Gropiusbau, Yayoi Kusama. Foto: Philipp Brandstädter

Wonach schmecken diese Farben?

erschienen in der GEO 11/2015

Zähflüssig verrinnen die Minuten, während ich mich von Buchstabe zu Silbe zu Satz zu Sinn hangele. So muss sich Legasthenie anfühlen. Ich kenne die Symbole, ich habe ihre Bedeutung auswendig gelernt. Doch trotzdem weigert sich mein Gehirn, die Zeichen miteinander zu verbinden. Es ist Buchstaben gewohnt. Keine roten, grünen, blauen Kästchen. Genau das soll aber in meinen Kopf: Jede Farbe steht für einen Buchstaben, ist fest mit ihm verknüpft. B zum Beispiel ist dunkelblau.

Der rechte Zeigefinger muss beim Lesen helfen. Wie damals in der Grundschule. Er leitet meinen Blick über die bunten Quadrate. Irgendwann ist der erste Absatz gemeistert. Die Unendlichkeit zweier voll beschriebener Seiten noch vor mir. Und das jeden Tag. Wochenlang.

Es hat ja auch keiner behauptet, es sei leicht, Synästhesie zu lernen.

Synästhesie. Der Begriff beschreibt die Verschmelzung mehrerer Sinneswahrnehmungen. Synästhetiker nehmen die gewöhnliche Welt auf eine ungewöhnliche Weise wahr. Stellen Sie sich vor, beim Lesen erschienen ihnen die Buchstaben in Farbe getaucht (genau das will ich erreichen). Stellen Sie sich vor, das Knarzen der Stufen in Ihrem Treppenhaus röche nach Pfefferminz. Stellen Sie sich vor, Sie trinken Zitronensaft und fühlten am ganzen Körper Spitzen, und die Zahlen, die sie auf dem Telefon wählen, kitzelten Sie an den Füßen.

Können Sie nicht? Geht mir ähnlich. Aber ich wollte, ich könnte.

Deshalb suchte ich das Sackler Centre for Consciousness Science auf, einen schnörkellos fensterarmen Backsteinklotz auf einem von Nebelschwaden umhüllten Campus der University of Sussex in Brighton. Das Hauptquartier der Synästhesie-Forschung schlechthin. Dort haben britische Wissenschaftler ein Training entwickelt, das über Denksport, Schnelllesen und Kreuzworträtsel hinaus reicht. Es soll auch Nicht-Synästhetiker wie mir den Weg bahnen in die attraktive Welt der übersinnlich Begabten.

Grapheme und Farben

Als ich von dieser Möglichkeit hörte, war ich elektrisiert. Denn Synästhetiker berichten nicht nur von surrealen Sinneswahrnehmungen. Sie gelten auch als ausgeglichen, sorgenfrei, psychisch stabil, begabt. Etlichen Genies wird Synästhesie nachgesagt. Goethe wird sie angedichtet, auch Baudelaire, van Gogh und dem Physiker Nikola Tesla. Kandinsky sowieso; wer seine Bilder betrachtet, begreift ohne synästhetisches Empfinden, wie Klänge auf einer Leinwand aussehen. Auch Lady Gaga behauptet, ihre Musik in Farbe und Form sehen zu können.

Ein bisschen mehr Kreativität, ein bisschen mehr Leichtigkeit, das wollte ich auch. Die Welt anders, intensiver wahrnehmen. Die grauen Zellen trainieren, bis sie Ungewöhnliches können. Übersinnliches, sozusagen.

Im Sackler Centre sitzt mir David Schwartzman mit verschränkten Beinen gegenüber und balanciert ein Diktiergerät auf seinem Knie. Ich starre an ihm vorbei an eine Wand, die eher einen neuen Anstrich als noch ein weiteres Poster über optische Täuschungen vertragen könnte, und überlege, ob ich Buchstaben mit bestimmten Farben verbinde. Naja, der Buchstabe T ist irgendwie magenta, sage ich. Damit wächst man auf, ob man will oder nicht. Der Neuropsychologe grinst mich durch seinen Buffalo-Bill-Bart hindurch an. Damit sei ich noch kein Synästhetiker, findet Schwartzman.

Aber durch sein Training könnte ich einer werden.

Die „Graphem-Farb-Synästhesie“, die ich lernen soll, ist die am weitesten verbreitete von 54 bekannten Synästhesien. Manchen Graphem-Farb-Synästhetikern erscheint ein zusätzlicher Sinneseindruck, fest verwoben in ihren Gedanken. Für andere ist es, als hätten sie einen Monitor vor Augen. Sie sehen die bunten Buchstaben auf einer transparenten Ebene über dem eigentlichen Text schweben.

Schwartzman und seine Kollegen Nicolas Rothen, Daniel Bor und Anil Seth versuchen, mit Gedächtnis- und Leseübungen bunte Assoziationen zu wecken. Neun Wochen lang werden mir mit einem Computerprogramm 13 Buchstaben-Farb-Kombinationen eingeimpft. Ein dunkelblaues B. Ein braunes D. Ein hellgrünes E, und so weiter. Jeden Tag werde ich Farb- und Buchstabenreihen abgefragt, die ich korrekt wiedergeben soll. Ich muss mit Geschwindigkeitstests die gelernten Farben verinnerlichen und Texte lesen, in denen Buchstaben durch ihre zugewiesenen Farbnuancen ersetzt sind.

„Nach unserem Training haben bislang alle Probanden von Farbwahrnehmungen berichtet, die denen echter Synästhetiker ähneln“, berichtet Schwartzman. Und ein schöner Nebeneffekt: Der Sussex-Studie zufolge habe sich ganz nebenbei auch der IQ der Teilnehmer um ein paar Punkte verbessert. Das Gehirn lässt sich offenbar wie ein Muskel trainieren. Nur dass es dabei nicht wesentlich an Masse zulegt, sondern an der Anzahl neuronaler Verknüpfungen.

Der Erfolg der Trainingsstudie zeigt, dass Synästhesie gelernt werden kann, zumindest teilweise. Für einen Lernanteil spricht auch ein Befund aus dem März 2015: Als US-amerikanische Forscher die Häufigkeit bestimmter Buchstaben-Farb-Kombis untersuchten, stellte sich heraus, dass in den 1970er und 1980er Jahren geborene Synästhetiker den Lettern besonders häufig jene Farben zuordneten, die auch die Buchstaben eines weit verbreiteten Magnetalphabets hatten. Denn viele Kinder meiner Generation haben das ABC nicht auf dem Papier gelernt. Während Mutti Mittag machte, heftete unsereins die ersten Worte an Kühlschranktüren. Und übernahm die Farbzuordnungen offenbar vom Spielzeug.

Das reicht natürlich nicht aus, um Synästhetiker zu werden. Dazu braucht es mehr.

Denn eines steht auch fest: Das Phänomen hat eine genetische Komponente. Es gibt Familien, in denen sich diese Art der Wahrnehmung häuft. Von Generation zu Generation weitergegeben wird dabei nicht unbedingt die Art der Synästhesie, sondern vielmehr die Veranlagung, Sinneserfahrungen zu mixen. Ein Vater mit Graphem-Farb-Synästhesie kann also durchaus eine Tochter haben, die Töne schmeckt.

„Eigentlich sind wir alle von Geburt an Synästhetiker“. – David Schwartzman, Neurowissenschaftler

Aber wie genau entsteht nun Synästhesie, welche Verschaltungen im Gehirn liegen dem Sinnesmix zugrunde? Neurowissenschaftler diskutieren vor allem zwei Theorien. Sie kursieren unter den (zunächst) kryptischen Schlagworten „enthemmtes Feedback“ und „Kreuzaktivierung“.

Wenn wir einen Gegenstand wahrnehmen, laufen seine verschiedenen Eigenschaften wie Form, Farbe, Geruch im Gehirn in einer zentralen Schaltstelle zusammen. Dort verschmelzen sie zu einem einheitlichen Sinneseindruck: Das Rechteck ist dunkelbraun und duftet nach Kakao – ein Stück Schokolade. Von dieser Schaltzentrale laufen auch Verbindungen zu anderen Sinnesmodalitäten, die allerdings blockiert sind: Das Braun der Schokolade ist normalerweise nicht mit einem Ton assoziiert.

Bei Synästhetikern aber, so denken sich das die Forscher, ist eben diese Blockade aufgehoben, ist das Feedback zu einem Hirnareal, das an der Wahrnehmung eigentlich nicht beteiligt ist, „enthemmt“. Daher der Name der Theorie. Das bedeutet allerdings auch: Synästhetiker haben – zumindest anatomisch gesehen – das gleiche Gehirn wie Nicht-Begabte. Ihr Gehirn funktioniert nur etwas anders.

Die Theorie der Kreuzaktivierung geht dagegen davon aus, dass bei Synästhetiker zusätzliche Verschaltungen zwischen Neuronen vorhanden sind. Und diese seien Überbleibsel aus der Baby-Zeit. „Denn eigentlich sind wir alle von Geburt an Synästhetiker“, erklärt Schwartzman. Nur verlieren die meisten diese Begabung. Bei Neugeborenen ist das Gehirn für alle Eventualitäten gewappnet, zwischen Nervenzellen existieren Verknüpfungen im Überfluss. Die Sinne fließen noch ineinander.

Unbewusste Gabe

Die Umwelt bestimmt dann, was überlebt. Jene Schaltkreise, die häufig gereizt werden, bleiben erhalten, ja werden sogar verstärkt. Jene, die kaum Signale erhalten, verkümmern. So optimiert sich das Gehirn selbst für die Anforderungen des Lebens.

Bei Synästhetikern wird der ursprüngliche Wildwuchs an Neuronen eben nicht so stark ausgedünnt. Die Forscher aus Sussex sind überzeugt, dass es für Normal-Sinnliche quasi einen Weg zurück gibt, dass sich verlorengegangene Verknüpfungen reaktivieren lassen.

Der Club der genialen Synästhetiker ist also vielleicht gar nicht so elitär. Man kann ihm womöglich nachträglich beitreten.

Laut Sackler Center erlebt eine von 23 Personen die Welt als Synästhetiker. Die Quote variiert jedoch, denn oft ist Synästhetikern gar nicht bewusst, welche Gabe sie haben. Wer kann schon beurteilen, wie er selbst die Welt sieht und wie es andere tun.

Zudem waren Farbenfühlen und Gerüchesehen nicht schon immer erstrebenswert. Lange galt Synästhesie als Hirngespinst, das man entweder geheim hielt oder der Poesie überließ. Dichter nutzten den Sinnesmix als Stilmittel, prägten so die Epoche der Romantik und ließen vor 200 Jahren wie Clemens Brentano „Töne golden niederweh’n“.

Heute steht jedenfalls fest: „Synästhesie ist keine Phantasterei. Sie kann nachgewiesen werden!“, sagt Schwartzman entschlossen und zieht mir mit ebenso viel Entschlossenheit eine Badekappe über die Ohren.

Sicheln und Scheiben blitzen auf

In einem zappendusteren Kämmerchen starre ich auf einen Monitor, der mir ein langweiliges Schachbrett präsentiert. Seine Felder springen ansatzlos hin und her, schwarz wird weiß und weiß wird schwarz. Meine Augen suchen Halt. Zwei Tassen Kaffee halten mich munter, derweil die verkabelten Elektroden in der Badekappe meine Hirnströme messen. Die Aktivität der Sehrinde sei ein guter Indikator für Synästhesie, ruft Schwartzman durch die Tür. „Je höher die Amplitude auf dem EEG, desto mehr Neuronen feuern durch den visuellen Kortex.“

Und je mehr Feuer unterm Schädeldach, desto näher die Synästhesie.

Weitere Hinweise auf ein synästhetisches Gehirn liefert die „Transkranielle Magnetstimulation“, kurz: TMS. Bei dieser Methode durchdringt ein magnetischer Impuls die Schädeldecke und beeinflusst die Neuronen. An der University of Oxford untersuchte der Hirnforscher Devin Terhune die Farbwahrnehmung von Graphem-Farb-Synästhetikern. Ein kurzes „Zapp“ mit dem TMS – und schon sieht der Proband Farben und Formen aufblitzen. Terhune stellte fest, dass die Reizschwelle bei Synästhetikern deutlich niedriger liegt als bei Nicht-Synästhetikern. Bereits ein Drittel des TMS-Impulses reicht bei ihnen aus, um visuelle Effekte auszulösen.

Testweise setzt David Schwartzman das TMS an meinem Kopf an und lässt meinen kleinen Finger zucken. Ich bin gleichermaßen erstaunt und erschrocken ob der Präzision der Magnetimpulse. Dann richtet der Wissenschaftler den Magneten auf meinen visuellen Kortex. Zapp. Vor meinen verschlossenen Augen blitzt etwas Sichelförmiges auf. Dann eine konvexe Linse. Dann eine Scheibe. Die Vision ist kurz und sehr diffus, aber sie genügt dem Hirnforscher. Er notiert meine Beschreibung auf einen Zettel. Mal sehen, welche Bilder das TMS beim nächsten Mal erzeugt, sagt Schwartzman und entlässt mich ins Synästhesie-Training.

Ein gelbes Y

Ein grünes G, ein hellblaues I, ein orangefarbenes O. Wochenlang sitze ich mindestens eine Stunde am Tag vor meinem Tablet und übe. Farben und Buchstaben füllen das Display. Ich merke mir Buchstabenfolgen, die immer länger werden, wenn ich sie richtig wiedergebe. Ich tippe auf Felder in einer Farbpalette, die immer schneller verschwinden, wenn ich richtig liege. Ein rosafarbenes P, ein lilafarbenes Q, ein rotes R.

Ich und Farben. Meine Fähigkeit, Farbnuancen voneinander zu unterscheiden, ist miserabel, mein Kleidungsstil bestätigt das. Bis heute irritiere ich Freunde und Verwandte, wenn ich in beißenden Tönen aufkreuze, oftmals unangemessen, immer quietschbunt. So bunt wie die Wörter, die ich bald in Büchern, Zeitschriften und auf Websites lesen möchte. Schillernd sollen sie sich durch meine Lektüre ziehen und eine farbenfrohe Welt der Sprache eröffnen. So stelle ich mir das jedenfalls vor. Ein graues U, ein weißes W, ein schwarzes X.

Voller Ehrgeiz lerne ich Farben und Buchstaben, präge mir alles ein, wiederhole, wiederhole, wiederhole. Manche Farben passen gut zu ihren Buchstaben, findet mein Gehirn. Andere Paarungen wollen sich die grauen Zellen auf Teufel komm raus nicht merken. Doch so viel ich auch übe: So spektakulär wie erhofft will sich die Synästhesie nicht entfalten. Ich begegne ihr allerhöchstens während meiner Übungen und unmittelbar danach, nie im Alltag. Einmal entzückt mich ein Y, als ich eine Email schreibe. Es taucht einfach so mitten in einem Absatz auf, und zwar viel gelber als es sein sollte.

Doch wie viel hat das, was mit mir passiert, mit Synästhesie zu tun? Arbeitet mein Gehirn bereits synästhetisch und aktiviert andere Areale, sobald der visuelle Kortex stimuliert wird? Oder lerne ich die Buchstaben-Farb-Duos auswendig wie Vokabeln?

Hinter der Augenschranke

Ich treffe mich mit Uta. Ich möchte erfahren, was meine gelernte von der vererbten Synästhesie unterscheidet. Die Physikerin ist „eine gewöhnliche Wald- und Wiesen-Synästhetikerin“, wie sie sagt. „Wenn ich einen Text vor mir habe, dann ist der auch zunächst schwarz auf weiß“, erklärt Uta. „Erst hinter der Augenschranke wird’s bunt.“ Buchstaben haben eindeutige Farben, die bei längeren Wörtern zu Farbbändern verschwimmen. Als ob man mit einem Pinsel quer über die feuchten Farben wischt, sagt sie. „Hätte ich mir das jedoch bewusst ausgesucht, hätte ich kontrastreichere Farben gewählt.“

Meine Trainingseinheiten werden länger. Woche für Woche graben sich die Farben tiefer ins Unterbewusstsein. Immer häufiger quetschen sich dicke Farbblöcke in meine Gedankenkreisel, direkt zwischen Erinnerungen und To-do-Listen. Die Synästhesie scheint gegenwärtig – aber ich lese keine bunten Buchstaben. Ich denke an die Farben, die ich gelernt habe. Doch ich sehe sie nicht.

Vor mir ein Aufsatz aus kryptischen Farbenfolgen. Manche erkenne ich auf Anhieb. Andere bringen mich zur Verzweiflung. Pink, hellgrün, orange, pink, dazwischen ein L, hellgrün, weiß, hellblau, ein T, ein H, rot, hellgrün, ein A, braun, hellblau, ein N, grün, pink, rot, orange, blau, noch ein L, hellgrün, ein M, ein S.

P-e-o-p-l-e-w-i-t-h-r-e-a-d-i-n-g-p-r-o-b-l-e-m-s? Solche Leute sind mir inzwischen vertraut.

Superhirn braucht Disziplin

Zurück in Sussex. David Schwartzman kommt mir mit zwei Bechern Kaffee entgegen, gewohnt lächelnd und bärtig, und fragt, wie es mit dem Training gelaufen sei. Ich verrate ihm nicht, dass ich bei den letzten drei Leseübungen geschummelt habe. Ich habe die Texte – Zeitschriften- und Fachartikel – anhand von Titel und Autor gegoogelt und im Buchstabenoriginal gelesen. Die grauen Zellen wollten nicht länger knobeln. Ein Superhirn verlangt wohl mehr Disziplin.

Doch im Labor spüre ich ein paar Veränderungen. Während des EEG nimmt das Schachbrett auf dem Monitor wesentlich schärfere Konturen an. Über den springenden Feldern spannt sich ein blau-grünes Netz und schwimmt durch mein Sichtfeld. Der visuelle Kortex macht Faxen. Das bestätigt auch die verkabelte Badekappe. Bei der Messung meiner Hirnströme schlägt die Amplitude deutlich höher aus als beim ersten Test. Auch das TMS sorgt für intensiveres Kopfkino. Die Magnetimpulse malen viel hellere Lichtblitze auf meine geschlossenen Lider. Ich nehme stärkere Kontraste wahr, Linien, Bögen.

Ist doch etwas in meinen Hirn passiert?

Es ist. Der finale „Stroop-Test“ zeigt es. Ich soll die Farben einer Reihe bunter Buchstaben in ein Mikrofon sprechen. Wie albern, denke ich und lächle. Schwartzman lächelt zurück, das Ergebnis ahnend. Ein rotes A. Ein blaues B. Ein gelbes C. Kein Problem, natürlich. Doch dann blockiert mein Hirn: Das E müsste doch hellgrün sein, so hellgrün wie immer! Aber es ist rosa, so rosa wie ein P. Mein Kopf fühlt sich an, als würden sich gerade Neuronen verknoten. Bis ich mich überwinden kann, die vorgegebene Farbe anzusagen, verstreichen Sekunden.

Hirn manipuliert

Ein Highfive von David Schwartzman, willkommen im Club der Synästhetiker. Jedenfalls nach der Definition der Sussex-Forscher. Richtig, ich ordne Buchstaben Farben zu. Ja, sie sind fest und unverwechselbar mit den Symbolen verknüpft, Abweichungen (wie das pinke E) lösen einen Konflikt aus. Darüber hinaus ist bei Magnetstimulation meine Reizschwelle für die Farbwahrnehmung gesunken – um 16 Prozent.

Die Kriterien sind erfüllt: Mein Hirn wurde mit relativ einfachen Mitteln manipuliert.

Für die Wissenschaftler an der University of Sussex ist die Synästhesie ein überschaubarer Schauplatz auf dem so schwer zu erschließenden Gebiet der Hirnforschung. Man kann sie messen, man kann experimentelle Bedingungen variieren – und man kann sie offenbar hervorrufen. Über diesen Weg wollen die Wissenschaftler mehr darüber erfahren, wie unser Gehirn auf äußere Reize reagiert, wie es sich anpasst. Gezeigt hat sich, dass sich Wahrnehmung durch simples Training verändern kann. David Schwartzman und seine Kollegen hoffen nun, mit ihren Erkenntnissen zur Behandlung von Krankheiten wie ADHS oder Demenz beizutragen.

Ich habe mir das allerdings anders vorgestellt. Bunter, weniger banal. Ich wollte Farben in meine Umgebung projiziert erleben. Wie fast die Hälfte der Sussex-Probanden es behauptet. Doch die Bilder sind nur in meinem Kopf. Meine Qs sind von nun an eben lila. Schließlich habe ich mir jeden Tag lila Qs angesehen. Habe Termine abgesagt, um trainieren zu können, bin nicht ans Telefon gegangen, weil gerade das Programm lief. Lila Qs sind doch ganz normal, sage ich. „Eine angeborene Synästhesie ist das doch auch: ganz normal“, antwortet Schwartzman.

bouba und kiki

Synästhesie ist deshalb ein so mysteriöses Phänomen, weil sie sich individuell entwickelt. Sie kann wissenschaftlich nachgewiesen werden, doch wie und wie intensiv sie wahrgenommen wird, das variiert von Person zu Person. Und es bleibt immer die Frage: Ist das eine genuine, eine echte Synästhesie? Vor kurzem zum Beispiel fiel einer Kollegin auf, dass ihre Zahlen männlich oder weiblich sind. Und mir selbst, dass meine Wochentage Farben haben. Schuld ist das Layout einer Fernsehzeitung aus den 1990er Jahren. Als echte Synästhetiker würden wir uns beide nicht bezeichnen.

Beat Meier von der Universität in Bern sagt, dass es einen kontinuierlichen Übergang zwischen tatsächlicher Synästhesie und einer einstudierten Assoziation von Buchstaben und Farben gibt. Und man kann diesen Gedanken noch weiter spinnen: Warum „sprechen“ Metaphern zu uns allen, über Kontinente und Kulturen hinweg? Fast jeder findet, dass das Kunstwort „kiki“ irgendwie stachelig klingt, während „bouba“ eher kurvige Formen annimmt. Fast jeder unterscheidet Vokale in eher helle und eher dunkle Laute, vielleicht sogar in verschieden farbige. Und für fast jeden schmeckt Süßes rund, Saures spitz. Vielleicht liegt es ja daran, dass auch bei uns „Normalen“ die Sinne nicht völlig unabhängig voneinander funktionieren. Dass sie zusammen spielen. Dass wir eben alle Synästhetiker sind, ein kleines bisschen zumindest.

Text und Bild: Philipp Brandstädter

Quellen

Harrison, John (2001): Wenn Farben Töne haben. Eintrag zu Baudelaire auf S. 112/113, zu Kandinsky auf S. 120.

Interview mit Lady Gaga

Julia Simner (2013)

Bor et al. (2014)

Witthoft (2015)

Spector/Maurer (2009)

http://wortwuchs.net/stilmittel/synaesthesie

Rothen/Meier (2014)

Ramachandran/Hubbard (2001)

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