keine Inhalte, die sie teilen könnten.

Schon mal über einen Parteivorsitz nachgedacht?

Bloß nicht! Das ist die größte Krankheit deutscher Comedy. Kaum hast du einen politischen Witz gemacht, kommen 20 Leute, die sagen: Mach du doch Bundeskanzler, wir würden dich wählen! Das ist nichts für mich. Ich mache destruktiven Bullshit. Von konstruktiven Inhalten bin ich noch ein gutes Stück entfernt.

Deine Umfragewerte wären aber nicht schlecht.

Die sinken auch wieder. Ich agiere in einer geschlossenen Blase, die an ihre Grenzen stößt. Ich bin mir bewusst, dass der Hype abflauen wird. Wie viele Leute sollen mir denn bitte schön noch folgen.

Fühlst du dieser Blase gegenüber eine Verpflichtung, jede Stunde einen neuen Joke abfeuern zu müssen?

Manchmal, aber eigentlich ist das blödsinnig. Wenn ich mal keine Muße oder keine Zeit habe, dann mach ich halt nichts. Meine Followerschaft zahlt mir nichts.

Aber die Follower schenken dir Likes. Ab wie vielen gibt sich dein Serotoninspiegel zufrieden?

25.000 Likes auf Twitter, 150.000 auf Instagram, das sind Werte, bei denen ich sage: Heute war ein guter Tag. Aber leider kicken die Likes nicht mehr so gut. Außerdem liegt das, was ich witzig finde und was andere witzig finden, oft weit auseinander.

Pack mal den Werkzeugkasten aus: Worüber lachen wir?

Aktuelles Thema, flaches politisches Statement, verbindende Allgemeinplätze, auf die sich alle einigen können. Auch der verweisende, referentielle Humor ist beliebt. Deshalb habe ich auch den Sohn erfunden. „K1 hört nicht auf zu wichsen.“

Ach, du hast gar keinen Sohn?

Nein, ich habe keinen Sohn. Das ist ein Twittermeme. K1 ist mal 7, 12 oder 31 Jahre alt. Sieben ist das tollste Alter. Du kannst schon lesen und bist schon ein bisschen geschäftsfähig, weil du Dinge kaufen kannst. Und mit den Witzen darüber kann man sich gut über die twitternden Eltern lustig machen.

Ist es wichtig für dich, wer dir Likes schickt?

Mittlerweile nicht mehr. Früher fand ich es uneingeschränkt cool, wenn mich Böhmermann retweetet hat. Was, ich? Auf dieser Plattform? Das war damals ein großes Ding. Mittlerweile ärgere ich mich eher über die, die mich retweeten, ohne dass ich das möchte.

Inzwischen bist du Autor für Böhmermanns „ZDF Magazin Royale“. Hattest du Angst, als du Witzigsein zum Beruf gemacht hast?

Ich hatte große Angst, dass ich dem Druck nicht standhalte. Dass ich der klassische Hochstapler bin und nicht abliefern kann. Die Angst ist noch nicht komplett weg, aber bislang bin ich noch selbstbewusst genug.

Auch selbstbewusst genug, um mit Shitstorm umzugehen?

Ja, davon bekomme ich ja genug ab. Und oft ist der auch gerechtfertigt. Ich kann die Kritik, die die Leute äußern, gut annehmen. Dann lösche ich den betreffenden Tweet. Manchmal habe ich nicht genügend nachgedacht und reflektiert, was ich sage. Manchmal bekomme ich aber auch nur stumpfen Hass ab. Das ist die umgedrehte Wirkung des Serotonins der Likes. Auch daran gewöhnt man sich.

Hast du aus der Kritik schon gelernt?

Die hilft mir sehr. Ich mache mich zum Beispiel nicht mehr über Selbstverletzung lustig. Zwar ist das für mich ein Thema, worüber ich lachen kann. Aber anderen, die das lesen, kann das wehtun. Also lasse ich das.

Traust du dich eigentlich noch in dein Heimatdorf, als gottloser, linksversiffter, sexuell desorientierter Verräter aus der Großstadt?

Was wollen sie denn machen, mir aufs Maul geben? Ich mache mir keine Sorgen. Meine Bekanntheit ist in der Pandemie entstanden. Und in der Pandemie gibt es keine Dorffeste. Aber ich glaube schon, dass das noch unangenehm wird. Ich hoffe, dass ich meinen Eltern keine Unannehmlichkeiten bereite. Falls es doch so sein sollte: Jetzt sind wir quitt!

Sebastian Hotz hat den nächsten Termin. Außerdem müssen wir nach Bier und Brause beide dringend aufs Klo. Wir verabschieden uns, Minuten später twittert El Hotzo: „Frau Merkel, öffnen Sie die Kneipen oder legalisieren Sie das Wildpinkeln.“

Interview: Philipp Brandstädter

„Prinzessin Lillifee, furchtbar“

„Prinzessin Lillifee, furchtbar“

erschienen in der taz am Wochenende am 30. April 2021

Er gestaltet Kinderbücher, die auch Große mögen. Sebastian Meschenmoser übers Huhn Chick und Michael Ende, das N-Wort und Geschlechterstereotype.

Wir treffen uns in Meschenmosers Atelier am Berliner Park Hasenheide. An den Wänden hängen Bilder in Arbeit, Öl auf Leinwand: menschenleere Freizeitparks, wo Kojoten mit Tentakeln kämpfen und Affen auf Dinoskeletten klettern. Dino- und Affenfiguren stehen neben Pflanzen auf den Fensterbänken, wir kippen uns eine French-Press-Kanne Kaffee rein.

taz: Herr Meschenmoser, in Ihrem nun schon fünfzehnten Kinderbuch sprengt ein Huhn die Rollenbilder, weil es vom Hahnsein träumt. Ist eine Coming-of-Age-Trans-Hühner-Geschichte ein gefälliges Kinderbuchthema, das sich gut verkauft?

Sebastian Meschenmoser: Das Buch heißt ja nur „Chick“ und nicht „Chick ist trans“. Man kann es als lustige Kindergeschichte lesen. Aber ich hoffe natürlich, dass es darüber hinaus ein bisschen zum Nachdenken anregt. Man könnte sich fragen: Was ist für mich vorgegeben? Allein schon durch den Namen, den mir meine Eltern ausgesucht haben. Wie prägt mich das für mein Leben? Wenn ich das zu genau thematisiere, erreiche ich nur Eltern, die das ihren Kindern ohnehin schon vermitteln. Aber auf diesem Weg kann ich jemanden erreichen, der einfach nur ein Hühnerbuch lesen möchte – und vielleicht trotzdem eine Diskussion anregen.

Den Fotos auf Ihrem Instagramaccount kann man entnehmen, dass die geflügelte Emanzipation auf einer wahren Geschichte beruht.

Größtenteils. Wir haben tatsächlich Hühner zu Hause großgezogen, sie wohnen mittlerweile auf einem Schulgelände. In der Nähe wohnt auch der Stadtfuchs, der im Buch vorkommt. Und tatsächlich hat er einmal den Stall überfallen und die Hühner in Stücken verteilt. Aber das wollte ich den Kindern im Buch nicht zumuten.

Was ist aus Chick geworden?

Die neuen Hühner leben jetzt in einem gesicherten Stall. Dazu gibt es eine Voliere mit Außenbereich – plus Schulgarten für viel Auslauf zum Scharren und Gucken und Picken. Dort lebt auch Chick, die heute eine schöne, schwarze Henne ist. Die Schulkinder erleben sie, füttern und pflegen sie, machen den Stall sauber. Sie sammeln die Eier, backen daraus Waffeln, nehmen den Kreislauf wahr, wo Lebensmittel herkommen. Viele Kinder haben dort gar keinen Bezug mehr zur Natur. Dafür haben sie sehr krass klassische Rollenmuster. Die Mädchen wollen Stewardess werden, die Jungs Fußballspieler.

Aus Rollen ausbrechen und seine eigene Persönlichkeit finden – das haben Sie auch in früheren Büchern thematisiert. Zum Beispiel beim gar nicht so bösen Wolf, der sich als die Mutter der sieben Geißlein verkleidet, mit Kleid, Make-up und Klopapierrollen als Hörner.

Ja, das kann der Wolf gut. Ich glaube, der mag das einfach. Im Märchen sind die Rollen ja immer klar verteilt: Der Wolf ist der Böse und die jungen Mädchen verkörpern die Unschuld. Bei mir ist das anders. Weil ich gern persifliere und es ja auch wirklich furchtbar einfach ist. Ich drehe einfach die Rollen um. Rotkäppchen ist fies drauf und der Wolf ist total nett zur Oma. Oder der Wolf hat eigentlich einen Putzfimmel und räumt bei den Geißlein auf.

Welche Botschaft wollen Sie in Ihren Geschichten vermitteln?

Vordergründig gar keine. Wenn man das direkt vor hat, hat man schon versagt, das kenne ich aus der Kunst. Ich will höchstens zum Nachdenken anregen und Fragen aufwerfen, mehr nicht. Ich mag es nicht, eine Aussage festzunageln, sondern will lieber zu Diskussionen anregen. Ich möchte Geschichten schreiben, die den Kindern Spaß machen und an denen sie wachsen. Ältere sollen in derselben Geschichte neue Dinge für sich entdecken. Ein Kinderbuch braucht mehrere Ebenen. Schließlich müssen die Eltern das ja auch zehntausend Mal lesen und Gefallen daran finden.

Inzwischen sind Sie selbst Vater. Welche Geschichten will Ihr Sohn zehntausend Mal hören?

Das kann ich noch selbst entscheiden, er ist erst 14 Monate alt. Bücher mit Klappen mag er gern. Ich mag Bücher mit schönen Bildern. Wenn mir der Text zu holzig ist, erfinde ich einfach einen besseren. Ich lese jeden Abend sechs Bücher. Da suche ich mir aus, welche Geschichten ich vorlesen will. Die doofen sortiere ich heimlich aus.

Malen Sie auch schon mit ihm?

Ich habe schon Stifte besorgt. Letztens hat er mit einem Bleistift auf Papier herumgekritzelt. Da war ich natürlich sofort stolz und dachte: Der Junge hat einen verzwirbelten Draht gemalt! Mein Sohn ist begabt! Ich habe große Lust, mit ihm gemeinsam zu malen, auf großen Papierbögen, vielleicht bald im Atelier. Aber hier sind überall Lösungsmittel und Ölfarben – und das Kind findet mit einer erstaunlichen Präzision immer sofort die gefährlichen Dinge. Ich möchte auch Geschichten für ihn schreiben. Schließlich nehme ich die Welt durch meinen Sohn noch einmal anders war. Er beißt in einen Tisch und ich erinnere mich: Stimmt, so hat das geschmeckt. So hat sich das Holz an den Zähnen angefühlt.

Werden Sie Ihrem Sohn in Zukunft bestimmte Kinderbücher vorenthalten?

Ja! Prinzessin Lillifee finde ich furchtbar. Es kann sein, dass solche Bücher mal bei uns auftauchen, weil wir sie geschenkt kriegen. Aber die würden dann wohl auf wundersame Weise wieder verschwinden.

Was ist mit Büchern, die nicht mehr zeitgemäß sind?

Ich sehe Bücher nicht als Spielzeug an, sondern als etwas, das man gemeinsam erlebt. Man sollte immer begleitet lesen. Es gab ja bei Pippi Langstrumpf die berühmte Diskussion. Auch bei Jim Knopf kommt das N-Wort vor, weil Herr Ärmel das benutzt. Aber der ist sowieso ein Idiot. Trotzdem ist Michael Ende deshalb sicher kein Rassist, im Gegenteil. Ich bin dafür, dass man Texte entsprechend ändert. Oder in einem Vorwort schreibt, dass es sich um eine historische Ausgabe mit alter Sprache handelt, die erklärungsbedürftig ist. Auch Kinderliteratur ist Literatur.

Welche Bücher haben Sie enttäuscht?

Die Comics, die ich in den 80ern gelesen habe, waren alle sexistisch. Diejenigen, die die Abenteuer erleben, sind die Männer. Donald Duck, Lucky Luke und so weiter. Daisy bindet sich nur ihre rosa Schleife ins Haar und beschwert sich am Ende, dass Donald ihr keinen Schmuck mitgebracht hat. Wie scheiße ist das. Aber genau das sind die Muster, die ein Kind subtil lernt. Dennoch habe ich sie als Kind gern gelesen, aber ich war ja auch ein kleiner Junge und weiß nicht, wie sich das für kleine Mädchen anfühlt. Die Geschichten müssen ja auch nicht schlecht sein, aber es liest sich heute eben anders.

Und das wollten Sie besser machen?

Darüber habe ich zuerst nicht nachgedacht. Ich habe schon immer gemalt. Als Kind habe ich mit Tesa Bilder zusammengeklebt, später für die Schülerzeitung gezeichnet. Mir wurde immer gesagt, man könne damit kein Geld verdienen. In der Kleinstadt an der Mosel, in der ich aufgewachsen bin, gab es, wie in jedem Dorf, einen Dorfkünstler. Der lief in meiner Erinnerung immer im Poncho herum und gab eben das Bild ab, das man von einem Künstler hat. Und der konnte natürlich nicht von der Kunst leben, weil irgendwann jeder eines seiner Weinbergbilder gekauft hatte. Trotzdem wollte ich immer zeichnen und habe mich dann entschieden Kunst zu studieren.

Haben Sie dort Ihre typische Art zu zeichnen gelernt?

Ja, das ist dieser naturalistische, skizzenhafte, kritzelige Stil. Der ist ungewöhnlich für Kinderbücher. Vielleicht hat das den Leuten gefallen, weil es einfach mal etwas anderes war. Es erscheinen ja 8.000 Kinder- und Jugendbücher pro Jahr in Deutschland. Wahrscheinlich muss man sich ein bisschen abheben. Außerdem hat mich Ausmalen immer genervt. Auch deshalb sind meine ersten Bücher sehr sparsam koloriert.

Dafür überzeugen die Bilder durch die Mimik ihrer Figuren – und das Gefühl, das in ihnen steckt. Was können Sie nicht malen?

Pferde sind schwierig. Weil die so absurd viele Knochen in den Beinen haben. Diese komplizierten Beine, diese langen Gesichter, daran sitze ich ewig. Pferde sehen so unrealistisch aus. Illustratoren zeichnen Pferde deshalb gern im hohen Gras, dann sieht man die Füße nicht. Das ist ein schäbiger Trick. Niemand malt Pferde in der Wüste. Deshalb hat man sich Kamele ausgedacht. Die gibt es gar nicht wirklich. Die sind nur dazu da, damit man keine Pferde zeichnen muss.

Es hat ja auch ohne Pferde einigermaßen geklappt. Waren Sie überrascht von Ihrem Erfolg?

Davon waren alle überrascht! Ich hatte Glück, dass sich mein Verlag getraut hat, Kinderbücher zu veröffentlichen, die kaum Farbe enthalten und krakelig gezeichnet sind. Die Geschichten waren irgendwie merkwürdig, aber man wollte es ausprobieren. Und auch jetzt ist es wieder schön, dass der Verlag bei dem Hühnerbuch mitgemacht hat. Ich bin dankbar, dass ich als beinahe Querschläger sonderbare Formate ausprobieren darf.

Hatten Sie keine Strategie im Bezug auf das, was auf dem Buchmarkt gerade beliebt ist?

Nein, da gab es kein Kalkül. Weil ich nie gedacht hatte, dass ich überhaupt Erfolg hätte. Ansonsten hätte ich anders gezeichnet und gefälliger geschrieben. Prinzipiell schreibe ich die Bücher für mich selbst. Wenn mir das gefällt, denke ich, dass das anderen auch so gehen könnte. Nur ein paar anderen. Es ist ja nicht so, dass ich damit Riesenverkaufszahlen erziele. Aber wenn ich einige wenige Leute erreiche, dann freut mich das schon ungemein.

Wüssten Sie heute genauer wie der Buchmarkt und die kaufkräftigen Zielgruppen ticken?

Nein, den Geschmack kennt auch niemand. Die heutigen Eltern sind anders, wir haben einen ganz anderen Zugang als früher. Wir sind mit den Simpsons und den Muppets aufgewachsen. Wir haben Spaß an anderen Sachen. Wir schauen „Spongebob“. Wer hätte denn gedacht, dass jemand eine Trickserie mag mit dem langweiligsten Tier auf der ganzen Welt, nämlich einem Schwamm? Das gucken unter Umständen auch Erwachsene, wenn sie die Stimme aushalten.

Wie sehr Kind muss man sein, um Kinderbücher zu schreiben?

Ich habe wahrscheinlich genug kindliche Eigenschaften dafür. Ich kaufe mir immer noch gern Plastikdinosaurier und tue dann so, als bräuchte ich die für meine Arbeit. Ich lese immer noch Kinderbücher und schaue gern die „Muppetshow“. Oder „Adventure Times“. Großartig! Überhaupt glaube ich nicht an das Konzept des Erwachsenseins. Wo ist denn hier bitte jemand erwachsen? Die tun doch alle nur so. Manche kaufen sich statt Dinosauriern halt Whiskey.

Welche Bücher haben Sie nicht erst heute zu schätzen gelernt, sondern schon als Kind geliebt?

Wimmelbilder habe ich gemocht. Oder auch „Ich bin der kleine Hase“ von Richard Scarry. Das habe ich mir erst kürzlich noch einmal angesehen und gemerkt, dass ich unterbewusst den Stil einiger Bilder daraus in meine eigenen Bücher eingebaut habe.

Das Kinderbuch, das mich am meisten geprägt hat, ist eins von Ihnen. Da war ich allerdings schon um die 30. Dort verliebt sich der Igel – und muss feststellen, dass er sich versehentlich in eine Drahtbürste verguckt hat. Der Schock der Desillusionierung kommt mir bekannt vor.

Ja, das passiert. Wir haben so unsere Vorstellungen eingetrichtert bekommen. Irgendwann entsteht da dieses rosa Bild von einer Person und man denkt sich: Wow, das ist sie! Und dann kommt die große Enttäuschung. Das haben viele schon selbst erlebt, ich auch.

Wer war Ihre Drahtbürste?

Ach, da gibt es viele. Mit einigen Drahtbürsten bin ich heute befreundet.

Sie erzählen Geschichten aus Ihrem eigenen Leben und zeichnen sich auch mal selbst als Holzfäller oder Hühermutter in Ihre Bücher hinein …

Ja, ich verstecke mich dort gern. Ich tauche in fast allen Büchern auf. Autoren sind ja sonst eher unsichtbar, mal im Vergleich zu Schauspielern. Ich finde es aber wichtig, den Kindern zu zeigen, dass da jemand Lebendiges dahinter steht. Dann denken sich manche Kinder vielleicht: Okay, das kann ich auch versuchen. Ich lasse dadurch einen greifbaren Realitätsbezug entstehen.

Müssen Sie den auch jenseits der Bücher herstellen? Über soziale Netzwerke zum Beispiel?

Schon, aber da bin ich nicht besonders gut drin. Ich bin ja auch angeblich schon 40. Ich könnte dort mehr tun, bewegte Bilder posten anstatt nur Fotos von Hühnern. Ich würde aber nie mein Privatleben zur Schau stellen. Die Hühner sind zwar privat, aber nur ein gezielter Ausschnitt. Meine Familie wird nie zu sehen sein. Aber die Netzwerke sind ein schönes Medium, um auf meine Arbeit aufmerksam zu machen.

Früher war auf Ihrem Instagram-Account ein bisschen mehr los. Hat sich Ihr Leben stark verändert in diesen irren Zeiten?

So sehr habe ich die Veränderung zuerst gar nicht wahrgenommen. Im Januar 2020 wurde unser Sohn geboren, da ist man automatisch in einer Art Shutdownsituation. Da sieht man ohnehin nicht so viele Leute. Und nun durften wir das auch gar nicht, das war in dem Fall ganz entspannend. So konnten wir uns auf den neuen Menschen einstellen, den es vorher noch gar nicht gab. Dann wurde es mit der Zeit aber anstrengend, weil wir die Großeltern nicht besuchen durften oder andere Freunde mit Kindern. So viele Möglichkeiten fielen weg. Ohne Krabbelgruppe oder Familienzentrum ist es schwieriger, das haben wir gemerkt.

Hatten Sie als Künstler Schwierigkeiten?

Da habe ich Glück gehabt. Ich hatte keine Ausstellungen geplant, konnte einfach weiter im Atelier malen. Ich bin weiterhin um 9 Uhr hierher gekommen, habe diese schmutzigen Klamotten angezogen. Die sind für mich wie ein Superheldenkostüm, die bringen mich sofort in den Arbeitsmodus. Ich war außerdem froh, dass die Buchläden als systemrelevant eingestuft wurden und geöffnet blieben. Es ist eine gute Sache, Bücher zu kaufen und Läden zu unterstützen, die es wegen Amazon sowieso nicht leicht haben. Aber mir tun die Leute im darstellenden Gewerbe leid. Ich kenne einige Puppenspielerinnen und Puppenspieler. Die haben Totalausfälle, denen geht es übel.

Wäre Corona ein geeignetes Thema für das nächste Kinderbuch? Eine Figur, den Tapir, haben Sie ja immerhin schon von oben bis unten in Klopapierrollen eingekleidet.

Da war ich wohl vorausschauend. Wobei ich selbst als letztes auf die Idee gekommen wäre, mich mit Klopapier einzudecken. Wenn ich jetzt ein Coronabuch anfange, wäre ich vielleicht rechtzeitig zur sechsten Welle fertig. Ein besseres Thema wäre die Spanische Grippe. Das ist historisch. Es würde mehr ins Bewusstsein rücken, dass Pandemien immer wieder aufkommen. Sie sind ein bewährtes Mittel der Natur gegen eine parasitäre Spezies. Und genau das sind wir ja für diesen Planeten. Wir benehmen uns total daneben, breiten uns immer weiter aus und machen die Welt dabei kaputt. Was wäre, wenn es die Natur noch ernster mit uns nehmen würde? Durch einen multiresistenten Darmvirus zum Beispiel. Dass das kommt, ist klar. Wir wissen nur nicht, wann. Die Frage ist nur, ob wir daraus lernen.

Interview und Bild: Philipp Brandstädter

Der Mensch: *1980 in Frankfurt/Main, in Bernkastel-Kues bei Trier aufgewachsen, Studium an der Akademie für Bildende Künste in Mainz. Mit 22 Jahren wurde er mit seinem Bilderbuch „Fliegen lernen“ erfolgreich – und mit der Illustration von Michael Endes „Unendliche Geschichte“ bekannt.

Das Buch: „Chick“, gerade erschienenes Bilderbuch über eine Coming-of-Age-Trans-Hühner-Geschichte. Im März 2021 im Thienemann-Verlag erschienen.