von Philipp | 21 Mrz 2022 | Geschichten
erschienen in der taz am 2. März 2013
Das Fleisch der Zukunft stammt nicht von Säugetieren. Heuschrecken und Kakerlaken sind die Delikatessen von morgen. Ein Selbstversuch.
Weil es die richtige Entscheidung ist, deshalb. Weil Insekten Nutztiere sein sollten. Das ist nur wirtschaftlich. Verfüttere zwei Kilo Salat an Insekten und du gewinnst ein halbes Kilo hochwertiges Protein. Stecke dieselbe Menge in ein Rind, ein Schwein, ein Schaf, egal: Keine zwei Happen Speck landen auf den Hüften unserer herkömmlichen Fleischlieferanten. Der Rest entweicht, Methan und Mist.
Insekten sind die bessere Nahrung. Sie sind leicht zu züchten, sie haben keine Lobby und kein zentrales Nervensystem, das Schmerz empfinden könnte. Kein Schwein interessiert es, ob sie gegessen werden, nicht einmal die Insekten selbst stören sich daran.
Auf allen Kontinenten werden über tausend Krabbelarten verspeist. Die Asiaten essen Ameisen und Skorpione, die Afrikaner Heuschrecken und Termiten, die Australier mögen Raupen und Motten, in Südamerika kommen Maden und Spinnen auf den Tisch. Auch hierzulande löffelte man vor hundert Jahren noch Gelbrandkäferbouillon und im Zweiten Weltkrieg die Maikäfer.
Heutzutage ziehen es die Europäer jedoch vor, alles zu erschlagen und zu zerlatschen, was unter die Schuhsohle passt. Denn Insekten sind irgendwie unheimlich, schmutzig, eklig, und dementsprechend rümpfe ich die Nase, als mich aus einer Plastikbox ein gutes Dutzend Facettenaugen anstarrt.
Rosarote Heuschrecken
Die Box habe ich aus der Zoohandlung. Ich musste Schlange stehen. Nicht etwa, weil die Leute auf den Geschmack gekommen sind, sondern weil die ganzen Haus-Leguane und Zimmer-Chamäleons gerade mit einem gesunden Appetit aus dem Winterschlummer erwachen. Mein Insektendealer schmunzelte, als ich meinen Wunsch vortrug, die anderen Kunden musterten mich – skeptisch bis angewidert.
An den Heimchen ist nix dran, sagt der Dealer, da brauchste schon was Größeres, verschwindet im Keller und kommt mit elf ausgewachsenen Heuschrecken wieder. Und vier riesigen, schwarz schillernden Fauchschaben. Handtellergroße, griesgrämige Monster, direkt aus der Hölle. Sie zetern und keifen. Sie flitzen mit ihren unzähligen Kakerlakenbeinchen die Plastikwand entlang, das Dunkel suchend und die Schrecken verschreckend, die wiederum losspringen, gegen den Deckel deppern und wieder auf der nächsten Schabe landen.
Eine Kettenreaktion des Horrors. Ich hab’s ja nur gut gemeint, sagt der Dealer, macht 4,50 Euro, ich bedanke mich herzlich, er wünscht guten Appetit, die Kunden gucken verwirrt und mein Einkauf rastet aus. Die Schaben scharren, die Schrecken springen. Es fühlt sich so an, als ob in der Tasche ein Handy vibriert.
Vielleicht sind es gerade diese schnellen, unkontrollierten Bewegungen auf diesen vielen Beinchen, die den Ekel aufkommen lassen. Ich weiß, dass das Getier aus der Box nicht schmutzig, quasi steril ist. Nie haben mich Insekten traumatisiert. Keine Kakerlaken in der Küche. Woher also die Abneigung?
Weshalb der Ekel?
Die Schrecken klettern auf den Schaben herum und ich denke an Tod, Verwesung, Alieninvasion. An das Eier legende, wimmelnde und alles vernichtende Kollektiv, das den Planeten beherrscht – zumindest zahlenmäßig und durch äonenalte Tradition. Ab ins Eisfach mit der Box. Schockfrost erscheint mir die humanste Methode zu sein, besser als lebend braten oder Drauftreten. Der Mord macht mir wenig aus.
Doch Mitleid bemächtigt sich meiner, als ich das Geziefer am nächsten Tag in Händen halte, starr und von weißem Reif umhüllt. Einige liegen mit eingezogenen Gliedern da, manche hängen am Deckelrand, ein letzter Versuch, dem Kältetod zu entrinnen. Meine Schuld. Ich sammle die steifen Körper aus ihrem Sarg und beginne zunächst, die Beine mit den Widerhaken zu entfernen. Die sollen zwar schön knusprig sein, sind beim Verzehr aber schon in der einen oder anderen Speiseröhre hängen geblieben.
Bei der Zubereitung meiner Delikatesse arbeite ich hastig und lieblos. Wer weiß, wie schnell die Dinger wieder aufwachen. Doch die Massenamputation geht schwer vonstatten, die Beine wollen sich nicht vom Körper lösen, reiße ich zu stark, fliegt das Vieh in Fetzen. Bei den Heuschrecken zupfe ich auch die Flügel vom Rumpf, einmal löst sich der Kopf mit ab. Eine tiefschwarze Flüssigkeit rinnt harzig aus der Schlundwunde und verklebt das Küchenbrett. Was immer das sein mag: Schön ist es nicht. Mir wird übel.
In Sachen Ästhetik lassen Körperflüssigkeiten generell zu wünschen übrig, denke ich mir, von Freudentränen abgesehen. Doch weshalb der Ekel? Mich müssten ganz andere Leckereien anwidern: Verschimmelte, geronnene Ziegenmilch, roher Fisch und dessen Rogen, Weinbergschnecken. Aber das wird von den Gourmets hoch geschätzt. Auch Wurst und Hack und Hühnereier widern uns nicht an, obwohl jeder die Bilder aus der Massentierhaltung kennt.
Keine Frage der Vernunft
Ekel ist eben keine Frage der Vernunft und nur selten des Instinkts. Ekel entstammt der Erziehung, der Sozialisation. Sie macht den feinen Unterschied zwischen dem von Serranoschinken umwickelten Stück Honigmelone und dem wurmstichigen Fallobst. Was ist der Unterschied zwischen einer Heuschrecke und einer Garnele? Augen, Fühler, Beine, Panzer, alles dran. Und tatsächlich: Im siedenden Öl nehmen die Hüpfer eine goldbraune bis rötliche Farbe an, ähnlich wie Shrimps. Schlecht ist mir trotzdem.
Ich meditiere kluge Argumente vor mich hin: Schluss mit dem Überfluss, der Verschwendung, der Planetenplünderung. Iss Insekten! Die Haltung im Stapelkasten schont den Geldbeutel, die CO2-arme Fleischproduktion das Klima. Sogar die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft wirbt für die Nahrung der Zukunft. Außerdem können wir uns bald kein anderes Fleisch mehr leisten. Die Weltlandwirtschaft kann die Viehzucht nicht mehr tragen, gewöhnen wir uns an die Alternativen.
Also spieße ich eine Schrecke auf und kaue darauf herum. Der Geschmack: langweilig. Im Inneren des knusprigen Panzers ist nichts los, es schmeckt nach Erdnussflips, nicht schlecht, aber auch nicht spektakulär. Ich paniere die Insekten in einer Marinade aus Tahini, Honig, Senf und etwas Mehl. Dann brate ich sie mit Knoblauch und Chili scharf an. Wesentlich besser. Aber paniert und frittiert schmeckt alles. Auf diese Weise könnte ich Scheuerlappen zubereiten. Oder meinen linken Fuß.
Modrige Kakerlaken
Nun sind die Kakerlaken dran. Ich beeile mich, die Pfanne anzufeuern. Nussöl erhitzen und rasch die Fauchschaben dazu. Die machen ihrem Namen noch einmal alle Ehre. Als das Öl zwischen den Chitinplatten ins Schabenfleisch dringt, knistert, quietscht und zischt es gewaltig in der Hexenküche. Ich schwenke die Biester minutenlang im Fett, auf dass sie endlich den Rand halten und meditiere: Ernähre dich bewusst, iss gute Insektenproteine, Vitamine und lecker Mineralien. Alljährlich essen wir ein halbes Kilo Insekten, die sich in Obstschalen, im Getreide, in der Marmelade und im TK-Gemüse verstecken, da kommt es darauf jetzt auch nicht mehr an.
Ich halbiere eine Schabe. Am Panzer klebt ein bisschen Fleisch, weiß und faserig, ähnlich wie Geflügel. Sonst ist da nichts, was in dem daumengroßen Hinterleib gourmetverdächtig wirkt. Alles Innereien. Röhren, Ganglien, Drüsen, Därme, ich will nicht wissen, was genau. Ich klammere mich an mein Mantra: Insekten essen gegen den Welthunger, gegen die Waldrodung, gegen das Leerfischen der Meere! Sicher ist es ohnehin längst gängige Praxis, euch zu zermüllern und als Billighack, als Wurst, als Mikrowellengerichte zu verkaufen.
Und was mich angeht: Nur noch den Ekel überwinden, zubeißen und …
So gesund, p. c., öko und pferdefrei es auch sein mag, die Kakerlake schmeckt so, wie sie anmutet. Modrig. Irgendwie nach Keller. Scheiße. Nichts für mich, ihr Alienviecher aus der Hölle. Ich übe mich künftig in Askese.
Text und Bild: Philipp Brandstädter
von Philipp | 20 Mrz 2022 | Geschichten
erschienen am 14. Dezember 2019 im literarischen Adventskalender „24 Stories“
Unsachgemäße Müllentsorgung, Erregung öffentlichen Ärgernisses durch Pinkeln im Park, unterlassene Hilfeleistung durch Feigheit, Hausfriedensbruch und Ruhestörung durch Tanzen, Diebstahl durch Filesharing und Zechprellung, Verletzung des Urheberrechts durch Hausarbeitenschreiben, Staatsbetrug durch Schwarzarbeit, Schwarzfahren und Schwarzsehen, Verstoß gegen das BtmG durch Besitz, Konsum und Verkauf, Verstoß gegen das Sprengstoffgesetz sowie versuchte gefährliche Körperverletzung durch Verwendung von Pyrotechnik im Stadion, unendliche Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung durch unendliche Coolness, Sex mit Minderjährigen durch Liebe, wie sich am Morgen danach heraus stellte (also die Minderjährigkeit, nicht die Liebe), Widerstand gegen die Staatsgewalt durch Pflichtbewusstsein, Steuerhinterziehung durch Ahnungslosigkeit, Sachbeschädigung durch Suff und Kummer, Versicherungsbetrug durch Das-macht-doch-jeder-verdammtnochmal.
Umweltverschmutzung durch Anwesenheit.
Noch nie habe ich mich für meine Frechheiten verantworten müssen. Wegen der einen Sachen hier kriegen die Bullen mich jetzt auch nicht mehr dran. Nicht heute. Ist doch Weihnachten. Und erst recht nicht hier. Am metallicblauen Tannenwaldrand, hinter dem sich die verwahrloste Kleinstadt verkriecht, mit ihren maroden Häusern, dem schäbigen Besenwurfputz draußen und dem adventlich leuchtenden Dekoschrott drinnen. Und dem Dorfplatz mit dem trocken gelegten Brunnen und dem mit verschimmelten Schieferplatten bekleckerten Pfarrhaus. Seinem potthässlichen Zaun, dem abgeplatzten Lack auf dem Metall, den mehr oder minder kunstvoll angeschweißten Messingkugeln, die im Vollmond schimmern, darüber die Überleitungen, die unmotiviert an den morschen Holzmasten durchhängen und na, ist ja auch egal.
Da, wo keine Seele Zeuge ist, da treffen sich zwei. So um zwei. Saskia stößt sich von der Leitplanke ab und schlendert über den zerdroschenen Asphalt auf meinen Wagen zu. Und ich so: Na? Wische mir lässig den Airbag aus dem Gesicht. Will aussteigen, aber die Tür klemmt ein bisschen, wodurch sich die gesamte Performance als ausbaufähig erweist. Sonst eigentlich alles in Ordnung. Wer bist’n du? „Der verfickte Weihnachtsengel.“ Und was machst du auf der Leitplanke? „Igel gucken.“ Saskia zeigt auf den platten Brei mit den Stacheln auf der Fahrbahn. „Der sonnt sich nur“, sagt sie. „Ist hier gerade so angesagt“, sagt sie. „Trotzdem habe ich mir das alles ein bisschen anders vorgestellt.“ Der Weihnachtsengel ist enttäuscht.
Sie wollte eigentlich nach Hause, erzählt Saskia und zieht ein bisschen Weihnachtsrotz hoch. Noch das Buch fertig lesen. Noch ihrer Schwester einen Brief schreiben. Noch ihrem Papa sagen, dass sie ihn lieb hat. Obwohl er ihr Facebookposting über die patriotischen Europäer, die uns vor Allah und dessen Halsabschneidereien und Kopflosigkeiten bewahren wollen, mit „Hallo Schatz, schön von dir zu lesen, ganz liebe Grüße!“ kommentiert hat. Das sei das digitale Äquivalent zum Nichtzuhören. „Und dann ist da noch dieses Projekt im Kulturcafé, das lief gerade echt gut. Und dann war ich gestern noch für siebzig Euro beim Friseur. Die hätte ich mir sparen können. Und du so?“
Und ich so: Vor Friseuren und ihren hippen Modeentgleisungen habe ich Panik. Du sagst ihnen wie immer „So wie immer“ und dann siehst du aus wie immer nach dem Friseur, nämlich scheiße. Diesen mit Scheren und Rasiermessern bewaffneten Wahnsinnigen bist du vollkommen ausgeliefert, wenn du nicht vom Fach bist. „Man hat aber auch immer vor den falschen Dingen Angst“, meint der Engel. Hätte ich mal vorher gewusst, dass es kein schiefer Pony sein wird, der mich scheitern lässt.
Sondern George Michael.
Gerade eben war ich noch in der Dorfkneipe. Die glühweinseligen Weihnachtsflüchtlinge nostalgisch auf der Tanzfläche und ich dehydriert auf dem Klo. Stelle wie bekloppt Wasser in mich rein, das schon an meinen Lippen verdampft, bevor es den überhitzten Körper erreicht. Die Wichser haben den beschissenen Hahn so tief ins Waschbecken gehängt, dass bloß keiner auf die Idee kommt, ihr Scheißleitungswasser in einer Bierflasche mitgehen zu lassen. Also setze ich mich ins Auto, bevor ich vor lauter Verzweiflung die Plörre aus dem Spülkasten trinke, erst zur Tanke und dann weiter.
Das lässt man in dem Zustand besser bleiben, sagt ein altes chinesisches Sprichwort, und während ich dem Echo meiner Worte hinterher lausche, trete ich auch schon das Pedal durch und versinke im Fahrersitz. Im Licht der Scheinwerfer schmilzt der Schnee, dahinter nichts als das Nichts der himmlischen Weihnachtsnacht, aus der links und rechts gefrorene Bäume hervorschießen und wieder verschluckt werden. Und als ich so ganz smooth über die Straße cruise wie auf polierten Kufen eine Bobbahn hinab, wimmert urplötzlich Wham durch den Wagen. Ich stürze mich reflexartig auf das Radio, um dem Weihnachtsterror ein Ende zu setzen, und dann.
Ein Mädchen im Lichtkegel.
Ich ihr gleißendes Licht.
Sie meine Motte im Feuer.
Dieser verfickte George Michael, sage ich. Will nicht wissen, wie oft das wegen dem schon passiert ist. Ob es irgendwo eine von Weinkrämpfen geschüttelte Selbsthilfegruppe für Wham-Opfer gibt, die unfreiwillig das „Last Christmas“-Intro mit einem Dutzend Silberlöffelchen in Kaffeetassen nachklimpert? „Ist das die Frage, die dich gerade am meisten beschäftigt?“, fragt Saskia und schnippt mir einen Zahn vom Ärmel. Das Mondlicht klatscht in zähflüssigen Tropfen auf die Straße und spritzt unwirkliche Schatten auf die Tonne Schrott, die um einen Brückenpfeiler gewickelt vor sich hin zischt. Ein Teppich aus Glassplittern auf dem Asphalt. Davor eine Schachtel Fritten in einer Lache Öl oder Blut. Ein paar Schokoriegel und leere Zigarettenschachteln und Bierdosen. Der Geruch von Gummi und Benzin. Mir quetscht es das Herz durch die Rippenbögen. Ich sage, tut mir leid, ich glaube, ich stehe ein bisschen unter Schock. Oder ich träume.
Tut mir leid, sage ich noch einmal, und verschlucke mich dabei. Ich wollte dich da nicht mit reinziehen, wirklich. „Schlechtes Timing“, sagt Saskia. „Darum dreht es sich doch sowieso immer. Was hattest du denn noch vor, wenn ich nicht gewesen wäre?“ Und da bringt der Weihnachtsengel die Was-wäre-wenn-Kiste ins Spiel. Ich hatte überhaupt nichts vor. Ich war immer nur im Planen gut. Entscheidungen habe ich nie gefällt. Optionen abwägen und sich für keine entscheiden ist sozusagen das Steckenpferd unserer Zeit. Vor lauter unbegrenzter Möglichkeit dachte ich mir, ich will einfach das, was alle anderen schon immer haben wollten. Einen gut bezahlten Job, ein gut abbezahltes Haus. Ein Kind, das um Himmels Willen nicht so schnell sprechen lernt. Ein Hund, der immer nur in den Nachbargarten kackt. Warum mich das doch noch gleich glücklich machen sollte – ich habe es komplett vergessen.
„Ich glaube, ich hätte gern noch meine große Liebe kennengelernt“, sagt Saskia. „Auch wenn Liebe für uns keinen Platz hat, weil sie deinen unbegrenzten Möglichkeiten widerspricht. Auch wenn Liebe nur eine Formel für diejenigen ist, die etwas zum Festhalten brauchen. Ein Erklärungsversuch für eine Banalität, die wir anders nicht verstehen oder gerade wegen ihrer Banalität nicht verstehen wollen. Ich glaube, ich wollte einfach noch ein paar Augenblicke glücklich sein“, flüstert Saskia. Noch einmal verreisen. Noch einmal mit Freunden ausgehen.
Noch einmal fühlen.
Ich nehme ihre Hand. Halte sie eine Minute lang fest, die in einer Minute immer noch eine Minute ist. Ich sage nichts. Ich sage nicht, dass sich sowieso nichts so anfühlt wie beim ersten Mal. Die erste Achterbahnfahrt, das erste Mal am Strand, der erste Kuss. Ich sage nicht, dass wir das Glück ohnehin immer genau eine Fingerspitze über der hirnverbrannten Messlatte unserer Erwartungshaltung gesucht hätten. Ich sage nicht, dass es nichts hilft, Erinnerungen zu kopieren. Denn dadurch verwaschen wir sie zu Lügen. Stattdessen frage ich, hast du vielleicht Lust auf einen Kaffee? Ich würde nur fix den Wagen umparken. Will ja kein Knöllchen riskieren. Wir stehen vor unseren Trümmern und beobachten dessen Rauchschwaden, von der Kälte ewigen Schlafs umhüllt.
„Ich weiß nicht“, weiß Saskia nicht. „Immerhin hast du uns beide gerade totgefahren.“
Ach ja, diese eine Sache. Schultern zucken.
„Das heißt, du trinkst deinen Kaffee jetzt schwarz?“
Text und Bild: Philipp Brandstädter
von Philipp | 19 Mrz 2022 | Geschichten
erschienen in der taz vom 29. Juni 2021
Während des Lockdowns wurde unser Autor vom Schrank zu formlosem Brei – weil die Fitnessstudios zu waren. Jetzt ist sein Leben wieder schön.
Meine kostbaren Muskeln. Die über Jahre mühsam ausdefinierten Arme und Beine, der Rücken, mein Hintern, das Waschbrett. Das alles löste sich nicht einfach in Luft auf, nein, es verwandelte sich in formlosen Brei! Es war zum Heulen.
Ob ich mich vielleicht mal nicht so anstellen könne, fragte mein Mitbewohner, der sich am liebsten zu Dingen äußert, von denen er keine Ahnung hat (Anm. der Redaktion: Pfff!). Ob nicht vielleicht ein paar Leute gerade ein paar größere Probleme hätten, gab er zu bedenken. Ob ich nicht vielleicht einfach ein paar Liegestütze machen könne. Natürlich könnte ich.
Machte ich ja auch, ununterbrochen. Neben den Push-ups außerdem Pull-ups, Burpees, Squats und Single Arm Turkish Sit-ups, die Sets mit Seil und Therabändern, mit Nudelholz und Wasserflaschen, die Klimmzüge an der Stange, mit denen ich nach und nach meinen Türrahmen verzog. Doch nichts davon ersetzt eine 150-Kilo-Langhantel.
Ohne die gewohnten Reize bauten sich meine Muskeln ab, verwandelten sich in Fett. Weniger Muskeln verbrennen weniger Kalorien, der Energiebedarf sank, der Hunger blieb, mein „If it jiggles it’s fat“-Shirt begann zu spannen, ich fing an wie ein Schwein auszusehen.
Was zum Fick…?
Social Distancing: kein Thema für mich. Mit meiner Wampe traute ich mich sowieso nicht mehr unter Leute. Freunde schickten mir Bücher über Selbstliebe und Bodypositivity. Die Hardcover über 300 Seiten benutzte ich zum Curlen, den Rest vertickte ich auf Momox.
Und was entschied die Regierung? Öffnung der Friseurläden. Aus Gründen der Würde. Was zum Fick war denn mit meiner Würde als Schrank? Was war mit meinem mentalen Ausgleich, meiner Gesundheit? Ich schnaufte beim Treppensteigen, musste mich beim Schnürsenkelbinden hinsetzen und bekam Rückenschmerzen vom Geschirreinräumen.
Inzwischen sind die Studios endlich wieder offen. Mein Fitti hat es nicht geschafft. Das mit den Einschusslöchern in der Außenfassade, wo Bushido obendrüber sein Tonstudio hatte und sich ab und zu mal im Freihantelbereich blicken ließ. Der Laden ging pleite, weil sich zu viele erdreistet hatten, ihre Verträge einzufrieren und ihre Beiträge zurückzufordern.
Die nächste Fitte ist zum Glück nur ein kurzes Intervalltraining entfernt. Es ist total easy geregelt: Ich muss nur in der Schlange vor der Teststation ein bisschen drängeln, um nicht zu spät an den Geräten zu sein, die ich vorab für einen kurzen Slot online buche, bevor das Studio dann zum Lüften geschlossen wird.
Die Schließfächer sind noch alle verriegelt und die Nasszellen dicht, aber sei’s drum: Endlich wieder bis zum völligen Muskelversagen pumpen und meinen schweren Atem in die Maske grunzen, die sich, vom Schweiß vollgesogen, anfühlt, als hätte mir einer einen feuchten Teebeutel ins Gesicht geworfen. Shut up & squat!
Text und Bild: Philipp Brandstädter
von Philipp | 18 Mrz 2022 | Geschichten
erschienen bei monopol am 18. Februar 2021
Spaziergänge sind eigentlich nur etwas für Notfälle, doch die Corona-Pandemie zwingt uns zum unendlichen Flanieren. Verzweifelt reden wir uns ein, dass es draußen noch etwas zu erleben gibt. Unser Autor meint: Das muss aufhören
Raus vor die Tür? Spazieren? Nur im äußersten Notfall. Allerhöchstens sonn- oder feiertags, wenn zu viel Familie und Freundeskreis mit zu viel Kind herumkrakeelt und allen die Decke auf den Kopf fällt. Ansonsten würde doch keiner freiwillig grundlos das Haus verlassen, weil es da draußen saulangweilig ist. So war das jedenfalls bis vor kurzem noch.
Spazierengehen ist nur dort sinnvoll, wo man nicht ständig wohnt. Im Urlaub zum Beispiel, um zwischen den Sehenswürdigkeiten links und rechts die putzigen kleinen Gassen zu erkunden, die nicht im „Lonely Planet“ stehen. Oder auf Geschäftsreise, um mit einem Informanten im Park geheime Dokumente für den nächsten Auftragsmord auszutauschen. Warum also seinen eigenen Kiez erkunden, in dem man jeden Strauch, jedes ausgeschlachtete Fahrrad, jeden Sticker an der Straßenlaterne kennt. Es gibt hier nichts zu sehen.
Und trotzdem spazieren und flanieren und mäandern sie da draußen, vorbei an den geschlossenen Cafés, den geschlossenen Bars und Restaurants, den geschlossenen Kinos und Geschäften. Ach, schau an, die haben inzwischen die Kühlschränke und Matratzen vom Straßenrand geräumt. Komm, lass uns mal so tun, als würden wir das Schaufenster hier betrachten. Damit uns nicht länger die Gesprächsfetzen der zu laut Schnatternden hinter uns irritieren und sie uns endlich überholen. Und saß dieses niedliche Plüschmonster da eigentlich schon immer auf dem Verkehrsschild? Wow.
Die Decke fällt uns aus alternativloser Pandemie-Alltagsmonotonie auf den Kopf
Der äußerste Notfall ist jetzt der Normalfall. Längst nicht nur sonn- und feiertags. Und schon gar nicht, weil zu viele Menschen im Haus wären, schön wär’s. Die Decke fällt uns aus alternativloser Pandemie-Alltagsmonotonie auf den Kopf. Also gehen wir halt doch vor die Tür und versuchen, uns mal wieder schönzumachen und schönzureden, wie schön es da draußen ist. Die kitzelnden Sonnenstrahlen, der belebende Geruch der Eiseskälte, das nicht vorhandene Geräusch von Schnee, der erfrischende Regen. Sie wissen schon.
Es ist alles andere als schön da draußen. Es ist gefährlich, vor allem in den Städten. Die Parks, die Gärten, die Waldwege und Trampelpfade, die Wege an Flüssen und Kanälen entlang, alles ausgetrampelt und überlaufen von viel zu vielen Menschen. Die großen Straßen sind verödet, weil sich alles auf den Grünstreifen ballt. Die Leute schauen sich um, anstatt geradeaus zu schauen. Sie sprechen miteinander, anstatt auf den Verkehr zu hören. Sogar die, die längst begriffen haben, dass es nicht schön ist da draußen.
Sie gehen raus, um Podcasts zu hören oder zu telefonieren oder die halbstündige Sprachnachricht abzuhören, für die zu Hause irgendwie keine Zeit war. Spazieren ist reine Performance, die einzige, die gerade geht. Man will sich sehen lassen, sich selbst und anderen beweisen, dass man noch da ist. Am besten mit nachhaltigem Thermobecher in der Hand.
Die App gaukelt vor, woanders zu sein
Die Verzweifelten gehen zur Abwechslung schon rückwärts, oder auf allen Vieren, wie früher aus dem Club raus. Die ganz verlorenen Seelen lassen Apps beim Laufen laufen, die ihnen vorgaukeln, sie spazierten durch Städte, die sie nicht mehr bereisen dürfen. Denn das, was es in der wahren Umgebung zu sehen gibt, wurde schon bis zum Abwinken gesehen, dokumentiert, festgehalten und hochgeladen, von der ulkigen Straßenkunst bis zum pittoresk gefrorenen Schwan auf dem Eis. Was man selbst verpasst hat, posten alle anderen. „FOMO“ ausgeschlossen.
Ob wir uns die Tage mal wieder sehen und reden wollen, fragt der alte Bekannte. Eine Runde spazieren. Ach, die Tage? Da kann ich leider nicht, da habe ich keine Lust. Auch das Onlinedate fragt. Eine Runde spazieren. Was in Filmen oder auf impressionistischen Gemälden immer so romantisch aussieht, gestaltet sich in der Realität meistens folgendermaßen: Beim Nebeneinanderherschlurfen einen flirty Blick zwischen Mütze und Maske senden und gleichzeitig in eine Pfütze oder gar Schlimmeres treten. Durch dicke Winterjacken und gegen den Wind Pheromone schnüffeln und nach sprühenden Funken suchen, so lange, bis einer pinkeln muss.
Was ist schlimmer als spazieren? Zu zweit spazieren!
Spazierengehen ist nicht Ausgehen. Was schlimmer ist als spazieren? Zu zweit spazieren. Es erschwert das Ausweichen und Abstandhalten, man muss die Schrittgeschwindigkeit anpassen, voreinander herlaufen und stehen bleiben, wenn einer beim Gehen seine Gedanken nicht ordnen kann.
Gehwege sind nicht zum Gehen, sondern zum Weggehen. Von A nach B, nicht, weil der Weg das Ziel ist. Spazieren ist unnötig. Spazieren ist kein Alibigrund, um andere Haushalte zu treffen. Sie wollen Kontakte vermeiden? Dann überlassen Sie das Feld den Hunde- und Kleinkinderhaltenden. Und denen, die schon vor einem Jahr da draußen waren, weil sie sonst keine Hobbys und sich nichts zu sagen haben.
Unterlassen Sie Spaziergänge! Sie wollen Ihre Gesundheit retten? Gehen sie rennen, radeln, reiten, rodeln oder rudern. Sie wollen sich vor Wahnsinn durch Tristesse bewahren? Werfen Sie sich mit anderen Supermarktkunden Tiefkühlkost hin und her. Mieten Sie sich ein paar Autos. Oder bleiben Sie einfach irgendwo stehen.
Text und Bild: Philipp Brandstädter
von Philipp | 20 Jan 2022 | Interviews
erschienen in der taz am Wochenende am 30. April 2021
Er gestaltet Kinderbücher, die auch Große mögen. Sebastian Meschenmoser übers Huhn Chick und Michael Ende, das N-Wort und Geschlechterstereotype.
Wir treffen uns in Meschenmosers Atelier am Berliner Park Hasenheide. An den Wänden hängen Bilder in Arbeit, Öl auf Leinwand: menschenleere Freizeitparks, wo Kojoten mit Tentakeln kämpfen und Affen auf Dinoskeletten klettern. Dino- und Affenfiguren stehen neben Pflanzen auf den Fensterbänken, wir kippen uns eine French-Press-Kanne Kaffee rein.
taz: Herr Meschenmoser, in Ihrem nun schon fünfzehnten Kinderbuch sprengt ein Huhn die Rollenbilder, weil es vom Hahnsein träumt. Ist eine Coming-of-Age-Trans-Hühner-Geschichte ein gefälliges Kinderbuchthema, das sich gut verkauft?
Sebastian Meschenmoser: Das Buch heißt ja nur „Chick“ und nicht „Chick ist trans“. Man kann es als lustige Kindergeschichte lesen. Aber ich hoffe natürlich, dass es darüber hinaus ein bisschen zum Nachdenken anregt. Man könnte sich fragen: Was ist für mich vorgegeben? Allein schon durch den Namen, den mir meine Eltern ausgesucht haben. Wie prägt mich das für mein Leben? Wenn ich das zu genau thematisiere, erreiche ich nur Eltern, die das ihren Kindern ohnehin schon vermitteln. Aber auf diesem Weg kann ich jemanden erreichen, der einfach nur ein Hühnerbuch lesen möchte – und vielleicht trotzdem eine Diskussion anregen.
Den Fotos auf Ihrem Instagramaccount kann man entnehmen, dass die geflügelte Emanzipation auf einer wahren Geschichte beruht.
Größtenteils. Wir haben tatsächlich Hühner zu Hause großgezogen, sie wohnen mittlerweile auf einem Schulgelände. In der Nähe wohnt auch der Stadtfuchs, der im Buch vorkommt. Und tatsächlich hat er einmal den Stall überfallen und die Hühner in Stücken verteilt. Aber das wollte ich den Kindern im Buch nicht zumuten.
Was ist aus Chick geworden?
Die neuen Hühner leben jetzt in einem gesicherten Stall. Dazu gibt es eine Voliere mit Außenbereich – plus Schulgarten für viel Auslauf zum Scharren und Gucken und Picken. Dort lebt auch Chick, die heute eine schöne, schwarze Henne ist. Die Schulkinder erleben sie, füttern und pflegen sie, machen den Stall sauber. Sie sammeln die Eier, backen daraus Waffeln, nehmen den Kreislauf wahr, wo Lebensmittel herkommen. Viele Kinder haben dort gar keinen Bezug mehr zur Natur. Dafür haben sie sehr krass klassische Rollenmuster. Die Mädchen wollen Stewardess werden, die Jungs Fußballspieler.
Aus Rollen ausbrechen und seine eigene Persönlichkeit finden – das haben Sie auch in früheren Büchern thematisiert. Zum Beispiel beim gar nicht so bösen Wolf, der sich als die Mutter der sieben Geißlein verkleidet, mit Kleid, Make-up und Klopapierrollen als Hörner.
Ja, das kann der Wolf gut. Ich glaube, der mag das einfach. Im Märchen sind die Rollen ja immer klar verteilt: Der Wolf ist der Böse und die jungen Mädchen verkörpern die Unschuld. Bei mir ist das anders. Weil ich gern persifliere und es ja auch wirklich furchtbar einfach ist. Ich drehe einfach die Rollen um. Rotkäppchen ist fies drauf und der Wolf ist total nett zur Oma. Oder der Wolf hat eigentlich einen Putzfimmel und räumt bei den Geißlein auf.
Welche Botschaft wollen Sie in Ihren Geschichten vermitteln?
Vordergründig gar keine. Wenn man das direkt vor hat, hat man schon versagt, das kenne ich aus der Kunst. Ich will höchstens zum Nachdenken anregen und Fragen aufwerfen, mehr nicht. Ich mag es nicht, eine Aussage festzunageln, sondern will lieber zu Diskussionen anregen. Ich möchte Geschichten schreiben, die den Kindern Spaß machen und an denen sie wachsen. Ältere sollen in derselben Geschichte neue Dinge für sich entdecken. Ein Kinderbuch braucht mehrere Ebenen. Schließlich müssen die Eltern das ja auch zehntausend Mal lesen und Gefallen daran finden.
Inzwischen sind Sie selbst Vater. Welche Geschichten will Ihr Sohn zehntausend Mal hören?
Das kann ich noch selbst entscheiden, er ist erst 14 Monate alt. Bücher mit Klappen mag er gern. Ich mag Bücher mit schönen Bildern. Wenn mir der Text zu holzig ist, erfinde ich einfach einen besseren. Ich lese jeden Abend sechs Bücher. Da suche ich mir aus, welche Geschichten ich vorlesen will. Die doofen sortiere ich heimlich aus.
Malen Sie auch schon mit ihm?
Ich habe schon Stifte besorgt. Letztens hat er mit einem Bleistift auf Papier herumgekritzelt. Da war ich natürlich sofort stolz und dachte: Der Junge hat einen verzwirbelten Draht gemalt! Mein Sohn ist begabt! Ich habe große Lust, mit ihm gemeinsam zu malen, auf großen Papierbögen, vielleicht bald im Atelier. Aber hier sind überall Lösungsmittel und Ölfarben – und das Kind findet mit einer erstaunlichen Präzision immer sofort die gefährlichen Dinge. Ich möchte auch Geschichten für ihn schreiben. Schließlich nehme ich die Welt durch meinen Sohn noch einmal anders war. Er beißt in einen Tisch und ich erinnere mich: Stimmt, so hat das geschmeckt. So hat sich das Holz an den Zähnen angefühlt.
Werden Sie Ihrem Sohn in Zukunft bestimmte Kinderbücher vorenthalten?
Ja! Prinzessin Lillifee finde ich furchtbar. Es kann sein, dass solche Bücher mal bei uns auftauchen, weil wir sie geschenkt kriegen. Aber die würden dann wohl auf wundersame Weise wieder verschwinden.
Was ist mit Büchern, die nicht mehr zeitgemäß sind?
Ich sehe Bücher nicht als Spielzeug an, sondern als etwas, das man gemeinsam erlebt. Man sollte immer begleitet lesen. Es gab ja bei Pippi Langstrumpf die berühmte Diskussion. Auch bei Jim Knopf kommt das N-Wort vor, weil Herr Ärmel das benutzt. Aber der ist sowieso ein Idiot. Trotzdem ist Michael Ende deshalb sicher kein Rassist, im Gegenteil. Ich bin dafür, dass man Texte entsprechend ändert. Oder in einem Vorwort schreibt, dass es sich um eine historische Ausgabe mit alter Sprache handelt, die erklärungsbedürftig ist. Auch Kinderliteratur ist Literatur.
Welche Bücher haben Sie enttäuscht?
Die Comics, die ich in den 80ern gelesen habe, waren alle sexistisch. Diejenigen, die die Abenteuer erleben, sind die Männer. Donald Duck, Lucky Luke und so weiter. Daisy bindet sich nur ihre rosa Schleife ins Haar und beschwert sich am Ende, dass Donald ihr keinen Schmuck mitgebracht hat. Wie scheiße ist das. Aber genau das sind die Muster, die ein Kind subtil lernt. Dennoch habe ich sie als Kind gern gelesen, aber ich war ja auch ein kleiner Junge und weiß nicht, wie sich das für kleine Mädchen anfühlt. Die Geschichten müssen ja auch nicht schlecht sein, aber es liest sich heute eben anders.
Und das wollten Sie besser machen?
Darüber habe ich zuerst nicht nachgedacht. Ich habe schon immer gemalt. Als Kind habe ich mit Tesa Bilder zusammengeklebt, später für die Schülerzeitung gezeichnet. Mir wurde immer gesagt, man könne damit kein Geld verdienen. In der Kleinstadt an der Mosel, in der ich aufgewachsen bin, gab es, wie in jedem Dorf, einen Dorfkünstler. Der lief in meiner Erinnerung immer im Poncho herum und gab eben das Bild ab, das man von einem Künstler hat. Und der konnte natürlich nicht von der Kunst leben, weil irgendwann jeder eines seiner Weinbergbilder gekauft hatte. Trotzdem wollte ich immer zeichnen und habe mich dann entschieden Kunst zu studieren.
Haben Sie dort Ihre typische Art zu zeichnen gelernt?
Ja, das ist dieser naturalistische, skizzenhafte, kritzelige Stil. Der ist ungewöhnlich für Kinderbücher. Vielleicht hat das den Leuten gefallen, weil es einfach mal etwas anderes war. Es erscheinen ja 8.000 Kinder- und Jugendbücher pro Jahr in Deutschland. Wahrscheinlich muss man sich ein bisschen abheben. Außerdem hat mich Ausmalen immer genervt. Auch deshalb sind meine ersten Bücher sehr sparsam koloriert.
Dafür überzeugen die Bilder durch die Mimik ihrer Figuren – und das Gefühl, das in ihnen steckt. Was können Sie nicht malen?
Pferde sind schwierig. Weil die so absurd viele Knochen in den Beinen haben. Diese komplizierten Beine, diese langen Gesichter, daran sitze ich ewig. Pferde sehen so unrealistisch aus. Illustratoren zeichnen Pferde deshalb gern im hohen Gras, dann sieht man die Füße nicht. Das ist ein schäbiger Trick. Niemand malt Pferde in der Wüste. Deshalb hat man sich Kamele ausgedacht. Die gibt es gar nicht wirklich. Die sind nur dazu da, damit man keine Pferde zeichnen muss.
Es hat ja auch ohne Pferde einigermaßen geklappt. Waren Sie überrascht von Ihrem Erfolg?
Davon waren alle überrascht! Ich hatte Glück, dass sich mein Verlag getraut hat, Kinderbücher zu veröffentlichen, die kaum Farbe enthalten und krakelig gezeichnet sind. Die Geschichten waren irgendwie merkwürdig, aber man wollte es ausprobieren. Und auch jetzt ist es wieder schön, dass der Verlag bei dem Hühnerbuch mitgemacht hat. Ich bin dankbar, dass ich als beinahe Querschläger sonderbare Formate ausprobieren darf.
Hatten Sie keine Strategie im Bezug auf das, was auf dem Buchmarkt gerade beliebt ist?
Nein, da gab es kein Kalkül. Weil ich nie gedacht hatte, dass ich überhaupt Erfolg hätte. Ansonsten hätte ich anders gezeichnet und gefälliger geschrieben. Prinzipiell schreibe ich die Bücher für mich selbst. Wenn mir das gefällt, denke ich, dass das anderen auch so gehen könnte. Nur ein paar anderen. Es ist ja nicht so, dass ich damit Riesenverkaufszahlen erziele. Aber wenn ich einige wenige Leute erreiche, dann freut mich das schon ungemein.
Wüssten Sie heute genauer wie der Buchmarkt und die kaufkräftigen Zielgruppen ticken?
Nein, den Geschmack kennt auch niemand. Die heutigen Eltern sind anders, wir haben einen ganz anderen Zugang als früher. Wir sind mit den Simpsons und den Muppets aufgewachsen. Wir haben Spaß an anderen Sachen. Wir schauen „Spongebob“. Wer hätte denn gedacht, dass jemand eine Trickserie mag mit dem langweiligsten Tier auf der ganzen Welt, nämlich einem Schwamm? Das gucken unter Umständen auch Erwachsene, wenn sie die Stimme aushalten.
Wie sehr Kind muss man sein, um Kinderbücher zu schreiben?
Ich habe wahrscheinlich genug kindliche Eigenschaften dafür. Ich kaufe mir immer noch gern Plastikdinosaurier und tue dann so, als bräuchte ich die für meine Arbeit. Ich lese immer noch Kinderbücher und schaue gern die „Muppetshow“. Oder „Adventure Times“. Großartig! Überhaupt glaube ich nicht an das Konzept des Erwachsenseins. Wo ist denn hier bitte jemand erwachsen? Die tun doch alle nur so. Manche kaufen sich statt Dinosauriern halt Whiskey.
Welche Bücher haben Sie nicht erst heute zu schätzen gelernt, sondern schon als Kind geliebt?
Wimmelbilder habe ich gemocht. Oder auch „Ich bin der kleine Hase“ von Richard Scarry. Das habe ich mir erst kürzlich noch einmal angesehen und gemerkt, dass ich unterbewusst den Stil einiger Bilder daraus in meine eigenen Bücher eingebaut habe.
Das Kinderbuch, das mich am meisten geprägt hat, ist eins von Ihnen. Da war ich allerdings schon um die 30. Dort verliebt sich der Igel – und muss feststellen, dass er sich versehentlich in eine Drahtbürste verguckt hat. Der Schock der Desillusionierung kommt mir bekannt vor.
Ja, das passiert. Wir haben so unsere Vorstellungen eingetrichtert bekommen. Irgendwann entsteht da dieses rosa Bild von einer Person und man denkt sich: Wow, das ist sie! Und dann kommt die große Enttäuschung. Das haben viele schon selbst erlebt, ich auch.
Wer war Ihre Drahtbürste?
Ach, da gibt es viele. Mit einigen Drahtbürsten bin ich heute befreundet.
Sie erzählen Geschichten aus Ihrem eigenen Leben und zeichnen sich auch mal selbst als Holzfäller oder Hühermutter in Ihre Bücher hinein …
Ja, ich verstecke mich dort gern. Ich tauche in fast allen Büchern auf. Autoren sind ja sonst eher unsichtbar, mal im Vergleich zu Schauspielern. Ich finde es aber wichtig, den Kindern zu zeigen, dass da jemand Lebendiges dahinter steht. Dann denken sich manche Kinder vielleicht: Okay, das kann ich auch versuchen. Ich lasse dadurch einen greifbaren Realitätsbezug entstehen.
Müssen Sie den auch jenseits der Bücher herstellen? Über soziale Netzwerke zum Beispiel?
Schon, aber da bin ich nicht besonders gut drin. Ich bin ja auch angeblich schon 40. Ich könnte dort mehr tun, bewegte Bilder posten anstatt nur Fotos von Hühnern. Ich würde aber nie mein Privatleben zur Schau stellen. Die Hühner sind zwar privat, aber nur ein gezielter Ausschnitt. Meine Familie wird nie zu sehen sein. Aber die Netzwerke sind ein schönes Medium, um auf meine Arbeit aufmerksam zu machen.
Früher war auf Ihrem Instagram-Account ein bisschen mehr los. Hat sich Ihr Leben stark verändert in diesen irren Zeiten?
So sehr habe ich die Veränderung zuerst gar nicht wahrgenommen. Im Januar 2020 wurde unser Sohn geboren, da ist man automatisch in einer Art Shutdownsituation. Da sieht man ohnehin nicht so viele Leute. Und nun durften wir das auch gar nicht, das war in dem Fall ganz entspannend. So konnten wir uns auf den neuen Menschen einstellen, den es vorher noch gar nicht gab. Dann wurde es mit der Zeit aber anstrengend, weil wir die Großeltern nicht besuchen durften oder andere Freunde mit Kindern. So viele Möglichkeiten fielen weg. Ohne Krabbelgruppe oder Familienzentrum ist es schwieriger, das haben wir gemerkt.
Hatten Sie als Künstler Schwierigkeiten?
Da habe ich Glück gehabt. Ich hatte keine Ausstellungen geplant, konnte einfach weiter im Atelier malen. Ich bin weiterhin um 9 Uhr hierher gekommen, habe diese schmutzigen Klamotten angezogen. Die sind für mich wie ein Superheldenkostüm, die bringen mich sofort in den Arbeitsmodus. Ich war außerdem froh, dass die Buchläden als systemrelevant eingestuft wurden und geöffnet blieben. Es ist eine gute Sache, Bücher zu kaufen und Läden zu unterstützen, die es wegen Amazon sowieso nicht leicht haben. Aber mir tun die Leute im darstellenden Gewerbe leid. Ich kenne einige Puppenspielerinnen und Puppenspieler. Die haben Totalausfälle, denen geht es übel.
Wäre Corona ein geeignetes Thema für das nächste Kinderbuch? Eine Figur, den Tapir, haben Sie ja immerhin schon von oben bis unten in Klopapierrollen eingekleidet.
Da war ich wohl vorausschauend. Wobei ich selbst als letztes auf die Idee gekommen wäre, mich mit Klopapier einzudecken. Wenn ich jetzt ein Coronabuch anfange, wäre ich vielleicht rechtzeitig zur sechsten Welle fertig. Ein besseres Thema wäre die Spanische Grippe. Das ist historisch. Es würde mehr ins Bewusstsein rücken, dass Pandemien immer wieder aufkommen. Sie sind ein bewährtes Mittel der Natur gegen eine parasitäre Spezies. Und genau das sind wir ja für diesen Planeten. Wir benehmen uns total daneben, breiten uns immer weiter aus und machen die Welt dabei kaputt. Was wäre, wenn es die Natur noch ernster mit uns nehmen würde? Durch einen multiresistenten Darmvirus zum Beispiel. Dass das kommt, ist klar. Wir wissen nur nicht, wann. Die Frage ist nur, ob wir daraus lernen.
Interview und Bild: Philipp Brandstädter
Der Mensch: *1980 in Frankfurt/Main, in Bernkastel-Kues bei Trier aufgewachsen, Studium an der Akademie für Bildende Künste in Mainz. Mit 22 Jahren wurde er mit seinem Bilderbuch „Fliegen lernen“ erfolgreich – und mit der Illustration von Michael Endes „Unendliche Geschichte“ bekannt.
Das Buch: „Chick“, gerade erschienenes Bilderbuch über eine Coming-of-Age-Trans-Hühner-Geschichte. Im März 2021 im Thienemann-Verlag erschienen.