Als die Mauer fiel

Als die Mauer fiel

40 Jahre lang war Deutschland geteilt. Im Westen gab es die Bundesrepublik Deutschland, die BRD. Im Osten lag die Deutsche Demokratische Republik, kurz: DDR. Deren Regierung riegelte ihr Land vor dem Westen ab. DDR-Bürger durften nicht einfach reisen, wohin sie wollten. Die Grenzen zur BRD waren streng bewacht. Und durch die Stadt Berlin verlief eine Mauer.

Doch die Menschen in der DDR wurden mit der Zeit unzufrieden. Sie wollten ihre Meinung sagen, frei reisen und ihre Verwandten in der BRD besuchen dürfen. Zunehmend verlor die Regierung der DDR an Macht, während immer mehr DDR-Bürger protestierten.

Am 9. November 1989 war es schließlich soweit: Die Regierung der DDR gab auf. Die Menschen durften nun das Land verlassen. Und die Politiker planten, wie man die beiden Länder wieder zusammenbringen kann. Am 3. Oktober 1990 wurde Deutschland schließlich wiedervereint. Hier meine Erinnerungen aus dieser Zeit.

Alles geheim

Ich war ein ausgezeichneter Geheimagent! Früh morgens, wenn noch keiner wach war, tippelte ich auf Zehenspitzen durch die Wohnung. Wenn meine große Schwester in der Schule war, stöberte ich manchmal heimlich in ihren Heften und Tagebüchern. War zwar total langweilig, aber gemerkt hat sie es nie. Genauso wenig wie Mutti, wenn ich unauffällig im Wohnzimmerschrank Süßigkeiten stibitzte. Oder ich abends nochmal aus dem Bett schlich, um durch den Türspalt noch ein bisschen den Spielfilm mitzuverfolgen. Alles total geheim.

Geheimnisse gab es in meiner Kindheit viele. Ich durfte niemandem erzählen, welche Filme wir schauten und welche Musik wir hörten. Denn das waren meist Filme und Lieder aus dem Westen. Es durfte auch niemand wissen, dass meine Tante vorhatte, in genau den gleichen Westen abzuhauen. Das war alles streng geheim. Man konnte nie genau wissen, erklärte mir Mutti, ob uns gerade jemand zuhört. Ein anderer Geheimagent zum Beispiel.

Zwei Deutschlands

Denn als ich etwa fünf Jahre alt war, da gab es zwei Deutschlands. Wir wohnten in der DDR, im Osten. Viele von Muttis Verwandten lebten in der BRD, im Westen. Die beiden Länder waren voneinander durch eine Grenze getrennt, hatte ich gelernt. Und wer in der DDR wohnte, durfte nicht in die BRD und viele andere Länder reisen. Also durfte ich die Verwandtschaft im Westen nicht besuchen.

Dafür schickten die manchmal Pakete mit Kaffee, Konserven, Süßigkeiten und Seife drin. Und Strumpfhosen, über die sich Mutti am meisten freute, weil die im Osten so teuer waren. Ganz selten war auch etwas Geld in der Post. D-Mark, die Währung, mit der die Leute im Westen zahlten. Die Scheine waren in einer Rolle Alufolie versteckt. Damit es die Geheimagenten nicht so leicht finden, sollten sie mal in das Paket hineinschauen. Im Osten konnte man mit D-Mark in bestimmten Geschäften tolle Sachen einkaufen, die es sonst nicht gab. Zigaretten für Papi, Zeitschriften für Mutti, manchmal auch Kiwis und Bananen – und die kleinen Spielzeugautos, die ich so mochte.

Montags auf die Straße

Muttis Onkel und Tanten aus dem Westen kannte ich nur von Fotos aus dem Familienalbum. Die waren auf Bildern in Farbe zu sehen. Unsere Fotos waren alle schwarz-weiß, Farbfotos waren zu teuer. Mutti war traurig und wütend, dass sie ihre Familie aus dem Westen nicht besuchen durfte. Und weil viele Leute traurig und wütend waren, gingen wir jeden Montag zusammen auf die Straße und demonstrierten.

Die Menschen wollten, dass sich in der DDR was ändert. Vor allem, dass sie das Land verlassen dürfen, wenn sie wollen. Wir liefen abends durch die Straßen und ich durfte eine brennende Kerze halten. Dabei tropfte bei jedem Mal mehr Wachs auf meine Schuhe. Bis ich das Paar nur noch montagabends trug. Demoschuhe nannte ich die.

Irgendwann passierte es dann: Ein Politiker hatte eine unglaubliche Nachricht zu verkünden. Er sah dabei nicht so aus, als würde er das gern tun. Trotzdem war dadurch auf einmal das Unmögliche möglich. Wir durften rüber. Die Bürger der DDR durften in den Westen ausreisen. Einfach so. Überall wurde gefeiert. Im Fernsehen konnte man sehen, wie sich die Leute in den Armen lagen und jubelten.

Mit dem Trabi in den Westen

Ein paar Tage später fuhren wir auch in den Westen. In unserem hellblauen Auto, ein Trabant, den hatten die meisten Leute im Osten. Im Westen schien jeder eine eigene Automarke zu fahren. So wirkte das jedenfalls, als ich die Autos auf der Gegenfahrbahn beobachtete. Ich erinnere mich, wie ich versuchte, mir die vielen unterschiedlichen Marken zu merken.

Und ich erinnere mich, wie Mutti den Verwandten aus dem Westen um den Hals fiel. Und wie alle vor Freude weinten. Ich fand mehr die neuen Dinge interessant als die neuen Menschen. Auf dem Abendbrottisch gab es Käsescheiben, die haargenau auf die Toastbrotscheiben passten! Verrückt. Es gab Käseecken und Marmelade in winzigen Verpackungen. Alles war bunt eingepackt. Die Leberwurst war in goldener Folie eingewickelt. Die Leute im Westen mussten echt reich sein!

Ein Onkel drückte mir ein 5-Mark-Stück in die Hand. Mit dem würde ich mir einen Comic mit Donald Duck oder einen Flummi oder Seifenblasen oder Glitzeraufkleber kaufen, dachte ich mir. Oder ein weiteres Spielzeugauto. Oder alles zusammen. Von nun an würde ich ja häufiger 5-Mark-Stücke bekommen. Bei so vielen Besuchen in den Westen.

Text und Bild: Philipp Brandstädter,
zunächst erschienen über dpa Nachrichten für Kinder, Oktober 2019

Als die Mauer fiel

Wir sind die Wossis

erschienen in der taz, die Tageszeitung, am 9. November 2014

Ein Farbenmeer. So hab ich’s jedenfalls in Erinnerung, das Jahr 1991. Für blumenbunt wird es noch zu kalt gewesen sein. Wahrscheinlich war es spielzeugladenbunt. Wegen Karneval vielleicht. Oder weil der Westen zu dieser Zeit ohnehin so bunt war wie kein zweites Mal. Weil alles neu war. Weil ich endlich die ganzen Onkel und Tanten besuchen konnte, die ich nur aus Fotoalben und Westpaketen kannte.

Alles bunt. Ganz besonders, weil Mutti so happy war. Sechs Jahre haben wir in Gera gewohnt. Zweieinhalb Zimmer, Schubladen-Badewanne in der Küche, Trockenklo auf halber Treppe, Kohleofen und kein Telefon, dafür Schimmel an den Wänden und eine verkalkte Vermieterin im Erdgeschoss. Das war ätzend, so im Nachhinein betrachtet.
Mutti wollte nach Ahrweiler, wo die ganze Westverwandtschaft lebt. Wollte sie immer. Und dann kam die Wende und der Umzug und wir waren endlich zu Hause.

Ein neues Leben

Und ich hatte ein neues Leben. Flummis, Furzkissen, Vampirgebisse. Knete, Knallfrösche, Comics, ich will alles. Mutti guckt nach Stiften und Heftumschlägen für den ersten Schultag. Ich zähle die absurd kleinen 50-Pfennig-Stücke in meiner Tasche. Gucke nach, was ich mir davon alles kaufen könnte, und stecke das Geld wieder ein. Wer den
Pfennig nicht ehrt, hat Tante Annelie gesagt, und danach noch irgendwas.

Wir versammeln uns in Zweierreihen auf dem Pausenhof und ich habe Panik vor den vielen Kindern. Mutti ist noch mit dabei. Sie hält das Notfalltaschentuch für mich bereit, das hier Tempo heißt. Nur zur Sicherheit. Maike nimmt mich an die Hand und schon ist alles gut. Denn Maike ist so toll wie Julia damals in Gera, nur ein bisschen toller, weil sie nicht ständig von ihrem unsichtbaren Freund erzählt. Im Treppenhaus riecht es nach frischen Brötchen anstatt nach Wofasept.

Alles bunt

Bunte Kreide, bunte Bücher, bunte Schulranzen, die hier Büchertaschen heißen. Bunte Kinder. Ja, die auch. In Gera saß ich neben Christian und vor Michael, beide so blond und käsig wie ich. Hier sitze ich neben Byloss und vor Chantang. Wir tauschen Aufkleber.

Im Unterricht sind ein paar Sachen anders. Vor der ersten Stunde wird zum Beispiel gebetet. Ich muss mir das Kreuzzeichen von den anderen abgucken. Außerdem sind die Kästchen im Matheheft quadratisch. Der Sportunterricht ist eher ein Spielunterricht. Geländetoben statt Geräteturnen.

Die Markstücke poliere ich mit Elsterglanz nach. Sparen ist wichtig, sagen alle. Sparen macht reich. Wie lange das dauert, wird nicht verraten. Aber ich will das Streifenhörnchen aus der Tierhandlung. Das kostet 89 Mark. Und da ist nicht einmal der Käfig mit dabei. Was komisch ist, sagt Mutti. Denn die Miete für den Käfig, in dem wir
mal gewohnt haben, hat nicht halb so viel gekostet.

Und dann auch noch Bayern

Ein paar Monate später ziehen wir nach Mellrichstadt. Erst DDR, dann Westen, und nun also ein drittes Land: Bayern. Mitten im Wald, direkt an der ehemaligen Grenze. Dort, wo die Kinder nicht auf den Feldern toben durften, weil vielleicht mal jemand schießen könnte.

In der Schule bin ich plötzlich nicht mehr so besonders. Denn die Geschichten von drüben, was hier Ossiland heißt, kennen alle schon. Ich tue mich schwer mit dem fränkischen Dialekt. Damit ich besser verstehe, sprechen manche für mich Ossisprache,
indem sie lauter Ös und Üs zwischen die Konsonanten quetschen, die hier Mitlaute heißen. Höllöö, üsch bün dör Phülüpp. Die Kinder lachen. Aber nicht lustig. Mehr so doof.

Ekkehard erklärt mir, dass Ossi hier so was wie ein Schimpfwort ist. Denn viele Leute sind sauer auf die Wende, weil die von drüben immer die Kaufhalle plündern, die
hier Supermarkt heißt. Weil die Ossis die Arbeitsplätze klauen.

Ossi bleibt

Ein paar Jahre später ist die große Wendewut Geschichte. Das Grenzland kriegt ein bisschen Extrageld, ein paar Dörfer bekommen eine Umgehungsstraße. Ossi bleibt trotzdem ein Schimpfwort, bis zum Schluss.

Ich bin mir nicht sicher, wie stark mich der Osten oder der Westen oder Bayern prägt. Die Kultur, die Kirche, die Kohle. Das Nomadendasein im Kindesalter hat auf jeden Fall etwas mit mir gemacht. Ich weiß dadurch, dass man überall einen besten Freund oder
sogar eine Liebe findet, so unromantisch das auch klingt. Und ich weiß, dass ich heimatlos bin.