Nacktmulle mit Superkräften

Nacktmulle mit Superkräften

Eine gewisse Ähnlichkeit haben sie vielleicht mit Hamstern oder Meerschweinchen. Naja, ein kleines bisschen wenigstens. Nacktmulle sehen höchst ungewöhnlich aus. Schließlich haben sie fast kein Fell, winzige Augen und winzige Ohren. Doch nicht nur ihr Aussehen ist ungewöhnlich. Sondern auch ihre Lebensweise.

Nacktmulle leben unter der Erde. In der Wüste Ostafrikas wuseln sie durch unterirdische Tunnel und Höhlen, die sie mit ihren großen Schneidezähnen gegraben haben. Auf diese Weise schützen sie sich sowohl vor der brennenden Sonne als auch vor Fressfeinden.

Aus diesem Grund sehen Nacktmulle aus, wie sie eben aussehen. In ihren stockfinsteren Gängen brauchen sie keine guten Augen. Und ihre lang gestreckten Körpern bewegen sie dank ihrer rosigen, faltigen Haut geschmeidiger durch die engen Tunnel als wenn sie dichtes Fell hätten.

Lange unerforscht

Da sich Nacktmulle in ihrem natürlichen Lebensraum kaum beobachten lassen, wusste man lange Zeit so gut wie nichts über die wunderlichen Wesen. Tierforscher konnten manchmal ihre Geräusche hören, die ein bisschen so klingen wie Vogelgezwitscher. Mittlerweile kann man Nacktmulle aber auch in Zoos bestaunen. Im Tierpark Berlin zum Beispiel.

Im Tierpark leben ungefähr 50 Tiere in einer Kolonie. Dort tapsen sie durch einen künstlichen Bau aus durchsichtigen Röhren und Behältern. So kann man beobachten, wie die manche Tiere Holzspäne für den Nestbau durch die Gänge tragen. Andere schleppen kleine Stückchen Süßkartoffel in ihre Vorratskammern. Ganz schön was los in so einer Nacktmull-Kolonie.

„Nacktmulle sind unheimlich spannende Tiere“, sagt Claudia Walther. Die Tierpflegerin kümmert sich schon einige Jahre um die Nager. „In ihren Kolonien sind sie ähnlich organisiert, wie wir es eigentlich eher von Bienen oder Ameisen kennen.“ Denn auch die Nacktmulle haben stets eine Königin als Oberhaupt. Sie sorgt für den Nachwuchs in der Kolonie. Die anderen Tiere sind Arbeiter. Und die haben ganz verschiedene Aufgaben.

Soldaten und lebende Wärmekissen

So kümmern sich manche Nacktmulle um die Jungtiere, andere verteidigen das Nest. Manche halten die Höhlen sauber oder buddeln neue Gänge. „Einige Tiere arbeiten auch als lebende Wärmekissen“, sagt die Fachfrau. „Wenn es im Nest zu kühl wird, flitzen die ein paar Runden durch die Gänge.“ So erhöht sich ihre Körpertemperatur, wodurch es in den Bauten wieder gemütlich warm wird.

Für gewöhnlich läuft das Leben in einer Nacktmull-Kolonie friedlich ab. Doch sollte ein anderes Weibchen Königin werden wollen, wird es unheimlich. Dann verteidigt die Königin ihren Thron mit ihren scharfen Zähnen. Es kommt zu heftigen Kämpfen in der Kolonie.

Wenn ein neues Weibchen Königin wird, verändert sie ihr Aussehen. Sie wächst in die Länge, bekommt eine hellere Haut und ein Gesäuge. In ihrem langen Leben kann eine Nacktmull-Königin viele Hundert Jungtiere bekommen.

Fall für die Forschung

Nach einigen Jahren der Forschung machten die Wissenschaftler schließlich eine ganz besondere Beobachtung. Sie stellten fest, dass die Nacktmulle ungewöhnlich alt werden. „An die 30 Jahre können unsere Nacktmulle alt werden“, sagt Claudia Walther. Das ist für kleine Säugetiere unheimlich. Im Vergleich werden Hamster oder Mäuse nur zwei bis drei Jahre alt.

Und noch aus weiteren Gründen werden Nacktmulle von Forschern untersucht. Inzwischen haben die Wissenschaftler herausgefunden: Die Tiere spüren kaum Schmerzen. Sie können an die 20 Minuten lang ohne Sauerstoff in ihren Gängen auskommen. Und sie werden ungewöhnlich alt.

Die Forscher fragen sich, worin das Geheimnis der vielen Nacktmull-Kräfte liegt. Denn vielleicht kann man bald mit der Hilfe der Nacktmulle besser verstehen, wie wir Menschen eigentlich altern.

Und noch eine andere Frage ist bislang nicht geklärt: Leben die Mulle aus denselben Gründen so lang wie andere Lebewesen, die sehr alt werden? Wie manche Austern-Arten, Polypen oder der Grönland-Hai etwa. Diese Tiere können alle mehrere hundert Jahre alt werden!

Text und Bild: Philipp Brandstädter,
zunächst erschienen über dpa Nachrichten für Kinder, Mai 2019

Quellen:

Beobachtung Nacktmulle

Infos Nacktmull

Koloniestruktur der Nacktmulle

Wahl der Königin bei Nacktmullen

Lockdown als Staatsform

Lockdown als Staatsform

erschienen in der taz, die Tageszeitung, am 9. Mai 2021

Wir waren nur ein paar Monate in so etwas wie einem Lockdown. Nacktmulle sind es immer. Von ihnen kann der Mensch lernen – über Gesundheit und das Altwerden.

Keiner rein, keiner raus. China hat es schon Anfang letzten Jahres bewiesen, Spanien Ende März: Ein harter Lockdown bringt’s. Denn wer sich wegschließt, fängt sich keine Keime ein. Was unsereins derzeit hochgradig an die Nieren geht, machen Nacktmulle schon immer so – und sind deshalb für die Wissenschaft hochgradig interessant, nicht erst seit Corona. Was Gesundheit und Altwerden betrifft, sind uns die rattenähnlichen Tiere nämlich viele Schritte voraus.

Nacktmulle leben unter der Erde Ostafrikas, in langen Tunnelsystemen. Sie hören nicht viel, sehen nicht viel – und auch nicht sonderlich schön aus. Aber man sieht sie ja sowieso nicht. Nur die paar Exemplare, die im Zeichen der Wissenschaft durch Acrylglasröhren watscheln, etwa im Keller des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin, bekommen Menschen zu Gesicht. Dort gehen die Tiere in gut gewärmten Glaskästen ihren Nacktmullgeschäften nach. Ein Stück Süßkartoffel von hier nach dort tragen. Ein bisschen Möhre von dort nach hier.

In Laboren wie diesen fand man zum Beispiel heraus, wie sozial diese erstaunlichen Säugetiere organisiert sind. Nacktmulle leben in Staaten, wie wir es sonst nur von einigen Insekten kennen. In einer Kolonie mit bis zu 300 Tieren arbeiten Soldaten, Bauarbeiter, Ammen, Reinemachkräfte – angeführt von einer Königin.

Thomas Hildebrandt ist seit Mitte der Neunziger Nacktmullfan. „Ich habe eine trächtige Königin mit Ultraschall untersuchen dürfen“, erzählt der Wissenschaftler. „Damals war mir noch nicht klar, was für Sonderlinge das sind.“ Die allererste Kolonie hat Hildebrandt 2008 nach Berlin gebracht. Von Kollegen aus Albuquerque, New Mexico, im Tausch gegen ein Elefantenbaby. Oder besser gesagt: im Tausch gegen die erfolgreiche Besamung einer Elefantenkuh. Diese kostbare aller­erste Königin musste nun abdanken.

Zwanzig Jahre hat sie mit eiserner Hand regiert. Sie ging über Leichen, um ihren Thron zu verteidigen. Dann wurde sie um die Ecke gebracht – ohne große Gegenwehr. Ein gezielter Biss in die Wirbelsäule besiegelte ihr Schicksal. Thomas Hildebrandt hat schon wesentlich größere Blutbäder erlebt. „Offenbar hatte die Königin keine Verbündeten mehr an ihrem Hof“, sagt der Tiermediziner. „Sie war ja auch schon sehr alt.“ Das Staatsoberhaupt hatte kaum noch Backenzähne.

Zähne wachsen außerhalb der Schnauze

Ordentliche Zähne brauchen Nacktmulle aber. Zum Fressen, zum Schleppen, zum Kämpfen und natürlich zum Graben. Dafür tragen sie ihre gewaltigen Schneidezähne außerhalb ihrer Schnauze. „Was wirklich praktisch ist“, sagt Hildebrandt, „wenn man beim Buddeln nicht ständig auf Dreck herumkauen will.“

Nach dem Sturz der Königin herrschte eine Woche lang Anarchie. Thomas Hildebrandt hatte keine Ahnung, welche Mullin die Thronfolge übernehmen würde. Erst ein Ultraschall gab Aufschluss: Die Königsmörderin selbst führt das Matriarchat nun an. Das einzige Tier, das eine leichte Wunde an der Schnauze davongetragen hatte, ist trächtig.

Unter dem Boden der Savannen und Steppen blieben Nacktmulle die längste Zeit unbemerkt. Die Tiere sind unter Tage sicher in ihren Bauten, ohne Kontakt zur Außenwelt. Harter Lockdown, für immer. Bei den äthiopischen Süßkartoffelbauern sind die Tiere als unheimliche Teufel bekannt. Nicht etwa, weil sie ihnen die Ernte wegfressen würden. Im Gegenteil, die cleveren Mulle nagen Knollen und Wurzeln immer nur so weit an, dass sie auch wieder nachwachsen. Stattdessen versetzen die kleinen Nager die Landwirte in Angst und Schrecken, weil sie versehentlich ihre Kamele umbringen.

Kein Scherz. Nacktmulle graben mit ihren Zähnen, und das ziemlich schnell und rabiat. Wenn sie sich mit ihren Hauern in Richtung Erdoberfläche beißen, erwischen sie ab und an auch mal einen dort herumdösenden Paarhufer. Und weil die Zähne der Nacktmulle dermaßen mit Bakterien verseucht sind, fangen sich die Kamele lebensgefährliche Blutvergiftungen ein.

Lange Zeit hatte die Wissenschaft keinen blassen Schimmer von den Mullen. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie von einem deutschen Biologen beschrieben. Allerdings dachte der, dass es sich um Jungtiere anderer felltragender Nager handeln würde. Über hundert Jahre später wurden die Nacktmulle sozusagen zum zweiten Mal ent­deckt. Seitdem werden die Geheim­nisse dieser Tiere nach und nach gelüftet.

Privileg, sich nicht anpassen zu müssen

Thomas Hildebrandt sitzt in seinem Büro vor dem Rechner und zeigt Videos, die er in Äthiopien aufgenommen hat. Eines zeigt die Farmer und ihre Felder mit ein paar Löchern im rotbraunen Boden. Auf einem anderen ist die Erde zu sehen, wie sie in hohem Bogen aus den Löchern katapultiert wird. Viel mehr Hinweise auf die Nacktmulle sind über Tage nicht einzufangen.

Dann folgt ein Video aus dem Inneren eines Mulltunnels, das der Forscher mit einem Endoskop gefilmt hat. Die Nacktmulle halten das Instrument für eine Schlange, ihre einzige Fressfeindin. Man kann sehen, wie ein großer, dicker Nacktmull an die Front geschickt wird. Er stellt sich dem Endoskop in den Weg. Seine Artgenossen verschließen hinter ihm den Gang. Der Dicke greift das Endoskop an, bereit, sich für sein Volk zu opfern. Hildebrandt tritt mit seinem teuren Messinstrument den Rückzug an.

Die Mulle im Labor des Berliner IZW müssen keine Schlangenattacken abwehren. Sie tapsen durch die durchsichtigen Röhren, mit Chips unter der Haut, durch Lichtschranken registriert und von Kameras überwacht. So wollen die Forschenden mehr über das Sozialverhalten der Tiere lernen. Inzwischen sind die meisten Rollen und Aufgaben bekannt. Wer den Bau sauber hält, wer Nahrung beschafft, wer sich um den Nachwuchs kümmert, wer die Königin besteigen darf. Manche Nacktmulle dienen als lebende Wärmekissen. Wird es den anderen zu kühl, rennen sie ein paar Runden um den Block und heizen dann, außer Puste, mit ihrer eigenen Körperwärme das Nest wieder auf.

Besonders faszinierend ist aber die Königin. Steigt ein Weibchen zum Staatsoberhaupt auf, verändert es sein Äußeres. Die Haut wird heller, manche Knochen beginnen zu wachsen. „Sie produziert ständig Biomasse und wird immer länger“, erklärt Hildebrandt. So passen gut zwei Dutzend Babys in die Königin. „Sie bricht biologische Gesetze. Wir haben noch längst nicht alle Zusammenhänge begriffen.“

Der grundlegende Ursprung der biologischen Andersartigkeit könnte im harten Lockdown liegen. In ihren Tunneln müssen sich die Nacktmulle nicht an veränderte Umwelteinflüsse gewöhnen, während sich der Mensch und die meisten anderen Lebewesen ständig anpassen müssen. Wir tun das, indem wir unser Erbgut mischen und neu ausrichten. Wir produzieren neue Generationen. Die können sich dann mit den neuen Bedingungen da draußen herumschlagen. Rein biologisch gesehen ist unser Lebenssinn danach vorbei. Bei den Nacktmullen ist das anders. Sie genießen das Privileg, sich nicht anpassen zu müssen. Sie können es sich leisten, lange zu existieren.

Quasi Methusalem

Tatsächlich können Nacktmulle unheimlich alt werden. Gut zwei bis drei Jahrzehnte sind es. Verglichen mit anderen Nagetieren wie Meerschweinchen, Hamster und Ratte ist der Mull quasi Methusalem, und das ganz ohne Alterserscheinungen. Offenbar können Nacktmulle ihre Zellen besser und länger reparieren, auch die gebildeten Proteine bleiben stabil. Kommt hinzu: Eine langkettige Blutzuckerverbindung, die Zellen daran hindert, sich in Krebszellen zu verwandeln, bleibt in den kleinen Nagern konstant hoch. Nacktmulle sterben höchstens im Säuglingsalter, weil sie nicht genug Futter abbekommen, oder später an Bisswunden, aber nicht an Krebs oder Infekten.

Darüber hinaus haben sie ein vermindertes Schmerzempfinden. Sie nehmen äußere Reize wie Hitze oder Bisse zwar wahr, jedoch scheint der Schmerz auszubleiben, da in der Haut das dafür verantwortliche Molekül fehlt. Kurzum: Was sich auf zellularer Ebene in den Nacktmullen abspielt, geht in Richtung Superheldenkräfte.

Inzwischen sei der Nacktmull zum Star am biomedizinischen Forschungs­himmel aufgestiegen, sagt Thomas Hildebrandt. Etliche Institute auf der ganzen Welt forschen an den Tieren; die einen tauschen ihre Ergebnisse aus, die anderen nicht.

Im Verborgenen bleibt etwa die Mullforschung von ­Googles Biotech-Unternehmen Calico, das menschliches Altern untersucht. Die Forscher hoffen, die mullischen Mechanismen zu durchschauen und auf unsere Körper zu übertragen. Aber bis klar ist, wie das funktioniert mit Krebs heilen, Knochen wachsen lassen, und die Lebensdauer verzehnfachen, dauert es wohl noch eine Weile.

UND HIER NOCH WAS ZUM LERNEN:

Gegen den Krebs

Von Krebs sprechen wir, wenn Zellen außer Kontrolle geraten und nicht mehr das tun, was sie eigentlich tun sollen. Stattdessen wachsen sie lieber enorm. Je mehr Zellen ein Organismus hat und je älter dieser wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Zellen irgendwann derartigen Unfug tun. Bei Nacktmullen jedoch sind nach Jahrzehnten der Forschung kaum Krebserkrankungen beobachtet worden. Jedenfalls nicht in den Laboren, die Nacktmullkolonien halten.

Deshalb untersuchten Forschende der University of Rochester in New York, Shanghai und Haifa sowie etwas später auch die Cambridge Universität und das Leibniz-Institut in Berlin die ungewöhnliche Krebsimmunität der Tiere. Die Ursache ihres Anti-Krebs-Mechanismus scheint in den Zellen im mullischen Bindegewebe zu liegen, den Fibroblasten. Sie spielen eine wesentliche Rolle bei der Wundheilung. Diese Zellen stellen sehr langkettige Moleküle an Hyaluronsäure her. Diese Ketten schnüren sich um Zellen und halten sie von Dummheiten ab. Etwa daran, ungewöhnlich stark zu wachsen.

Hyaluronsäure bindet vergleichsweise große Mengen Wasser und steckt darum auch in manchen Nasensprays und Augentropfen, um der Austrocknung entgegenzuwirken. Ebenso ist die Säure entzündungshemmend und daher in Hydrogelen enthalten, die Wunden beim Heilen unterstützen. Die Hyaluronsäure der Nacktmulle ist fünfmal länger als die von Menschen oder Mäusen. Auch die Mulle scheinen die Hyaluronsäure vorwiegend zur Pflege ihrer empfindlichen Haut zu bilden. Die Krebsresistenz ist offenbar nur ein ziemlich netter Nebeneffekt.

Wissenschaftler von der Universität Liverpool wiesen ein paar Jahre später nach, dass die Mull-Zellen viel widerstandsfähiger gegen Beschädigungen ihres Erbguts sind. Beim Kopieren und Kopieren und Wiederkopieren der DNS treten früher oder später Fehler auf, Mutationen. Bis die Zellen irgendwann nicht mehr so fit sind wie ursprünglich. Die Nacktmulle kopieren offenbar besser.

Fit bis ins hohe Alter

Meerschweinchen, Hamster, Mäuse und Ratten werden nicht sonderlich alt, wie so ziemlich alle kleineren Säugetiere. Ihre Herzen schlagen so schnell wie ihre Lebensenergie verbraucht ist. Für manche Leute macht gerade die kurze Lebensdauer ein ideales Haustier aus. Dann muss man nicht so lange Käfige ausmisten. Solche Leute sollten sich besser keine Nacktmulle halten.

Im Verhältnis zu ihren verwandten Nagern werden Nacktmulle fürchterlich alt. 20, 30, mal knapp 40 Jahre. Und: Sie altern nicht wirklich. Die Tiere bleiben die ganze Zeit fit und beweglich, bis ins hohe Alter lässt sich kein Verfall von Hirn- oder Muskelmasse nachweisen. Von außen kann man ihr Alter kaum erkennen.

Studien zeigen, dass der Grund der Langlebigkeit in der Fähigkeit der Zellreparatur liegt. Zellen arbeiten, einfach gesagt, in zwei unterschiedlichen Modi: Reparieren und Wachsen. Werden die Zellen ständig mit Nährstoffen versorgt, ziehen die Zellen Teilung und Wachstum vor. Bleiben die Nährstoffe aus, nutzen die Zellen die Zeit zum Aufräumen. Diesen Modus kennen Heilfastende als Autophagie.

Damit ist die Reinigung und Regeneration von Zellen gemeint. Beschädigte Strukturen werden erkannt, zerlegt und abgebaut. Durch Fasten wollen wir uns diesen Modus zunutze machen: Wir versuchen dank aufgeräumter Zellen fit und belastbar zu bleiben und unerwünschtes Wachstum in welche Richtungen auch immer zu vermeiden. Nacktmulle scheinen gut aufzuräumen. Egal, ob sie nun fasten oder nicht.

Luft anhalten

Wo wir gerade beim Fasten sind. Radikale Asketen wissen, dass wir theoretisch ein paar Wochen ohne Nahrung auskommen könnten. Und ein paar Tage ohne Wasser. Aber wie lange halten wir wohl ohne Sauerstoff zum Atmen aus? Beim Luftanhalten können Nacktmulle locker mit der Elite der Apnoetaucher mithalten. Knapp zwanzig Minuten kommen sie ohne Sauerstoff aus.

Das ist auch ganz hilfreich. Denn Sauerstoff ist in den engen unterirdischen Gängen der Nacktmullkolonien Mangelware. Während für uns Menschen ein Sauerstoffgehalt von unter zehn Prozent in der Atemluft lebensgefährlich wird, kommen die Mulle stundenlang mit fünf Prozent Sauerstoff aus. Wenn die Tiere dicht an dicht zusammengekuschelt in ihren Nestern schlafen, bekommen sie zeitweise fast gar keine Luft. Doch sie ersticken nicht.

18 Minuten halten die Mulle sogar komplett ohne Sauerstoff aus. Dabei fallen die Tiere in eine Art Winterruhe. Ihr Puls senkt sich von 200 auf 50 Herzschläge pro Minute. Die Tiere greifen dann auf eine einzigartige Überlebensstrategie zurück: Sie versorgen ihre Organe unabhängig von Sauerstoff mit Energie. Dazu stellen sie ihren Stoffwechsel von Glukose auf Fruktose um.

Das Gehirn der Nacktmulle kommt dadurch offenbar dreimal länger ohne Sauerstoff aus als etwa das von Mäusen. Wurde unser Hirn im Notfall eine kurze Atempause einlegen können, würden wir uns nicht mit den Folgen beschäftigen müssen, die ein Schlaganfall oder ein Herzinfarkt innerhalb von Minuten anrichten kann.

Nun fragen Sie sich vielleicht, wie man das wohl herausgefunden hat. Na ja. Um es kurz zu machen: Für ihre Studie verlieh man dem Forschungsinstitut das sogenannte „Herz aus Stein“ – für das schlimmste Tierexperiment des Jahres.

Wir verstehen uns

Und dann sprechen Nacktmulle auch noch verschiedene Dialekte. Wie das eben so ist, wenn soziale Gruppen ohne jeden Austausch voneinander getrennt werden. Eigene Melodien und Phrasen schleichen sich ein und werden über die Jahre kultiviert.

In einer Nacktmullkolonie herrscht ein ständiger Geräuschpegel. Die Tiere fiepen, grunzen und zirpen fast ununterbrochen. Unter all diesen Lauten gibt es auch eine Grußformel: ein leises Zwitschern, mit dem sich die Tiere untereinander „Hallo“ sagen – und erkennen. Antwortet ein Mull auf die Begrüßung im angemessenen Sound, so wird das Tier freundlich willkommen geheißen. Spricht er jedoch einen anderen Dialekt, gibt’s Ärger.

Denn Nacktmulle sind fremdenfeindlich. Mulle, die nicht dieselbe Sprache sprechen, werden rabiat aus den Tunneln der Kolonie gejagt, bestenfalls. Für gewöhnlich töten Mulle Artgenossen aus anderen Kolonien, wenn die sich in einen anderen Bau gebuddelt haben.

Nun haben Wissenschaftler über 35.000 verschiedene Nacktmullgeräusche aufgenommen und mit einem Computerprogramm analysiert. Die Software konnte später jedem Mull einen individuellen Sound zuweisen. Darüber hinaus ließen sich Gemeinsamkeiten der Laute innerhalb einer Kolonie feststellen. Daraus schließen die Forschenden, dass wohl jede Nacktmullkolonie seinen eigenen Dialekt hat.

Texte und Bild: Philipp Brandstädter

Quellen:

Alterung

Schmerzempfinden

Sauerstoffmangel

Infos zum Nacktmull

Wahl der Königin

Wonach schmecken diese Farben?

Wonach schmecken diese Farben?

erschienen in der GEO 11/2015

Zähflüssig verrinnen die Minuten, während ich mich von Buchstabe zu Silbe zu Satz zu Sinn hangele. So muss sich Legasthenie anfühlen. Ich kenne die Symbole, ich habe ihre Bedeutung auswendig gelernt. Doch trotzdem weigert sich mein Gehirn, die Zeichen miteinander zu verbinden. Es ist Buchstaben gewohnt. Keine roten, grünen, blauen Kästchen. Genau das soll aber in meinen Kopf: Jede Farbe steht für einen Buchstaben, ist fest mit ihm verknüpft. B zum Beispiel ist dunkelblau.

Der rechte Zeigefinger muss beim Lesen helfen. Wie damals in der Grundschule. Er leitet meinen Blick über die bunten Quadrate. Irgendwann ist der erste Absatz gemeistert. Die Unendlichkeit zweier voll beschriebener Seiten noch vor mir. Und das jeden Tag. Wochenlang.

Es hat ja auch keiner behauptet, es sei leicht, Synästhesie zu lernen.

Synästhesie. Der Begriff beschreibt die Verschmelzung mehrerer Sinneswahrnehmungen. Synästhetiker nehmen die gewöhnliche Welt auf eine ungewöhnliche Weise wahr. Stellen Sie sich vor, beim Lesen erschienen ihnen die Buchstaben in Farbe getaucht (genau das will ich erreichen). Stellen Sie sich vor, das Knarzen der Stufen in Ihrem Treppenhaus röche nach Pfefferminz. Stellen Sie sich vor, Sie trinken Zitronensaft und fühlten am ganzen Körper Spitzen, und die Zahlen, die sie auf dem Telefon wählen, kitzelten Sie an den Füßen.

Können Sie nicht? Geht mir ähnlich. Aber ich wollte, ich könnte.

Deshalb suchte ich das Sackler Centre for Consciousness Science auf, einen schnörkellos fensterarmen Backsteinklotz auf einem von Nebelschwaden umhüllten Campus der University of Sussex in Brighton. Das Hauptquartier der Synästhesie-Forschung schlechthin. Dort haben britische Wissenschaftler ein Training entwickelt, das über Denksport, Schnelllesen und Kreuzworträtsel hinaus reicht. Es soll auch Nicht-Synästhetiker wie mir den Weg bahnen in die attraktive Welt der übersinnlich Begabten.

Grapheme und Farben

Als ich von dieser Möglichkeit hörte, war ich elektrisiert. Denn Synästhetiker berichten nicht nur von surrealen Sinneswahrnehmungen. Sie gelten auch als ausgeglichen, sorgenfrei, psychisch stabil, begabt. Etlichen Genies wird Synästhesie nachgesagt. Goethe wird sie angedichtet, auch Baudelaire, van Gogh und dem Physiker Nikola Tesla. Kandinsky sowieso; wer seine Bilder betrachtet, begreift ohne synästhetisches Empfinden, wie Klänge auf einer Leinwand aussehen. Auch Lady Gaga behauptet, ihre Musik in Farbe und Form sehen zu können.

Ein bisschen mehr Kreativität, ein bisschen mehr Leichtigkeit, das wollte ich auch. Die Welt anders, intensiver wahrnehmen. Die grauen Zellen trainieren, bis sie Ungewöhnliches können. Übersinnliches, sozusagen.

Im Sackler Centre sitzt mir David Schwartzman mit verschränkten Beinen gegenüber und balanciert ein Diktiergerät auf seinem Knie. Ich starre an ihm vorbei an eine Wand, die eher einen neuen Anstrich als noch ein weiteres Poster über optische Täuschungen vertragen könnte, und überlege, ob ich Buchstaben mit bestimmten Farben verbinde. Naja, der Buchstabe T ist irgendwie magenta, sage ich. Damit wächst man auf, ob man will oder nicht. Der Neuropsychologe grinst mich durch seinen Buffalo-Bill-Bart hindurch an. Damit sei ich noch kein Synästhetiker, findet Schwartzman.

Aber durch sein Training könnte ich einer werden.

Die „Graphem-Farb-Synästhesie“, die ich lernen soll, ist die am weitesten verbreitete von 54 bekannten Synästhesien. Manchen Graphem-Farb-Synästhetikern erscheint ein zusätzlicher Sinneseindruck, fest verwoben in ihren Gedanken. Für andere ist es, als hätten sie einen Monitor vor Augen. Sie sehen die bunten Buchstaben auf einer transparenten Ebene über dem eigentlichen Text schweben.

Schwartzman und seine Kollegen Nicolas Rothen, Daniel Bor und Anil Seth versuchen, mit Gedächtnis- und Leseübungen bunte Assoziationen zu wecken. Neun Wochen lang werden mir mit einem Computerprogramm 13 Buchstaben-Farb-Kombinationen eingeimpft. Ein dunkelblaues B. Ein braunes D. Ein hellgrünes E, und so weiter. Jeden Tag werde ich Farb- und Buchstabenreihen abgefragt, die ich korrekt wiedergeben soll. Ich muss mit Geschwindigkeitstests die gelernten Farben verinnerlichen und Texte lesen, in denen Buchstaben durch ihre zugewiesenen Farbnuancen ersetzt sind.

„Nach unserem Training haben bislang alle Probanden von Farbwahrnehmungen berichtet, die denen echter Synästhetiker ähneln“, berichtet Schwartzman. Und ein schöner Nebeneffekt: Der Sussex-Studie zufolge habe sich ganz nebenbei auch der IQ der Teilnehmer um ein paar Punkte verbessert. Das Gehirn lässt sich offenbar wie ein Muskel trainieren. Nur dass es dabei nicht wesentlich an Masse zulegt, sondern an der Anzahl neuronaler Verknüpfungen.

Der Erfolg der Trainingsstudie zeigt, dass Synästhesie gelernt werden kann, zumindest teilweise. Für einen Lernanteil spricht auch ein Befund aus dem März 2015: Als US-amerikanische Forscher die Häufigkeit bestimmter Buchstaben-Farb-Kombis untersuchten, stellte sich heraus, dass in den 1970er und 1980er Jahren geborene Synästhetiker den Lettern besonders häufig jene Farben zuordneten, die auch die Buchstaben eines weit verbreiteten Magnetalphabets hatten. Denn viele Kinder meiner Generation haben das ABC nicht auf dem Papier gelernt. Während Mutti Mittag machte, heftete unsereins die ersten Worte an Kühlschranktüren. Und übernahm die Farbzuordnungen offenbar vom Spielzeug.

Das reicht natürlich nicht aus, um Synästhetiker zu werden. Dazu braucht es mehr.

Denn eines steht auch fest: Das Phänomen hat eine genetische Komponente. Es gibt Familien, in denen sich diese Art der Wahrnehmung häuft. Von Generation zu Generation weitergegeben wird dabei nicht unbedingt die Art der Synästhesie, sondern vielmehr die Veranlagung, Sinneserfahrungen zu mixen. Ein Vater mit Graphem-Farb-Synästhesie kann also durchaus eine Tochter haben, die Töne schmeckt.

„Eigentlich sind wir alle von Geburt an Synästhetiker“. – David Schwartzman, Neurowissenschaftler

Aber wie genau entsteht nun Synästhesie, welche Verschaltungen im Gehirn liegen dem Sinnesmix zugrunde? Neurowissenschaftler diskutieren vor allem zwei Theorien. Sie kursieren unter den (zunächst) kryptischen Schlagworten „enthemmtes Feedback“ und „Kreuzaktivierung“.

Wenn wir einen Gegenstand wahrnehmen, laufen seine verschiedenen Eigenschaften wie Form, Farbe, Geruch im Gehirn in einer zentralen Schaltstelle zusammen. Dort verschmelzen sie zu einem einheitlichen Sinneseindruck: Das Rechteck ist dunkelbraun und duftet nach Kakao – ein Stück Schokolade. Von dieser Schaltzentrale laufen auch Verbindungen zu anderen Sinnesmodalitäten, die allerdings blockiert sind: Das Braun der Schokolade ist normalerweise nicht mit einem Ton assoziiert.

Bei Synästhetikern aber, so denken sich das die Forscher, ist eben diese Blockade aufgehoben, ist das Feedback zu einem Hirnareal, das an der Wahrnehmung eigentlich nicht beteiligt ist, „enthemmt“. Daher der Name der Theorie. Das bedeutet allerdings auch: Synästhetiker haben – zumindest anatomisch gesehen – das gleiche Gehirn wie Nicht-Begabte. Ihr Gehirn funktioniert nur etwas anders.

Die Theorie der Kreuzaktivierung geht dagegen davon aus, dass bei Synästhetiker zusätzliche Verschaltungen zwischen Neuronen vorhanden sind. Und diese seien Überbleibsel aus der Baby-Zeit. „Denn eigentlich sind wir alle von Geburt an Synästhetiker“, erklärt Schwartzman. Nur verlieren die meisten diese Begabung. Bei Neugeborenen ist das Gehirn für alle Eventualitäten gewappnet, zwischen Nervenzellen existieren Verknüpfungen im Überfluss. Die Sinne fließen noch ineinander.

Unbewusste Gabe

Die Umwelt bestimmt dann, was überlebt. Jene Schaltkreise, die häufig gereizt werden, bleiben erhalten, ja werden sogar verstärkt. Jene, die kaum Signale erhalten, verkümmern. So optimiert sich das Gehirn selbst für die Anforderungen des Lebens.

Bei Synästhetikern wird der ursprüngliche Wildwuchs an Neuronen eben nicht so stark ausgedünnt. Die Forscher aus Sussex sind überzeugt, dass es für Normal-Sinnliche quasi einen Weg zurück gibt, dass sich verlorengegangene Verknüpfungen reaktivieren lassen.

Der Club der genialen Synästhetiker ist also vielleicht gar nicht so elitär. Man kann ihm womöglich nachträglich beitreten.

Laut Sackler Center erlebt eine von 23 Personen die Welt als Synästhetiker. Die Quote variiert jedoch, denn oft ist Synästhetikern gar nicht bewusst, welche Gabe sie haben. Wer kann schon beurteilen, wie er selbst die Welt sieht und wie es andere tun.

Zudem waren Farbenfühlen und Gerüchesehen nicht schon immer erstrebenswert. Lange galt Synästhesie als Hirngespinst, das man entweder geheim hielt oder der Poesie überließ. Dichter nutzten den Sinnesmix als Stilmittel, prägten so die Epoche der Romantik und ließen vor 200 Jahren wie Clemens Brentano „Töne golden niederweh’n“.

Heute steht jedenfalls fest: „Synästhesie ist keine Phantasterei. Sie kann nachgewiesen werden!“, sagt Schwartzman entschlossen und zieht mir mit ebenso viel Entschlossenheit eine Badekappe über die Ohren.

Sicheln und Scheiben blitzen auf

In einem zappendusteren Kämmerchen starre ich auf einen Monitor, der mir ein langweiliges Schachbrett präsentiert. Seine Felder springen ansatzlos hin und her, schwarz wird weiß und weiß wird schwarz. Meine Augen suchen Halt. Zwei Tassen Kaffee halten mich munter, derweil die verkabelten Elektroden in der Badekappe meine Hirnströme messen. Die Aktivität der Sehrinde sei ein guter Indikator für Synästhesie, ruft Schwartzman durch die Tür. „Je höher die Amplitude auf dem EEG, desto mehr Neuronen feuern durch den visuellen Kortex.“

Und je mehr Feuer unterm Schädeldach, desto näher die Synästhesie.

Weitere Hinweise auf ein synästhetisches Gehirn liefert die „Transkranielle Magnetstimulation“, kurz: TMS. Bei dieser Methode durchdringt ein magnetischer Impuls die Schädeldecke und beeinflusst die Neuronen. An der University of Oxford untersuchte der Hirnforscher Devin Terhune die Farbwahrnehmung von Graphem-Farb-Synästhetikern. Ein kurzes „Zapp“ mit dem TMS – und schon sieht der Proband Farben und Formen aufblitzen. Terhune stellte fest, dass die Reizschwelle bei Synästhetikern deutlich niedriger liegt als bei Nicht-Synästhetikern. Bereits ein Drittel des TMS-Impulses reicht bei ihnen aus, um visuelle Effekte auszulösen.

Testweise setzt David Schwartzman das TMS an meinem Kopf an und lässt meinen kleinen Finger zucken. Ich bin gleichermaßen erstaunt und erschrocken ob der Präzision der Magnetimpulse. Dann richtet der Wissenschaftler den Magneten auf meinen visuellen Kortex. Zapp. Vor meinen verschlossenen Augen blitzt etwas Sichelförmiges auf. Dann eine konvexe Linse. Dann eine Scheibe. Die Vision ist kurz und sehr diffus, aber sie genügt dem Hirnforscher. Er notiert meine Beschreibung auf einen Zettel. Mal sehen, welche Bilder das TMS beim nächsten Mal erzeugt, sagt Schwartzman und entlässt mich ins Synästhesie-Training.

Ein gelbes Y

Ein grünes G, ein hellblaues I, ein orangefarbenes O. Wochenlang sitze ich mindestens eine Stunde am Tag vor meinem Tablet und übe. Farben und Buchstaben füllen das Display. Ich merke mir Buchstabenfolgen, die immer länger werden, wenn ich sie richtig wiedergebe. Ich tippe auf Felder in einer Farbpalette, die immer schneller verschwinden, wenn ich richtig liege. Ein rosafarbenes P, ein lilafarbenes Q, ein rotes R.

Ich und Farben. Meine Fähigkeit, Farbnuancen voneinander zu unterscheiden, ist miserabel, mein Kleidungsstil bestätigt das. Bis heute irritiere ich Freunde und Verwandte, wenn ich in beißenden Tönen aufkreuze, oftmals unangemessen, immer quietschbunt. So bunt wie die Wörter, die ich bald in Büchern, Zeitschriften und auf Websites lesen möchte. Schillernd sollen sie sich durch meine Lektüre ziehen und eine farbenfrohe Welt der Sprache eröffnen. So stelle ich mir das jedenfalls vor. Ein graues U, ein weißes W, ein schwarzes X.

Voller Ehrgeiz lerne ich Farben und Buchstaben, präge mir alles ein, wiederhole, wiederhole, wiederhole. Manche Farben passen gut zu ihren Buchstaben, findet mein Gehirn. Andere Paarungen wollen sich die grauen Zellen auf Teufel komm raus nicht merken. Doch so viel ich auch übe: So spektakulär wie erhofft will sich die Synästhesie nicht entfalten. Ich begegne ihr allerhöchstens während meiner Übungen und unmittelbar danach, nie im Alltag. Einmal entzückt mich ein Y, als ich eine Email schreibe. Es taucht einfach so mitten in einem Absatz auf, und zwar viel gelber als es sein sollte.

Doch wie viel hat das, was mit mir passiert, mit Synästhesie zu tun? Arbeitet mein Gehirn bereits synästhetisch und aktiviert andere Areale, sobald der visuelle Kortex stimuliert wird? Oder lerne ich die Buchstaben-Farb-Duos auswendig wie Vokabeln?

Hinter der Augenschranke

Ich treffe mich mit Uta. Ich möchte erfahren, was meine gelernte von der vererbten Synästhesie unterscheidet. Die Physikerin ist „eine gewöhnliche Wald- und Wiesen-Synästhetikerin“, wie sie sagt. „Wenn ich einen Text vor mir habe, dann ist der auch zunächst schwarz auf weiß“, erklärt Uta. „Erst hinter der Augenschranke wird’s bunt.“ Buchstaben haben eindeutige Farben, die bei längeren Wörtern zu Farbbändern verschwimmen. Als ob man mit einem Pinsel quer über die feuchten Farben wischt, sagt sie. „Hätte ich mir das jedoch bewusst ausgesucht, hätte ich kontrastreichere Farben gewählt.“

Meine Trainingseinheiten werden länger. Woche für Woche graben sich die Farben tiefer ins Unterbewusstsein. Immer häufiger quetschen sich dicke Farbblöcke in meine Gedankenkreisel, direkt zwischen Erinnerungen und To-do-Listen. Die Synästhesie scheint gegenwärtig – aber ich lese keine bunten Buchstaben. Ich denke an die Farben, die ich gelernt habe. Doch ich sehe sie nicht.

Vor mir ein Aufsatz aus kryptischen Farbenfolgen. Manche erkenne ich auf Anhieb. Andere bringen mich zur Verzweiflung. Pink, hellgrün, orange, pink, dazwischen ein L, hellgrün, weiß, hellblau, ein T, ein H, rot, hellgrün, ein A, braun, hellblau, ein N, grün, pink, rot, orange, blau, noch ein L, hellgrün, ein M, ein S.

P-e-o-p-l-e-w-i-t-h-r-e-a-d-i-n-g-p-r-o-b-l-e-m-s? Solche Leute sind mir inzwischen vertraut.

Superhirn braucht Disziplin

Zurück in Sussex. David Schwartzman kommt mir mit zwei Bechern Kaffee entgegen, gewohnt lächelnd und bärtig, und fragt, wie es mit dem Training gelaufen sei. Ich verrate ihm nicht, dass ich bei den letzten drei Leseübungen geschummelt habe. Ich habe die Texte – Zeitschriften- und Fachartikel – anhand von Titel und Autor gegoogelt und im Buchstabenoriginal gelesen. Die grauen Zellen wollten nicht länger knobeln. Ein Superhirn verlangt wohl mehr Disziplin.

Doch im Labor spüre ich ein paar Veränderungen. Während des EEG nimmt das Schachbrett auf dem Monitor wesentlich schärfere Konturen an. Über den springenden Feldern spannt sich ein blau-grünes Netz und schwimmt durch mein Sichtfeld. Der visuelle Kortex macht Faxen. Das bestätigt auch die verkabelte Badekappe. Bei der Messung meiner Hirnströme schlägt die Amplitude deutlich höher aus als beim ersten Test. Auch das TMS sorgt für intensiveres Kopfkino. Die Magnetimpulse malen viel hellere Lichtblitze auf meine geschlossenen Lider. Ich nehme stärkere Kontraste wahr, Linien, Bögen.

Ist doch etwas in meinen Hirn passiert?

Es ist. Der finale „Stroop-Test“ zeigt es. Ich soll die Farben einer Reihe bunter Buchstaben in ein Mikrofon sprechen. Wie albern, denke ich und lächle. Schwartzman lächelt zurück, das Ergebnis ahnend. Ein rotes A. Ein blaues B. Ein gelbes C. Kein Problem, natürlich. Doch dann blockiert mein Hirn: Das E müsste doch hellgrün sein, so hellgrün wie immer! Aber es ist rosa, so rosa wie ein P. Mein Kopf fühlt sich an, als würden sich gerade Neuronen verknoten. Bis ich mich überwinden kann, die vorgegebene Farbe anzusagen, verstreichen Sekunden.

Hirn manipuliert

Ein Highfive von David Schwartzman, willkommen im Club der Synästhetiker. Jedenfalls nach der Definition der Sussex-Forscher. Richtig, ich ordne Buchstaben Farben zu. Ja, sie sind fest und unverwechselbar mit den Symbolen verknüpft, Abweichungen (wie das pinke E) lösen einen Konflikt aus. Darüber hinaus ist bei Magnetstimulation meine Reizschwelle für die Farbwahrnehmung gesunken – um 16 Prozent.

Die Kriterien sind erfüllt: Mein Hirn wurde mit relativ einfachen Mitteln manipuliert.

Für die Wissenschaftler an der University of Sussex ist die Synästhesie ein überschaubarer Schauplatz auf dem so schwer zu erschließenden Gebiet der Hirnforschung. Man kann sie messen, man kann experimentelle Bedingungen variieren – und man kann sie offenbar hervorrufen. Über diesen Weg wollen die Wissenschaftler mehr darüber erfahren, wie unser Gehirn auf äußere Reize reagiert, wie es sich anpasst. Gezeigt hat sich, dass sich Wahrnehmung durch simples Training verändern kann. David Schwartzman und seine Kollegen hoffen nun, mit ihren Erkenntnissen zur Behandlung von Krankheiten wie ADHS oder Demenz beizutragen.

Ich habe mir das allerdings anders vorgestellt. Bunter, weniger banal. Ich wollte Farben in meine Umgebung projiziert erleben. Wie fast die Hälfte der Sussex-Probanden es behauptet. Doch die Bilder sind nur in meinem Kopf. Meine Qs sind von nun an eben lila. Schließlich habe ich mir jeden Tag lila Qs angesehen. Habe Termine abgesagt, um trainieren zu können, bin nicht ans Telefon gegangen, weil gerade das Programm lief. Lila Qs sind doch ganz normal, sage ich. „Eine angeborene Synästhesie ist das doch auch: ganz normal“, antwortet Schwartzman.

bouba und kiki

Synästhesie ist deshalb ein so mysteriöses Phänomen, weil sie sich individuell entwickelt. Sie kann wissenschaftlich nachgewiesen werden, doch wie und wie intensiv sie wahrgenommen wird, das variiert von Person zu Person. Und es bleibt immer die Frage: Ist das eine genuine, eine echte Synästhesie? Vor kurzem zum Beispiel fiel einer Kollegin auf, dass ihre Zahlen männlich oder weiblich sind. Und mir selbst, dass meine Wochentage Farben haben. Schuld ist das Layout einer Fernsehzeitung aus den 1990er Jahren. Als echte Synästhetiker würden wir uns beide nicht bezeichnen.

Beat Meier von der Universität in Bern sagt, dass es einen kontinuierlichen Übergang zwischen tatsächlicher Synästhesie und einer einstudierten Assoziation von Buchstaben und Farben gibt. Und man kann diesen Gedanken noch weiter spinnen: Warum „sprechen“ Metaphern zu uns allen, über Kontinente und Kulturen hinweg? Fast jeder findet, dass das Kunstwort „kiki“ irgendwie stachelig klingt, während „bouba“ eher kurvige Formen annimmt. Fast jeder unterscheidet Vokale in eher helle und eher dunkle Laute, vielleicht sogar in verschieden farbige. Und für fast jeden schmeckt Süßes rund, Saures spitz. Vielleicht liegt es ja daran, dass auch bei uns „Normalen“ die Sinne nicht völlig unabhängig voneinander funktionieren. Dass sie zusammen spielen. Dass wir eben alle Synästhetiker sind, ein kleines bisschen zumindest.

Text und Bild: Philipp Brandstädter

Quellen

Harrison, John (2001): Wenn Farben Töne haben. Eintrag zu Baudelaire auf S. 112/113, zu Kandinsky auf S. 120.

Interview mit Lady Gaga

Julia Simner (2013)

Bor et al. (2014)

Witthoft (2015)

Spector/Maurer (2009)

http://wortwuchs.net/stilmittel/synaesthesie

Rothen/Meier (2014)

Ramachandran/Hubbard (2001)

Für den Ernstfall

Für den Ernstfall

erschienen in der GEO 08/2019

Hamburger Hafengeburtstag, Hunderttausende Besucher. Und einer steht dumm rum. Oder sagen wir: logistisch unvorteilhaft. Auf der Fußgängerbrücke, die von der U-Bahn zu den St. Pauli-Landungsbrücken führt, ist im schlendernden Strom der Menschenmenge ein Mann mit beachtlicher Leibesfülle abrupt stehen geblieben. Er kramt sein Smartphone aus der Gürteltasche hervor, um den Pegelturm des Hafens zu filmen. Menschen werden langsamer, Menschen weichen aus, Menschen bleiben stehen. Menschen rempeln, einer aus Versehen, ein anderer mehr so absichtlich.

Ein zweistöckiger Baustellencontainer, einhundert Meter die Promenade hinunter. Eingepfercht zwischen Regalen, Aktenordnern, Computern und Mateflaschen, verfolgt eine Gruppe von Wissenschaftlern das Geschehen auf einem Monitor: Wo sich hinter dem Herrn auf der Brücke immer mehr Fußgänger stauen, überlagert eine farbige Wolke das Bild. Anfangs noch grün, dann gelb, jetzt tiefrot. Ähnlich einer Wetterkarte zeigt die „Heatmap“, dass sich da etwas zusammenbraut. Nämlich eine sehr dichte Menschenmenge.

Wäre dies der richtige Moment, um Sicherheitskräfte loszuschicken?

Spätestens seit der Loveparade in Duisburg kreisen diese Bilder im Kopf: zu viele Menschen auf zu wenig Raum. Sie verlieren den Halt, stürzen, oder werden hilflos gegen Wände und Zäune gedrückt. In Duisburg starben 21 Musikfans. Beim Hadsch in Mekka 2015 über 1800 Pilger. Und in Turin wurden 2017 bei einem Public Viewing 1500 Fußballfans verletzt, aufgeschreckt durch Feuerwerkskörper. Denn auch die Angst vor Anschlägen ist gewachsen. Bataclan. Nizza. Breitscheidplatz.

Wie verhalten wir uns?

Die Sicherheitskonzepte für Großveranstaltungen werden deshalb immer ausgefeilter. Dabei hilft es zu wissen: Wie verhält sich der Mensch in der Masse? Wann wird Gedränge gefährlich? Und wann entsteht Panik?

Fragen, die bisher erstaunlich schwer zu beantworten waren.

Feldexperimente zur Simulation von Gedränge: kaum möglich, weil hochgradig unethisch. Niemand darf im Dienste der Forschung Probanden gezielt in Panik versetzen. Wie sich Menschen in der Masse bewegen, in der Wissenschaft auch englisch „Crowd“ genannt, haben Katastrophenforscher bisher vor allem von kleineren auf größere Gruppen hochgerechnet; wie sie sich in Notsituationen verhalten, von historischen Tragödien abgeleitet. Der Großbrand im Beverly Hills Club. Das Flugzeugunglück in Ramstein. Die Tragödie im Fußballstadion von Hillsborough. Die Loveparade. Augenzeugenberichte sind dabei jedoch aufgrund ihrer oft verzerrten Wahrnehmung skeptisch zu betrachten. Sachlichere Analysen erlauben in jüngerer Zeit die vielen privaten Handyaufnahmen und der Einsatz von Überwachungskameras. Allerdings lässt sich selbst daraus nicht ablesen, wie viele Menschen sich gerade auf einem Quadratmeter drängen. Die Kameraperspektive trügt.

Doch neuerdings entwickelt sich die zivile Sicherheitsforschung zu einer eigenen, fachübergreifenden Disziplin. Auch im Hamburger Baucontainer sitzen Informatiker, Mathematiker, Psychologen, Sicherheitsberater und Juristen zusammen. Im Rahmen des deutsch-französischen Forschungsprojektes S2ucre entwickeln sie neue Sicherheitstechnologien für Großevents in „unübersichtlichen Umgebungen“. Dort also, wo das Gelände weitläufig ist, der Zugang nicht kontrollierbar: Marathons, Fanmeilen, Volksfeste. Der Hafengeburtstag ist dafür das perfekte Forschungsobjekt. Und die Fußgängerbrücke im Besonderen.

Die Crowd im Blick

„Hier kommt es immer wieder zu Gedränge, aber zum Glück passiert nichts Schlimmes“, erklärt Sascha Voth, den Blick auf die rote Wolke der Heatmap geheftet. Der Informatiker vom Fraunhofer Institut in Frankfurt braucht „eine gewisse Menschendichte“, um den Algorithmus der Heatmap zu trainieren: die erste videobasierte Technik, mit der sich die genaue Personenzahl pro Quadratmeter ermitteln lässt. Und zwar live.

Dazu haben Voth und seine Kollegen im Vorfeld das Gelände mithilfe von Drohnen kartiert, ein 3D-Modell erstellt und Videokameras installiert. Jetzt rechnet eine künstliche Intelligenz den Einfluss der Kameraperspektiven heraus und stellt die Menschendichte auf dem Videobild farblich dar. Auch auffällige Veränderungen im Bewegungsfluss der Fußgänger markiert sie.

So soll ein „Crowd-Manager“ zukünftig auf einen Blick sehen: Wo ist die Menge besonders dicht? Fließt oder stockt sie? Strömt sie schnell zusammen oder auseinander, weil etwas Ungewöhnliches passiert ist?

Gegebenenfalls kann er mithilfe der ferngesteuerten Kameras genauer hinschauen. „Ob eingegriffen werden soll, entscheidet immer noch der Mensch“, betont Voth.

Die Kameras liefern so hochauflösende Bilder, dass selbst XY zu erkennen ist. Aber kein Gesicht, dafür sind die Blickwinkel zu steil. „Gesichtserkennung ist bei uns ganz bewusst nicht gewünscht“, so Voth. „Wir wollen wirklich nur die Informationen nutzen, die wir für die Dichtemessung brauchen.“ Privacy by Design nennen das die Forscher. Und damit ihr Design auch mit der neuen Datenschutzgrundverordnung vereinbar ist, sitzen Juristen von der Goethe Universität in Frankfurt mit im Container.

Noch komplizierter dürfte der Datenschutz auf französischer Projektseite sein: Dort entwickeln Forscher in Zusammenarbeit mit der Pariser Polizeibehörde videogestützte Systeme, die verdächtige Aktivitäten und aggressives Verhalten melden sollen – und polizeilich bekannte Straftäter im Blick behalten.

Neben Voth bereiten Informatiker und Mathematiker von der Hochschule München schon den nächsten technischen Schritt vor: Beim kommenden Hafengeburtstag soll die Heatmap in eine Simulation übergehen, ähnlich wie der Wetterbericht in eine Vorhersage: Wie wird sich die Crowd auf der Brücke in den nächsten Minuten verhalten?

Dann könnten Ordnungskräfte schon eingreifen, bevor das Gedränge überhaupt eskaliert.

Beim aktuellen Stau gibt die Heatmap bereits Entwarnung. Der Mann, der den Fußgängerfluss aufgehalten hat, geht weiter. Die Wolke über dem Videobild wechselt von rot zu grün.

Was wäre wenn?

Massive Betonpoller rahmen den Hamburger Hafen ein, damit kein Lastwagen die Straßensperren durchbricht. Die Polizei zeigt Präsenz auf der Fußgängermeile. Ordner stellen sicher, dass die Notausgänge und Feuerwehrzufahrten frei bleiben. Und an allen Pontons, dass nicht zu viele Menschen ans Wasser drängen.

Florian Sesser erkundet das Gelände. Der 34-jährige Gründer von accu:rate, einem Münchener Start-up für Crowd-Simulation, hat das Programm entwickelt, mit dem die Heatmap verknüpft werden soll.

Zur Planung von Großveranstaltungen wie dem Oktoberfest oder der Hanse Sail ist es bereits im Einsatz: Auf der Basis virtueller Geländepläne simuliert es Besucherströme. Wie verteilen sie sich, wohin bewegen sie sich im Fluchtfall? So lässt sich durchspielen, wie ein Publikum schnellstmöglich evakuiert werden kann. Wie breit die Fluchtwege sein müssen. Wo man Notausgänge freihalten muss.

„Bisher können wir so etwas nur im Vorfeld einer Veranstaltung durchspielen, nicht während sie stattfindet“, so Sesser. Dazu braucht er die ständig aktualsierte Besucherdichte. Und viel Rechenkapazität.

Simulationsprogramme werden im Katastrophenschutz immer mehr an Bedeutung gewinnen. Konnten Einsatzkräfte bisher Übungen nur nach einem vorher festgelegtem Script durchführen, spielen Forscher die Auswirkungen von Anschlägen, Bränden, Naturkatastrophen und Seuchen auf Metropolen neuerdings auch am Großrechner durch. Dabei fließen nicht nur die lokalen Gegebenheiten mit ein, der Pixelbevölkerung sind auch unterschiedliche Verhaltensweisen einprogammiert: Manche Gruppen verlassen so schnell wie möglich das Gebiet, andere suchen Verstecke oder Krankenhäuser auf.

Auch Florian Sesser kann einige Eingeschaften seiner virtuellen Probanden verändern: Größe und Alter etwa, das beeinflusst die Gehgeschwindigkeit. Oder der Anteil von Familien. Wenn etwa an einem Sonntagnachmittag viele Eltern mit Kindern unterwegs sind, kann sich die „Entfluchtungsdauer“ verdoppeln.

„Aber vieles geht bei solchen Berechnungen noch im Gesetz der großen Zahlen unter“, sagt Sesser. „Dass jemand kopflos in die falsche Richtung läuft, kommt bei uns nicht vor.“

Zukünftig sollen jedoch auch psychologische Faktoren mit in die Simulation einfließen.

Die Macht der Masse

Gesine Hofinger, Gründerin des Team HF, Human Factors, steht auf dem Forschungscontainer und beobachtet Leute. Niemand scheint sich im Gedränge unwohl zu fühlen, niemand hat es eilig. Die Besucher schlendern, ändern ihre Richtung, bleiben stehen, kramen in ihren Taschen, werden zu Hindernissen. Sie lassen sich treiben und lassen sich locken. Von angenehmen Gerüchen und bunten Lichtern.

Hofinger analysiert ihre Bewegungen. Sie weiß, welche Bühnen und Buden die größten Besuchermagnete sind und wie man mit dem Ansturm auf sie umgeht. Etwa, dass man die zurzeit so beliebten Handbrot-Stände besser um neunzig Grad versetzt aufbauen sollte, damit die Warteschlangen davor nicht stören. Ein besonderes Augenmerk hat sie auf Gruppen. Deren Bewegungen zu verstehen, könnte die Simulation von Menschenströmen wesentlich verbessern.

„Gruppen bleiben zusammen“, so die Psychologin. „Sie suchen gemeinsam Schutz oder fliehen gemeinsam. Auch wenn das im Ernstfall wertvolle Zeit kostet.“

Aber wer gehört zusammen? Eltern mit ihren Kindern, Junggesellentruppen im Partnerlook lassen sich leicht erkennen. Andere Gruppen nur an ihren Bewegungsmustern im Gedränge. Drei oder vier Personen bilden eine Art V-Form, noch mehr eine Raute. Sie schaffen eine Art Keil nach vorn. Als strömungsoptimierter Wellenbrecher, sozusagen.

Um möglichst reibungslos aneinander vorbei kommen, organisieren sich Menschen verblüffend gut selbst: Bei Gegenverkehr halten sie sich rechts, beim Durchqueren von stehendem Publikum bilden sie Ketten, gegen den Strom laufen sie diagonal.

Aber ab einer gewissen Dichte berühren sich die Menschen, selbst wenn niemand drängelt. Dann übertragt sich Kraft von einem Körper zum nächsten, und viele kleine Bewegungen addieren sich zu einer mächtigen Kraft.

„Ab sechs Menschen auf einem Quadratmeter wird es kritisch“, weiß Gesine Hofinger aus Videoanalysen der Loveparade. Das bedeutet: Atemnot, Quetschungen, Rippenbrüche.

Nicht für jeden, denn die Menge als solche wogt in Wellen hin und her und kann so die enormen Kräfte halbwegs verteilen. Bis die Wellen auf Hindernisse stoßen, ein Nadelöhr wie der Tunnel auf der Loveparade. Doch auch mitten in der Menge kann es zu plötzlichen Turbulenzen kommen, zu „Crowdquakes“, wie der Physiker Dirk Helbing, einer führenden Erforscher von Crowd-Dynamiken, anhand der Love Parade nachgewiesen hat. Solche „Menschenmassen-Beben“ erhöhen den Druck schlagartig.

Aus Forschersicht ist das Unglück von Duisburg daher ein trauriges Beispiel für Crowd-Physik – und nicht für eine Massenpanik, wie die Veranstalter zunächst behauptet hatten.

Massenpanik ist ein Mythos

Den Begriff Massenpanik benutzen Wissenschaftler nur ungern. Die Menschenmenge, die sich, wie von einem Virus der Hysterie infiziert, in eine rücksichtslose rasende Herde verwandelt, tritt eher im Kino auf als im echten Leben. „Menschen sind weder irre noch irrational“, so Gesine Hofinger.„Es wäre evolutionstechnisch auch unsinnig, wenn wir uns bei der nächsten Gefahr über den Haufen rennen.“ Kooperation in Notlagen erhöhe die Überlebenschancen für alle.

Augenzeugenberichte, Befragungen und Videoanalysen aus jahrzehntelanger Katastrophenforschung belegen: Wir suchen und wir helfen uns.

Auch andere Muster wiederholen sich. Ältere Menschen schätzen Notfälle durch ihre Erfahrung besser ein als junge. Frauen reagieren tendenziell ängstlicher, rufen nach Hilfe, warnen andere. Männer geben sich eher gelassen und meinen, die Situation im Alleingang zu bewältigen. Weniger Gebildete folgen den Anweisungen von Einsatzkräften eher als Akademiker.

Und ganz allgemein gilt: Im Ernstfall reagieren viele Menschen zu langsam.

Etwa am 11. September 2001. Nachdem das erste Flugzeug in das World Trade Center gerast war, warteten viele im Gebäude zunächst ab, was ihre Kollegen tun würden, sie telefonierten, beendeten Emails, gingen noch zur Toilette, zogen sich um. Im Schnitt vergingen sechs kostbare Minuten, bevor sie sich auf den Fluchtweg machten.

Der Brite John Leach, Autor des Buches Überlebenspsychologie, hat festgestellt, dass bis zu 75 Prozent aller Menschen in einer lebensbedrohlichen Situation keinen klaren Fluchtgedanken fassen können: Deshalb retten sie sich nicht aus brennenden Häusern oder von sinkenden Schiffen. Sie denken nicht daran, den Notruf zu wählen, sie übersehen Fluchtwege.

Denn Extremsituationen sind so selten, dass wir dafür keine erprobten Handlungssmuster haben. Also verlängert sich die Reaktionszeit. Hinzu kommt die Angst. Zunächst schärft sie die Sinne, dann aber droht sie uns zu überwältigen: Körper und Geist sind wie gelähmt, Informationen können nicht mehr verarbeitet werden.

Deshalb ist es wichtig, sich schon vorher zu überlegen, was im Ernstfall zu tun ist. Im Flugzeug die Sicherheitshinweise beachten, in fremden Gebäuden oder bei Veranstaltungen die Notausgänge registrieren. Überlebende seien nicht mutiger, beobachtet Leach, sondern einfach besser vorbereitet. (Wir könnten zur Geschichte einen kurzen Info-Kasten mit Sicherheitstipps stellen)

Wissen, wo’s lang geht

Der Hafen wirkt bereits wenig herunter gelatscht. Die Leute haben ihren Müll fallen lassen und sind über die rotweißen Absperrbanderolen getrampelt. Ein paar junge Männer sitzen sichtlich angeknockt neben ihren Schnapsfläschchen auf dem Boden. Der Junggesellenabschied war lang. „Leider geben viele am Eingang ihre Eigenverantwortung ab“, bedauert Gesine Hofinger.

Die vielen Sicherheitsinformationen beim Hafengeburtstag nehmen sie nicht wahr. Die Wegmarkierungen, die Info-Säulen mit Lageplänen und Fluchtwegen. Eine Besucherbefragung von Team HR und Florian Sesser zeigt: Familien sind am besten informiert, sie haben das größte Risikobewusstsein.

„Die meisten anderen machen sich wenig Gedanken über ihre Sicherheit“, sagt Sesser. „Wer Angst hat, kommt vermutlich gar nicht erst.“ Erstaunt habe ihn allerdings, wie vielen seiner Gesprächspartner schon einmal in extremem Gedränge mulmig geworden ist.

Mehr als jedem zweiten.

Text und Bild: Philipp Brandstädter

Quellen:

Dietrich Ungerer, Ulf Morgenroth: Zivilschutzforschung. Analyse des menschlichen Fehlverhaltens in Gefahrensituationen, Bd. 43, 2001. S. 14 ff

Katja Schulze, „Situationsbezogene Helferkonzepte zur verbesserten Krisenbewältigung“, FU Berlin 2017, S. 13 ff.

Fraunhofer Institut

BMVI

Dirk Helbing: „The Walking Behaviour of Pedestrian Social Groups and Its Impact on Crowd Dynamics“, Plos One 2010

VFDB

Annika Frische, BBK: „Panik in großen Menschenmengen“. Bevölkerungsschutz, 2010.

Stiftung Risiko-Dialog: „Das Verhalten der Bevölkerung in Katastrophen und Notlagen“, St. Gallen 2014. S. 19 ff.