ChatGPT in der Schule

ChatGPT in der Schule

erschienen in der taz, die Tageszeitung, am 18. März 2023

SchülerInnen überlassen das Schreiben ganzer Aufsätze einer künstlichen Intelligenz. Kritiker fürchten, dass der Persönlichkeitsentwicklung dadurch etwas Zentrales verlorengeht.

Die ersten Videos liefen zum Jahreswechsel auf Sihams Smartphone ein. Von da an folgte ein Tiktok-Kurzclip auf den nächsten, neben Kosmetik-, Tanz- und Tiervideos immer wieder ChatGPT, die geniale Erfindung. „Ständig erzählte irgendjemand, wie einfach man damit Hausaufgaben machen kann und wie es das ganze Schulleben auf den Kopf stellen würde“, sagt die Schülerin aus der Fritz-Karsen-Schule in Berlin-Neukölln. „Also habe ich es selbst ausprobiert.“

Seit ChatGPT Ende November 2022 gestartet ist, drehen sich die Diskussionen in sozialen Netzwerken oft um das auf einer künstlichen Intelligenz (KI) basierende Sprachsystem. Und SpiegelZeitFAZ machen KI zum Titelthema. Was KI bereits alles kann, wo KI schon überall eingesetzt wird, wann KI unsere Arbeit übernimmt. Wöchentlich gibt es neue Experteninterviews, oder die KI schreibt die Kolumnen gleich selbst – wie einmal im Monat in der wochentaz, wo die künstliche Intelligenz Anic T. Waed Autorin der Kolumne „Intelligenzbestie“ ist. ChatGPT, so heißt es, könne komplexe Fragen beantworten, gebe Erklärungen und Tipps, helfe genauso schnell bei der Reiseplanung, wie sie einen Computercode oder ein neues Theaterstück schreibt.

„Zuerst habe ich die Englischaufgaben damit gemacht“, sagt Siham. „Frage eingeben und die Antwort kopieren. Das geht total einfach, wenn man mal faul ist oder keine Zeit hat.“ Auch bei grundsätzlichem Lernstoff, für den im Unterricht der Oberstufe mal wieder nicht genug Zeit blieb, hilft ChatGPT nach. Dadurch wurde die KI zum Standard-Tool der 17-Jährigen. „Wenn mir die Antwort nicht ausreicht, schreibe ich:,Erkläre das genauer‘, oder ich stelle meine Frage anders. Schon bekomme ich einen neuen, detaillierteren Text, der mir beim Lernen hilft.“

War das gemogelt?

In diesen Tagen macht sich mal Begeisterung breit, mal Besorgnis. Dabei hätten wir auch schon vor Jahren von KI überwältigt sein können: Erst bezwingt ein Computer den Weltmeister im Schach, dann helfen Navis beim Autofahren, später empfehlen uns Algorithmen personalisierte Inhalte wie Bücher, Musik, Filme und Schnäppchen. Aber so richtig von den Socken sind wir erst, als eine KI beginnt, auf Zuruf verrückte Bilder zu zeichnen oder in einem Chatfenster mit uns zu plaudern. Faszinierend und gruselig zugleich.

Gruselig vor allem für Schulen und Universitäten. Denn dort, wo Schreiben eine Persönlichkeit ausbilden, kritisches Denken fördern und junge Menschen zu mündigen BürgerInnen erziehen soll, beginnen die jungen Menschen, das Schreiben einer Maschine zu überlassen.

Wenn dieser Schritt aber von einem Computer übernommen wird, geht in der Persönlichkeitsentwicklung nicht etwas Zentrales verloren? Muss das Bildungswesen einschreiten? Kann man das überhaupt verhindern?

ChatGPT mit abwägenden Antworten

Gerade wurde Siham von ihrem Lehrer erwischt. Was heißt schon „erwischt“: „Warum soll ich nicht ChatGPT benutzen? Ist doch auch nicht groß anders als Googeln.“ Siham sucht in ihrem Chatverlauf mit ChatGPT, um welches Thema es ging, kann den Dialog mit der Sprach-KI aber auf die Schnelle nicht finden. Es war im Politikkurs, die Hausaufgabe hatte irgendwas mit Verfassungsorganen und dem Bundesrat zu tun. „ChatGPT hat da auch ganz gute Antworten geliefert, aber dann ist mein Lehrer stutzig geworden.“

„Das war Zufall“, sagt Lehrer Friedemann Gürtler. „Ich hatte mit ChatGPT gespielt und viele dieser typischen, abwägenden Antworten erhalten.“ Si­hams Sätze in der Hausaufgabe hatten einen ganz ähnlichen Ton. „Die abwägende Antwort hat nicht so recht zu der eindeutigen Fragestellung gepasst.“

Hat Siham etwas Verbotenes getan? Hat sie getäuscht? Plagiiert? Friedemann Gürtler war sich da auch nicht so ganz sicher. Also hat er Siham gebeten, ein Referat über ChatGPT zu halten. Da hatten schon die meisten SchülerInnen in Sihams Oberstufe von dem Programm mitbekommen. „Inzwischen nutzt jeder ChatGPT für die Schule“, sagt Siham. „Das ist total nützlich und auch richtig so. Nur wird es ab jetzt für die Lehrkräfte schwierig werden, die schriftlichen Leistungen zu bewerten.“

Verbieten?

Dass Computer Fließtexte generieren, die sich nicht von jenen unterscheiden lassen, die Menschen verfassen, ist für die Lehre ein Riesenproblem. ChatGPT soll an der Uni von Minnesota sogar schon eine Juraprüfung bestanden haben. Auch im Theo­rieteil, den MedizinerInnen ablegen müssen, um in den USA praktizieren zu dürfen, hat ChatGPT locker die vorgeschriebene Mindestpunktzahl erreicht. Warum also nicht einfach ChatGPT verbieten?

In den USA ist das teilweise schon geschehen, der Schulbezirk in New York hat sich dazu entschieden. In der EU feilen Kommission und Parlament seit zwei Jahren am Artificial Intelligence Act, dem ersten Regelwerk für KI. Sogenannte Hochrisikoanwendungen sollen dabei eingeschränkt werden wie die Gesichtserkennung oder die Prüfung der Kreditwürdigkeit. ChatGPT ist per Definition auch ein Hochrisiko, solange die generierten Texte nicht einer Person zugeschrieben werden. Irgendjemand muss ja dafür gerade­stehen, sollte die Maschine sexistischen, rassistischen, manipulativen, zusammengelogenen Mist verzapfen. Kann man Schulen so eine Maschine zumuten?

Gerade einmal fünf Tage brauchte ChatGPT, um weltweit eine Million NutzerInnen zu erreichen. Kein anderer Onlinedienst hat diese Marke so schnell geknackt. Instagram brauchte knapp drei Monate, Twitter zwei Jahre. Der irrwitzige Hype überrascht auch Fachkreise, denn Sprachmodelle wie GPT, die bei Google LaMDA und bei Face­book OPT-175B und jetzt LLaMA heißen, gibt es schon etwas länger, auch wenn sie noch nicht frei nutzbar sind.

Papers, Belletristik, Kochrezepte

GPT steht für Generative Pretrained Transformer und ist ein neuronales Netz, dessen Verbindungen sich zwischen den Rechenknoten bei Erfolg verstärken. Dadurch lernt das Netzwerk, ähnlich wie unser Gehirn es tut. Die künstliche Intelligenz wurde mit massenhaft Textdaten trainiert: Artikel, Aufsätze, Blogeinträge, wissenschaftliche Papers, Belletristik, Kochrezepte – Millionen Texte, größtenteils aus dem Internet und ein beträchtlicher Stapel Fachbücher.

Es ist in etwa so, als hätte man ein Kind in eine Bibliothek gesperrt, wo es sich mit der Zeit einen Sinn aus den Texten zusammengereimt hat. Welcher Buchstabe folgt mit welcher Wahrscheinlichkeit auf den anderen? Welches Wort folgt auf welches Wort? Welche Wortfolgen passen grammatikalisch und inhaltlich zusammen? Auf der Grundlage von erlernten statistischen Wahrscheinlichkeiten imitiert ChatGPT menschliche Sprache und erzeugt mit jeder Anfrage einen neuen Text. In seiner inzwischen dritten Version macht das Programm das so gut, dass unsereins in der Regel die Luft wegbleibt.

Für ChatGPT wurde das bestehende Sprachmodell lediglich mit einer Chatfunktion garniert. Das macht es leicht, das Programm zu benutzen, und bringt auch noch Spaß mit ins Spiel. So können alle „prompten“, also eine Anfrage an das Programm richten. Und die Erfinder von ChatGPT konnten ihr Monster auf die ganze Welt loslassen, das seitdem durch die Prompts von derzeit weit über 100 Millionen Menschen weiter trainiert und verbessert wird.

Ernie und Bard

Dass diese kostbaren Daten gerade Sekunde für Sekunde den Internet­riesen durch die Lappen gehen, macht ChatGPT zu dem großen Ding, das es gerade ist. Zum ersten Mal spurtet Google nicht vorweg, sondern muss nachziehen. Hastig hat es sein eigenes künstliches Sprachmodell namens Bard veröffentlicht, das bei dessen Vorstellung gleich mal eine falsche Info verbreitete und die Aktie von Googles Mutterkonzern Alphabet absacken ließ. Chinas Suchmaschine Baidu antwortet derweil mit ihrem Chatbot Ernie.

Ernie und Bard, kein Witz. Und ausnahmsweise gibt es mit dem Heidelberger Unternehmen Aleph Alpha auch einen deutschen Player, der in Sachen KI auf Augenhöhe mitmischt.

Andere Firmen nutzen GPT3 für ihre Produkte, alle können die Sprach-KI kostenfrei in ihre Software einbauen. Zu diesen Firmen gehört auch Mindverse aus Berlin-Spandau. Geschäftsführer Noel Lorenz, 25 Jahre alt, spaziert durch die neuen Räume, in die er vor Kurzem mit seinem Team eingezogen ist. Sein Personal verdoppelt sich gerade, der hintere Trakt der Etage ist noch eine Baustelle.

Überschriften erfinden, Songtexte dichten

„Von GPT3 war ich schon fasziniert, als es noch in der Beta­phase steckte“, erzählt Lorenz. Da war das Modell endlich in der Lage, selbstständig Muster in seinen Daten zu erkennen und menschenähnliche Texte zu erstellen. Das gelang, weil die KI mit einer Datenmenge trainiert wurde, die bald 1.500-mal so groß war wie die der Vorgängerversion.

Vor zwei Jahren gegründet, surft Mindverse nun auf der Erfolgswelle von ChatGPT mit. „Im Vergleich zu GPT kann Mindverse besser Deutsch und ist dank seiner Livedaten aus dem Internet moderner“, sagt Lorenz. ChatGPT greift nur auf Datensätze bis zum Jahr 2021 zurück. Seit zehn Jahren programmiert Lorenz, vor sieben Jahren hat er seine erste Firma gegründet, dann verkauft. Er hat ein bisschen Medizin studiert, ist aber lieber zu BWL gewechselt. Der schwarze Steve-Jobs-Rolli unter dem Sakko lässt erahnen, welche Richtung seine Karriere einschlagen soll.

Neben der Chatfunktion bietet Mindverse zusätzliche Feintuning-Modelle, die sich gezielter auf die Datensätze beziehen als bei ChatGPT. „Das neuronale Netzwerk antwortet nur so gut, wie es gefragt wird. Daher konkretisieren wir die Anfragen mit unserer Software.“ Eine Funktion ist dafür gemacht, Stichpunkte in Fließtext zu verwandeln, eine andere soll Aufsätze mit Thesen und Argumenten schreiben, die nächste werbewirksame Überschriften erfinden oder Songtexte dichten.

Flesch, Gunning, Coleman

„Die KI wird ständig von unseren Power­usern trainiert und bewertet“, sagt Lorenz. Das bedeutet, dass das Sprachmodell weiter lernt und umso menschlicher wird, während es den Gesprächspartner spielt. Außerdem bezieht die Maschine Formeln ein, die die Lesbarkeit von Texten berechnen: das Flesch-Kincaid-Grade-Level, den Gunning-Fog-Index, den Coleman-Liau-Index. Diese Formeln zählen Buchstaben, Silben und Wörter und berechnen, wie verständlich ein Satz sein muss. Unabhängig von dessen Inhalt ist das wichtig für die Suchmaschinenoptimierung. Je besser die berechnete Lesbarkeit, desto höher das Ranking bei Google und Co.

Im Gegensatz zur ersten Version von ChatGPT gibt Mindverse auch die Websites an, die die KI als Quelle genutzt hat. Das könnte bei Hausarbeiten ein entscheidender Vorteil sein. „Wir haben bestimmte offizielle Websites als seriös eingestuft und bewerten Quellen höher, je häufiger sie verlinkt werden“, sagt Noel Lorenz. Außerdem hat der Mindverse-Kopf auch an den Datenschutz gedacht. Die Prompts und Entwürfe können über anonyme Konten verfasst werden.

Das hat Thomas Süße auf das Programm aufmerksam gemacht. Er steht vor einem Smartboard in den Räumen des Campus Gütersloh, einem schlichten weißen Gebäude hinter dem Bahnhof, auch „Gleis 13“ genannt. Die Studierenden machen hier hauptsächlich etwas mit Maschinen: Mechatronik, Engineering, Logistik, digitale Technologien. Sozialwissenschaftler Süße bringt die menschliche Komponente in die Maschinenwelt, indem er zur Transformation der Arbeit forscht. „Die Technisierung verändert, beschleunigt, erleichtert unsere Arbeit“, erklärt der Professor. „Sie setzt uns aber auch unter Druck.“

Alle unter Technostress

Technostress nennt Thomas Süße das, die Schattenseite der Digitalisierung. Er kritzelt blaue Pfeile und Kürzel an die Wand und denkt laut: „Bislang haben sowohl Hochschulen als auch Schulen nur sehr wenig wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, wie Schüler und Studierende die Sprach-KI sinnvoll nutzen.“ Es gibt noch keine gesicherten Antworten. Wie auch, ChatGPT ist zu neu – und das Bildungswesen zu langsam. „Darum brauchen wir jetzt Grundlagenforschung, und zwar schnell.“

Doch Lernerfolg lässt sich nicht so einfach nachweisen. Gelernte Kompetenz, das umfasst neben Fachwissen auch kreatives Schaffen, kritisches Denken, Zusammenarbeit, die Fähigkeit, sich mitzuteilen. „Das sind alles persönlich empfundene und eingeschätzte Werte“, sagt Süße. „Mein Job ist es, diese schwer erfassbaren Variablen besser messbar zu machen.“ Dazu will er eine große Gruppe SchülerInnen befragen, die regelmäßig eine Sprach-KI nutzt.

Der Plan: Eine Klassenstufe soll ihre Facharbeit schreiben und dabei Mindverse verwenden dürfen. „Wir wollen wissen, welche Rolle die Sprach-KI spielt: ob sie Ideen einbringt, als Sparringpartnerin im Schreibprozess hilft, oder Co-Autorin wird.“ An der ersten Untersuchung werden 120 junge Leute teilnehmen. Wie praktisch, dass die benötigte Kohorte quasi vor der Haustür des Professors lernt.

25 Jahre Laptop-Klasse

Das Evangelisch Stiftische Gymnasium (ESG) in Gütersloh ist ein bisschen besonders. Protestanten gründeten es, als die ersten Maschinen begannen, die Arbeitswelt auf den Kopf zu stellen, und die Aufgaben des Handwerks übernahmen. Es heißt, hier würden RichterInnen, ChirurgInnen und ManagerInnen von morgen die Schulbank drücken.

Der in Gütersloh ansässige Medienkonzern Bertelsmann hat den Backsteinbau der Schule um eine verspiegelte Mediothek mit Tonstudio und Videoschnittraum ergänzt. Seit einem Vierteljahrhundert sind Laptops hier Teil des Unterrichts. Dank Lernplattform und Endgeräten wechselte das ESG im Lockdown spielend in den Distanzunterricht. Und auch bei der Verwendung von Sprach-KIs gibt es an dieser Schule nur wenig Berührungsängste.

Deutschlehrer Hendrik Haverkamp hat seine 8. Klasse erst neulich gegen ChatGPT antreten lassen. Die Aufgabe war eine Gedichtanalyse. Nachdem die Schülerinnen und Schüler ihre Arbeiten abgegeben hatten, kam die KI an die Reihe. Sie brauchte nur ein paar Sekunden, um ihren Text abzuliefern: eine fein strukturierte Analyse mit aufeinander aufbauenden Argumenten und ohne einen Rechtschreibfehler. „Das sah auf den ersten Blick nach einer hervorragenden Arbeit aus“, erzählt Haverkamp. „Nur war der Text inhaltlich komplett falsch.“

Boomer-Tool

Die KI schrieb ein Gedicht von Paul Boldt lieber Erich Kästner zu und erzählte etwas über hübsche Naturbeobachtungen, die in Boldts Schilderungen nicht wirklich vorkommen. Die Argumente der Maschine waren teils erzkonservativ, teils weltfremd. Das erste Urteil der Klasse über ChatGPT: „Boomer-Tool“. „ChatGPT ist wie ein Insidergag: Ich verstehe ihn nur dann, wenn ich genug darüber weiß“, sagt Haverkamp.

Es ist Mittwoch, ein eisiger Morgen, erste Stunde, Deutsch. In der 8. Klasse sind die Laptops aufgeklappt, kein Heft, kein Stift liegt auf den Tischen. Lehrer Haverkamp steht vor dem Bildschirm an der Wand, wo früher mal eine Kreidetafel hing, und schickt ein paar Meldungen über Elon Musk auf den Monitor. „Welche Nachricht ist Fake und von ChatGPT, welche ist echt?“ Es gibt erste Vermutungen, der Schreibstil der KI ist der Klasse längst vertraut.

„ChatGPT macht keine Umschreibungen wie ‚Der 51-Jährige‘.“ „Das Wort ‚Milliarden‘ würde nicht mit,Mrd.‘ abgekürzt.“ Haverkamp zeigt der Klasse ein Tool, das künstlich generierte und von Menschen verfasste Texte unterscheiden können soll. Kann es aber nicht. Die Sprach-KI ist zu weit entwickelt, das Prüfungsprogramm aufgeschmissen. Dann kopiert ein Schüler fix einen Textbaustein der menschengemachten Meldung aus der Zeitung, sucht im Netz und findet die Quelle.

„Mir wäre es lieber, wenn ChatGPT auch mal zugeben würde, dass es keine Ahnung hat“, sagt Lilli aus der 10. Klasse. „Eine eigene Meinung würde ihr auch gut stehen.“ Im Projektunterricht beschäftigt sich die 16-Jährige gerade mit den sogenannten Neuen Medien. „Die KI relativiert alle Argumente und geht nicht so richtig in die Tiefe. Man braucht eigenes Wissen und muss skeptisch bleiben, damit man keine Fehler übernimmt.“ Bei Themen, für die es kein Richtig oder Falsch gibt, sagt Lilli, wenn es ethisch, emotional oder persönlich wird, dann sei ChatGPT blank.

Sprachmaschine statt Wissensmaschine

ChatGPT ist eine Sprachmaschine, keine Wissensmaschine. Das Programm schwafelt, immer selbstbewusst, immer wieder inhaltsarm. Es verwendet Worthülsen, bedient sich aus Quellen wie Blogs oder der Boulevardpresse, ignoriert direkte Zitate, liest nicht zwischen den Zeilen, erzählt lieber irgendetwas, als gar nichts zu texten. Viele Floskeln, inflationär verwurstete Fremdwörter, sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit, eine Illusion des Plausiblen.

Dennoch arbeitet auch Lillis Mitschüler Max viel mit dem Sprachtool. „Wenn ich einen Aufsatz schreibe oder etwas programmieren will. Die KI verkürzt die Zeit für die Fleißarbeit, damit ich mehr Zeit für die Denkarbeit habe.“ Wegen der Sache mit ChatGPT waren auch schon mehrere Medienleute am Gymnasium und haben mit ihm gesprochen. Gerade erst kam ein Fernsehteam vorbei, erzählt Max. Die hätten für ihren Beitrag aber mal schön seine Antworten verdreht. „Es kam so rüber, als würde ich die KI aus purer Faulheit alle Hausaufgaben erledigen lassen.“ Ganz so einfach sei das nun auch wieder nicht.

Im Mai werden Max und Lilli ihre Facharbeiten schreiben, KI-unterstützt, für die Studie von Thomas Süße. „Ich kann mir vorstellen, dass das Programm eine Inspirationsquelle sein wird“, sagt Lilli. „Es hat mir vorher schon gute Überschriften oder auch Argumente vorgeschlagen, auf die ich selbst nicht gekommen wäre. Warum sollte ich solche Ideen nicht benutzen.“

Täuschung statt Plagiat

Für die meisten SchülerInnen und Studierenden ist das noch nicht so selbstverständlich wie für Lilli und Max. Künstliche Intelligenz für eine Abschlussarbeit zu verwenden ist zwar kein Plagiat. Dafür müsste das geistige Eigentum einer Person gestohlen werden, und noch machen wir zwischen Mensch und Maschine einen klaren Unterschied. Jedoch kann man die Texte einer KI auch schlecht als eigenes geistiges Eigentum ausgeben. Das wäre eher als Täuschungsversuch zu werten.

Diese Art der vermeintlichen Täuschung bringt zwei Probleme mit sich. Erstens: Das ohnehin schon überlastete Lehrpersonal müsste nach maschinellem Ghostwriting fahnden. Aber wann? Und wie? Schon jetzt bekommt es kein Tool hin, zielsicher KI-Content zu erkennen. Das wird auch in Zukunft kaum gelingen, da die Sprach-KI ja ständig besser, menschenähnlicher wird.

Zweitens: Wo fängt die Täuschung an? Ganz sicher, wenn man ganze KI-generierte Absätze verwendet. Aber auch schon bei ein paar Worten? Oder bei einer Idee, die mir von allein nicht eingefallen ist? Oder wenn ich meinen Text durch ein Rechtschreibprogramm laufen lasse? Wenn ich einen Taschenrechner benutze?

Deutsches Bildungswesen zeigt sich offen

Im Gegensatz zu den USA scheinen es die Bundesländer nicht auf ein Verbot von ChatGPT abzusehen. Auf der Bildungsmesse Didacta in Stuttgart hieß es gerade: Sprach-KI hat zu viel Potenzial, um sie zu verbieten.

Seitens des Hessischen Kultusministerium hieß es: KI-Anwendungen könnten „Schülerinnen und Schüler individuell in ihrem Lernprozess unterstützen“. Viel konkreter wird es bis dato nicht. Immerhin veröffentlichte das nordrhein-westfälische Schulministerium einen Leitfaden zum Umgang mit KI. Darin wird die Arbeit mit Textrobotern nicht verboten, stattdessen auf die Pflicht der Schulen hingewiesen, ­Medienkompetenz zu lehren.

Eine Richtlinie, wie die Lehrerinnen und Lehrer künftig Leistungen prüfen sollen, hat noch niemand geschrieben. Und so scheint es, als würden wir der künstlichen Intelligenz genauso begegnen wie den anderen Krisen der jüngeren Zeit auch. Klima, Corona, KI-Weltherrschaft: Wir sehen es kommen, wir wissen, dass wir handeln müssen – und sitzen es lieber aus.

„Die Angst ist vor allem so groß, weil es an Erfahrung fehlt“, sagt Anja Strobel. Die Psychologin forscht im Bereich „Hybrid Societies“ an der TU Chemnitz daran, wie der Mensch mit der Maschine interagiert und ein vertrauensvolles Miteinander in der Arbeitswelt möglich ist. Strobel hat Interviews ausgewertet, die der Gütersloher Sozialwissenschaftler Thomas Süße mit ArbeiterInnen in einer Fabrik geführt hat. Sie sprachen darin über ihre Erfahrung, eine künstliche Intelligenz wie einen Azubi anzulernen.

Mensch und KI

„Wir haben uns angesehen, wie Menschen Roboter wahrnehmen, welche Eigenschaften sie ihnen zuschreiben und welche Aufgaben sie die Roboter übernehmen lassen“, erklärt die Psychologin. Denn der technologische Fortschritt entwickelt sich nur in die Richtung, die wir bereit sind mitzugehen. Der optimistische Weg ist der: Die KI wird viel Arbeit vereinfachen und Jobs nur dort ersetzen, wo sie neue schafft.

Die Maschinen könnten die anstrengenden, die monotonen Aufgaben übernehmen, sagt Anja Strobel, während die Menschen sich auf das Kreative, das Sinnstiftende, das Miteinander konzentrieren. „Doch das unberechenbare Neue macht uns nervös. Das kennen wir auch aus anderen Bereichen unseres Lebens.“

Was ChatGPT betrifft, hat Strobel weniger Sorge, dass es den universitären Alltag stark beeinflussen wird. „Wir haben einiges ausprobiert und unseren Spaß damit gehabt“, sagt die Professorin. „Manches kann das Programm gut, woanders versagt es grandios.“ Den Uni-Alltag würde die Sprach-KI zunächst wenig verändern. „Die Studierenden dürfen generell keine Texte für bare Münze nehmen, nur weil sie gut klingen.“ Die Prüfungen hat Anja Strobel auch vorher schon lieber mündlich abgenommen. „Das ist zwar sehr zeitaufwendig, aber im Gespräch kann ich ganz anders schauen, ob die Studierenden verstanden haben, was sie gelernt haben.“

Die Prüfungskultur ändern

Wenn es nach Lehrer Haverkamp geht, ist dagegen der Punkt erreicht, den Unterricht und die Prüfungskultur grundlegend zu ändern. „Stellen Sie sich vor, Sie sollen Ihr Handy abgeben, das WLAN ausstellen und sich in einen Raum einschließen, um dort nach 90 Minuten mit einer ausgefeilten Darlegung Ihrer Standpunkte herauszukommen“, schildert er die gängige Prüfungssituation. „Im wahren Leben würde das niemand von Ihnen erwarten, aber genau das erwarten wir von unseren Schülern.“

Kann man das nicht verändern? Schwierig. Zwar sind die Lehrpläne längst kompetenzorientiert, was bedeutet, dass weniger Wissen, dafür mehr Fähigkeiten vermittelt werden. Aber in der praktischen Umsetzung bleibt es meist beim Pauken für den Wissenstest. Die KI kann das jetzt ändern. Vielleicht erzwingt sie es sogar. Denn sie würde es den Lehrkräften leichter machen, ihren Unterricht auf den Lernprozess zu beziehen. Will heißen: mehr Weg statt Ziel, mehr Entwicklung als das geschriebene Ergebnis.

Vom „Flipped Classroom“ ist schon lange die Rede. Dort sollen Hausaufgaben und Vermittlung des Stoffs vertauscht werden: zu Hause Inhalt erarbeiten, im Unterricht anwenden. Die Sprach-KI als Lernassistent macht’s möglich. Ganze Unterrichtsstunden würden hinfällig, weil die Grundlagen ein Programm übernehmen könnte. „Dann müsste ich die Klasse nicht mehr zu stumpfsinnigen Aufgaben ermutigen, die ich danach stumpfsinnig korrigieren muss“, sagt Haverkamp. „Stattdessen könnte ich die Zeit für Feedback nutzen und die Schülerinnen und Schüler individuell betreuen.“

Noch bevor die Studie über die Facharbeiten am Gymnasium in Gütersloh beginnt, hat Haverkamp schon eine Ahnung, was dabei herauskommen wird. Der Deutschlehrer ließ bereits eine Arbeit schreiben, bei der die Klasse ChatGPT nutzen durfte. Die von der KI stammenden Argumente sollten die SchülerInnen kenntlich machen. „Die besten Noten bekamen diejenigen, die die wenigsten KI-Anteile übernommen hatten. Sie ließen sich nur inspirieren. Je schwächer die Schüler in der Arbeit waren, desto mehr hatten sie übernommen.“

Bildungsschere wächst

Daraus ergibt sich neben der Frage der Prüfung und der Täuschung ein viel größeres Problem: die Bildungsschere. „Die starken Schüler profitieren am meisten von der KI“, sagt Haverkamp. „Sie können die Technologie reflektierter einsetzen. Die einen nutzen die gewonnene Zeit zum Lernen, die anderen für außerschulische Hobbys.“

Die KI könnte die Schere gleich in vielerlei Hinsicht auseinandertreiben: zwischen den Schulen mit besserer und schlechterer Ausrüstung, zwischen den leistungsstärkeren und leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern – und auch zwischen den Armen und Reichen, wenn die kostenpflichtige Premium-Sprach-KI mal besser sein wird als die herkömmliche.

Und das gilt nicht nur für Uni und Schule. Wir alle begegnen künstlicher Intelligenz, benutzen sie aktiv oder unbewusst. Die einen wissen, dass sie von einer Maschine mit Infos geflutet werden. Andere lassen sich eventuell beeinflussen. Wahrscheinlich wird es bald normal sein, dass wir zwischen KI-Inhalten und von Menschen verfassten Texten unterscheiden, zwischen Billigware und feingeistigem Handwerk. Sofern wir den Unterschied überhaupt merken.

In dieser Woche hat OpenAI sein neues Sprachmodell GPT4 veröffentlicht. Im Vergleich zu seinem Vorgänger GPT3 hat es einen fünfmal so großen Datensatz und kann statt nur in Textform auch in Bildern antworten.

Text und Bild: Philipp Brandstädter

Davonreiten ist nicht

Davonreiten ist nicht

erschienen in der taz, am 3.12.2022

Das Nationalgetränk ist vergorene Stutenmilch, eine Jurte erzählt vom Zweiten Weltkrieg, das Land vertrocknet derweil.

Ach, ich hätte ja Fotos gemacht. Als Beleg, wenn ich mich später im Freundeskreis überdreht, aber auch liebevoll über die ulkige Andersartigkeit eines anderen Landes lustig gemacht hätte. Aber ich musste die Kamera abgeben, als ich das Nationalmuseum von Bischkek betrat, denn das ist nun einmal zum Lernen da und nicht zum Lustigmachen.

Also lerne ich von einer riesigen Landkartentapete, dass die alten Kirgisen gefühlt ganz Asien beritten haben und dass der Lederharnisch mit den Ketten und Riemen in der Vitrine vor mir zweitausend Jahre alt sein soll, obwohl er so aussieht wie frisch aus dem Fetischladen. Jenseits des Schlachtfelds trugen die Frauen damals Fuchs, lerne ich weiter, die Männer Schneeleopard.

Und wegen dieses Schneeleoparden bin ich überhaupt erst in diesem fremden Land gelandet, denn – Achtung: Transparenzhinweis! – der Naturschutzbund hatte mich im Juni auf eine Pressereise eingeladen. Der Nabu hat in Kirgisistan nämlich eine eigene Abteilung, die das edle Tier vor dem Aussterben bewahren will, indem sie oben in den Bergen Jagd auf Wilderer macht.

Kaum noch Schneeleoparden

Doch weil es nur noch etwa 300 kirgisische Schneeleoparden gibt und mich darum eher der Blitz trifft als ich einen wahrhaft wilden Schneeleoparden, versuche ich mir stattdessen ein Bild zusammenzureimen, wie dieses Land so tickt, von dem ich nicht sicher bin, mit wie vielen I oder Y ich es jenseits kyrillischer Buchstaben denn schreiben soll.

Bischkek ist die Hauptstadt und der politisch-wirtschaftlich-kulturelle Mittelpunkt Kirgisistans. Die Stadt liegt ganz im Norden des Landes am Fuße von schneebedeckten, beinahe 5.000 Meter hohen Bergen, in denen die meisten der wenigen verbleibenden Schneeleoparden leben.

Die Hauptstadt wird vom Tschüi Prospekti halbiert, einer Hauptverkehrsachse, die auch schon nach Stalin und Lenin benannt war. Aber das hier ist nicht Russland, jedenfalls nicht zurzeit, man weiß ja nie. Die aktuelle russische Grenze ist 1.500 Kilometer kasachische Steppe entfernt.

Doch da die Russen Bischkek vor 150 Jahren auf einer einstigen Karawanenstation der Großen Seidenstraße gründeten, die Kirgisische SSR bis zu ihrem Zerfall Teil der Sowjetunion war und Russisch bis heute als zweite offizielle Sprache gilt, kann man die Gegenwart Moskaus deutlich spüren, auch wenn die Mehrheit der Kirgisen nicht wirklich Bock auf diese Gegenwart hat, schon gar nicht in Zeiten wie diesen.

Auf dem Tschüi Prospekti

So ragt neben den übertrieben breiten Straßen Sowjetbombast in den wolkenlosen Himmel: das Nationalmuseum, das Haus der Gewerkschaften, die Philharmonie, das Weiße Haus des Präsidenten; alles brutale, klassizistische Architektur hinter palastartigen Fassaden.

Das Mahnmal des Großen Vaterländischen Krieges auf dem Bischkeker Siegesplatz deutet eine Jurte an, die von nur drei Stelen gehalten wird. Die Jurte erinnert an die unzähligen kirgisischen Soldaten, die von den Sowjets im Zweiten Weltkrieg an der Front verheizt wurden. Denn wenn eine Nomadenfamilie den Tod eines Verwandten betrauert, entfernt sie eine der vielen tragenden Stelen ihrer Jurte.

So viele -stans

Unter der stählernen Kuppel des Mahnmals wärmen sich frühmorgens ein paar Kids an der ewigen Flamme auf und wissen nicht, wohin mit sich, bevor die Sonne wieder den Asphalt zum Kochen bringt. Auch auf den sechs bis acht Spuren des Tschüi Prospekti ist fast keiner unterwegs, im Stadtkern trotzt nur die Ehrenwache unter einer gigantischen Nationalflagge der brütenden Hitze. Und ein Polizist, der mich rauchend darauf hinweist, dass hier nicht geraucht wird.

Das kleine Kirgisistan wird vom Westen gern als tapfere Demokratie inmitten der wilden Autokraten Zentralasiens gefeiert. Doch eingeklemmt zwischen China und einer Handvoll weiterer Länder mit „-stan“ hinten dran scheint das mit der Demokratie gar nicht so einfach zu sein für die noch so junge Nation, wie mir ein paar Nabu-Mitarbeiter mit guten Englischkenntnissen bei ein oder zwei Wodka erklären.

Die Freiheit scheint für Chaos zu sorgen, und immer, wenn gewählt wird, zündet irgendjemand das Parlamentsgebäude an. Zuletzt stand es vor zwei Jahren in Flammen, erzählen sie. Der alte Präsident wurde fortgejagt und ein anderer eingesetzt, den dessen Anhänger am Vortag aus dem Hochsicherheitsgefängnis befreit hatten.

Immer das gleiche Spiel

2005, 2010 ähnliche Bilder: Wahlen lösen landesweite Proteste aus, ein Mob stürmt das Weiße Haus und stürzt das Oberhaupt. Dem neuen kirgisischen Präsidenten bleibt dann nicht viel Zeit, seine Brüder, Söhne, Cousins und Neffen in hohe Ämter zu heben und gemeinsam den Staat auszunehmen.

Prompt rollt wieder eine Revolution los, die nach irgendeiner friedfertigen Blume benannt wird. Irgendjemand verspricht das Ende von Korruption und organisierter Kriminalität, und das Spiel geht von vorn los.

Die Kirgisen scheinen sich gern über sich selbst lustig zu machen. Kichernd schenken mir die Jungs die nächsten ein oder zwei Wodka ein und werden nicht müde, jedes vom Tisch gepickte Häppchen sofort nachzulegen. „Dänn-zo-luk-ü-tschin“ oder so ähnlich heißt es dann, auf die Gesundheit, und zwar unentwegt, runter damit, egal zu welcher Tageszeit.

Am Tisch werde ich mit Gruselgeschichten über vermeintliche kulinarische Traditionen aufgezogen, in dessen Showdown ich als Gast bald einen gekochten Hammelschädel spalten dürfe, um dann Augen, Zunge, Hirn und den ganzen Krimskrams darin auf mich und die fröhliche Runde zu verteilen. Tatsächlich wird mir dann aber doch kein Schädel gereicht, sondern eine Schüssel Kymyz, das Nationalgetränk, ein höllisch miefendes Gebräu aus vergorener Stutenmilch.

Am nächsten Tag fahren wir in den Süden an die usbekische Grenze, wo es ländlicher und ärmer wird. Ziel ist Osch, die zweitgrößte Stadt Kirgisistans, jahrtausendealter Handelsknoten und heute großer Drogenumschlagpunkt von Zentralasien.

Dreizehn Stunden geht die wilde Busfahrt durch unbeleuchtete Tunnel, am Straßenrand stehen bunte Moscheen herum, die allesamt ein bisschen wie Hüpfburgen aussehen, und aus dem Radio quäkt ein Smashhit, der von den Fahrgästen im Bus mitgegrölt wird. Rasul Mamatkulow besingt darin ebenfalls seine Reise von Bischkek nach Osch, aber in einem Mercedes. Solange der Motor zuverlässig schnurrt, heißt es in dem Lied, sei nichts weiter von Bedeutung, weder die Liebe, noch die ertragreiche Ernte. Muss er selbst wissen.

Kirgisen sollen Wasser sparen

In den Bergen südöstlich von Osch hat der Nabu gerade eine zweite Einheit von Antiwilderern engagiert, die Jagd auf Schneeleopardenjagende machen. Die Zypressen- und Walnusswäldchen grünen bei meinem Besuch im Sommer um die Wette, ein kristallklarer Bergfluss rauscht ins Tal hinab. Hier und da wähne ich mich glatt in der Schweiz oder in Slowenien, wären da nicht die Geier und Yaks, Jurten und Wacholderhaine. Und die Hitzetage, an denen die Gegend immer öfter bei 40 Grad fiebert.

Natürlich ist auch in Kirgisistan der Klimawandel längst angekommen. Der gigantische Bergsee Yssykköl, größer als zwei Saarlands, schrumpft. Die Seen Komsomolskoye und Pionerskoye im Norden Bischkeks sind seit diesem Jahr trockengelegt. Der darunterliegende Kanal trägt mehr Schlamm als Wasser. Und in den Bergen verliert der Schneeleopard seinen Lebensraum in den schmelzenden Gletschern und wird so nicht zu retten sein, Wilderer hin oder her.

Die Einwohner in den Städten sollen darum nur noch nachts duschen und nachts die Wäsche waschen, erzählt die Frau des kirgisischen Nabu-Chefs. Tagsüber tröpfele nur ein Rinnsal aus den Leitungen. Die Kirgisen sollen Wasser sparen, damit die Felder nicht vertrocknen. Wer kann, flieht in den heißen Tagen aus den Städten ein paar Hundert Meter bergauf, wo es merklich kühler ist.

Ausverkauf Kirgistan

Dort haben viele Familien ihre Jurten aufgebaut, wo sie Essen zubereiten und beisammensitzen, ganz wie in den guten alten Nomadenzeiten – nur sie und die Nachhaltigkeitstouristen, die das originale Nomadenleben gebucht haben.

In Kirgisistan sitzen schon die Kleinkinder auf Pferden. Jeder kann reiten, nur ich nicht, und so hat das Pferd, auf dem ich sitze, nicht wirklich Interesse daran, mich einen Hügel hinaufzutragen. Ein älterer Herr aus der Nachbarjurte hat Mitleid und nimmt mich in Schlepp. Planlos, was ich mit den Zügeln in den Händen soll, krame ich das Telefon hervor, um mich umständlich via Google Translate zu unterhalten.

Die Touristen werden das Land nicht aus der Krise kaufen können, spricht mir der Mann auf Russisch ins Mikrofon und sagt seinem Pferd ein paar Takte auf Kirgisisch, die der Übersetzer und ich nicht verstehen. Es gebe nur ein bisschen Gold und Öl zu exportieren. Dazu etwas Fleisch, Walnüsse und die berühmten Filzhüte. Ausländische Investoren könnten hier deshalb nach Belieben Schnäppchen machen. China baut Raffinerien ins Tienschangebirge, Gazprom hat das hiesige Gasnetz übernommen.

Wenn es früher, zu Nomadenzeiten, mal Ärger gegeben hat, erklärt mir der Mann zuletzt, seien seine Vorfahren einfach auf ihre Pferde gesprungen und davongeritten. Wohin er aber jetzt noch reiten soll, weiß er auch nicht so genau.

Bild und Text: Philipp Brandstädter

Jetzt mal ganz natürlich

Jetzt mal ganz natürlich

erschienen in der taz, die tageszeitung , am 17. Oktober 2020

Zoos versprechen heute, ihre Tiere artgerecht zu halten. Doch wie viel Natur ist dort möglich? Und sind Zoos überhaupt noch zeitgemäß?

Zuerst knipst Boris der Ziege den Kopf ab. Er erledigt das fachmännisch, nahezu lautlos und mit einer Leichtigkeit, die erahnen lässt, wie viel Kraft der Kiefer eines ausgewachsenen Sibirischen Tigers hat. Boris hat keine Eile, er kaut am Genick des toten Bocks herum, mit einer Tatze auf dem Ziegengesicht, als sei ihm der starre Blick unangenehm.

vorgelesen von taz-Leser Rainer Schuppe

Dann richtet er sich auf und verkeilt sich in der Schulter seiner Beute, die immer noch an einem Drahtseil über dem Boden baumelt. Er zerrt an ihrem Kadaver, bis das Fleisch nachgibt. Ein lauter Ratsch ist zu hören, als würde man ein Kleid zerreißen. Ziegeninnereien stürzen mit einem satten Klatschen auf den Rasen. Vor dem Gehege deutet ein kleines Mädchen auf Boris und kichert, ihre Mutter schüttelt angewidert den Kopf. „Ich weiß, das ist ein Tiger, ich weiß, das ist Natur“, sagt sie. „Aber das ist mir einfach zu brutal.“

Blutige Raubtierfütterungen wie diese gehören im Zoo von Dänemarks drittgrößter Stadt Odense zur normalen Besucherbespaßung. Und sie sind in einem Jahr, in dem es coronabedingt nur wenige Unterhaltungsmöglichkeiten gibt, eines der wenigen verbliebenen Freizeitangebote.

Vor einer Woche stand Säbelantilope auf dem Speiseplan, diesmal der Ziegenbock, mit dem die Kinder keine zwei Stunden zuvor noch im Streichelzoo geschmust haben. Der Bock musste sterben, weil er sonst Mutter und Schwestern gedeckt hätte und das Gehege zu voll zu werden drohte. Eine solche Tötung ist für Dänemarks Zoos ein üblicher Vorgang, hier gibt es keine Geburtenobergrenzen, die Vermehrung wird im Nachhinein reguliert.

Grausame Natur

Und eigentlich ist es ja auch sinnvoll, das Fleisch aus dem Zoo auch im Zoo zu verfüttern. Die Wege sind kurz, die Innereien haben viele Nährstoffe und die Raubtiere sind besser beschäftigt, als wenn man ihnen mundgerechte Steaks ins Maul wirft. „Wir zeigen die Natur so echt, wie wir können“, sagt Zoodirektor Bjarne Klausen und hebt vor dem Tigergehege ein zerknülltes Butterbrotpapier vom Boden auf. „Doch die Natur ist manchmal grausam.“

Mit grausamer Natur haben wir Menschen es aber oft nicht so. Wenn wir ehrlich sind, wollen wir gar nicht so genau wissen, wie sie wirklich ist. Wir mögen es lieber romantisch, und bitte nicht so eingepfercht wie es früher war, als man die exotischen Tiere noch in viel zu kleinen Käfigen hielt. Geräumig, luftig und artgerecht soll es heute sein und der Ausflug in den Zoo zum Wohlfühlerlebnis für Mensch und Tier werden. Ein anspruchsvoller Wunsch – und die zoologischen Gärten versuchen, diesem Wunsch zu entsprechen.

Dabei hatten sie früher mal einen anderen Auftrag, nämlich den, Sensationen zu zeigen. Doch heute dreht sich alles um den Artenschutz. Die Zoobetreiber sagen, sie halten Tiere, um sie vor dem Aussterben zu bewahren und um uns Besuchern die Natur nahe zu bringen. Weil wir nur schützen würden, was uns wichtig sei, und nur das wichtig, was uns nah und vertraut ist. An die 800 Zoos gibt es allein in Deutschland und damit mehr Tierparks als in jedem anderen Land. Jede Menge Einrichtungen also, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Tiere artgerecht zu behandeln.

Aber woher wissen wir, wie Tiere behandelt werden wollen? Und geschieht das alles wirklich in ihrem Sinne? Oder gar in unserem eigenen?

Was wollen wir?

Das Verfüttern von ganzen Schmuseziegen, Pferden und Rindern, Zebras oder Gnus, wie im dänischen Odense Zoo üblich, findet hierzulande deutlich seltener und eher hinter den Kulissen oder nach den Öffnungszeiten statt. Überhaupt bekommen die Raubkatzen in deutschen Zoos vorwiegend Geflügel, Kaninchen oder bereits zerlegte, größere Tiere. Für eine Keule oder ein Stück Rücken haben wir schließlich weniger Mitgefühl übrig als für eine ganze Ziege – das kennen wir von der Fleischtheke.

Und selbst die Dänen machen nicht alles mit. Spätestens bei Affen, einer natürlichen Nahrungsquelle von Tigern, sei auch deren Schmerzgrenze erreicht, sagt Odenses Zoodirektor Bjarne Klausen. „Einen Makaken verfüttern, das würden unsere Gäste nicht mitansehen wollen.“

Aber wenn wir zwar echte Tiere, doch die Natur in ihrer Echtheit nicht wollen, was wollen wir stattdessen?

Unter dem Namen „Zoo der Zukunft“ entsteht im Norden von Leipzig ein moderner Entwurf unserer Wunschnatur. Gleich nach dem Tiergarten Schönbrunn in Wien belegt er schon jetzt Platz zwei der besten Zoos in Europa. „Wir wollen Tierarten erhalten und den Leuten Naturerlebnisse bieten“, sagt Jörg Junhold, der den Leipziger Zoo seit 1997 leitet. Er schlendert über die Baustelle in der Nähe des Eingangs, wo bis zum nächsten Jahr ein großzügiges Aquarium entstehen soll. Die geplanten Elemente zeichnet er mit beiden Händen in die Luft: vorn der Koi-Teich, hier der Quallenkreisel, dahinter das Tiefseebecken. Es folgt eine kleine Werbeeinlage: „Unsere Besucher tauchen in den Lebensraum der Tiere ein. Bei uns erleben sie die Tiere als Botschafter der Wildnis, nicht als Statisten in einer Show.“

Augenmerk auf den Tieren

Mehr als 100 Millionen Euro hat Junhold für die Umgestaltung seines Zoos investiert. Sechs Themenwelten gibt es bereits, darunter eine riesige Tropenhalle namens „Gondwanaland“ und die angeblich weltgrößte Affenanlage „Pongoland“.

Jetzt sollen neben dem Aquarium noch ein Feuerland mit Unterwassertunnel und eine asiatische Inselwelt mit neuen Volieren entstehen. „Wir bauen mit naturnahen Materialien, schaffen großzügigere Rückzugsorte“, erklärt der Direktor. Und dann sagt er noch etwas Interessantes: „Das Hauptaugenmerk bei der Umgestaltung liegt auf den Tieren, weniger auf unseren Besuchern.“

Die Besucher sollen natürlich immer noch Tiere beobachten können, aber die Art und Weise ihrer Zurschaustellung hat sich geändert. Kein Mensch würde sich heute freiwillig die im 18. Jahrhundert übliche Tierhaltung ansehen wollen, wie sie etwa in der Schönbrunner Menagerie in Wien praktiziert wurde. Der Kaiser hatte dort Elefanten, Bären und Großkatzen hinter die grünen Gitterstäbe winziger Pavillons geklemmt. Seinem Beispiel folgten andere europäische Großstädte, mit dem fragwürdigen Ziel, möglichst viele, möglichst exotische, möglichst gefährlich wirkende Tiere auf engstem Raum zu präsentieren. Sensationen zum kleinen Preis.

Damit die lebenden Ausstellungsobjekte nicht allzu schnell dahinsiechten, änderte man mit der Zeit die Zooarchitektur. Die Bauten wurden funktionaler, hygienischer, hässlicher und die Tiere starben nun nicht mehr hinter Schmuckzäunen, sondern in leicht zu reinigenden, gefliesten Zellen. Das ging eine Weile so dahin, bis Carl Hagenbeck Anfang des 20. Jahrhunderts in Hamburg-Stellingen einen Tierpark eröffnete, der neue Maßstäbe setzte mit seinen großzügigen Freianlagen und der meisterlich angelegten „wilden“ Natur.

Weg mit den Gittern

Die meisten Zoos folgten seinem Beispiel, fortan sollten die Menschen echtes Tierleben statt bloß Tiere sehen. Doch die Tierhaltung war in vielen Belangen unzureichend, wegen zu wenig Geld oder zu wenig Erfahrung. Die Zoos zeigten so viele Tierarten wie möglich. So blieb für die Tiere nur wenig Platz und für das Personal nur wenig Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen. Die Folge: physische und psychische Krankheiten, Wunden und Verhaltensstörungen. Die Bären, Elefanten und Großkatzen wirkten gestresst, verletzten sich selbst, liefen ihr Gehege auf und ab.

Heute gehören diese traurigen Zeiten der Vergangenheit an, jedenfalls fast. Stephan Hering-Hagenbeck, Carl Hagenbecks Schwiegerenkel, wechselte Anfang des Jahres vom Hamburger Tierpark Hagenbeck nach Wien. In der Hansestadt war er für die großen Panoramen und Grabenanlagen verantwortlich gewesen, für das Tropenaquarium, die Elefantenfreilaufhalle, das Eismeer. Im Tiergarten Schönbrunn krempelt er nun den ältesten Zoo der Welt um. Die grünen Gitterstäbe müssen allerdings bleiben, die stehen unter Denkmalschutz.

Links vom Restaurant im Kaiserpavillon betrachtet Hering-Hagenbeck den Geparden durch das grüne Gitter. Die Katze putzt sich in ihrem Gehege, das ein bisschen nach einem zugewucherten Schrebergarten aussieht. „Schönbrunn ist tief in der Kultur der Stadt verwurzelt“, sagt der neue Direktor. „Wir müssen mit der Umgestaltung behutsam umgehen.“ Er spricht von „Land­scape Immersion“, so nennt sich das, wenn man dem Besucher glauben machen will, sich in der natürlichen Umgebung des Tiers aufzuhalten.

Dazu bedarf es einiger architektonischer Kniffe: Steine oder Pflanzen als natürliche Begrenzungen, versteckte Gräben, verschlungene Pfade. Der Hagenbeck’schen Idee sind da alle Gitter und Wände im Weg. Aber das sei eher das Problem unseres ästhetischen Empfindens, sagt er, nicht das Problem des Tieres. „Wir schaffen mehr Platz, wir bieten Verstecke, wir setzen naturnah um und versuchen, unseren Besuchern die Zusammenhänge des Lebens so besser begreifbar zu machen.“

Mehr Safari

Wie bei der Eisbärenwelt, wo die Leute über mehrere Terrassen Bärenmama Nora und ihr Jungtier beobachten können. Oder auch mal minutenlang gar nichts sehen, wenn die beiden sich vor den neugierigen Blicken verstecken. Die Verweildauer vor den Gehegen ist eine wichtige Währung in der Zooplanung. Die Menschen sollen sich Zeit nehmen für ihren Besuch, sagt Hering-Hagenbeck. Sie sollen suchen, entdecken und dabei auch noch etwas lernen, über den Umgang mit der Natur, und was wir dem Planeten antun.

So verwandeln sich die Zoos gerade in irgendetwas zwischen Freizeitpark und Schutzstation. Nicht nur in Wien und Leipzig ist das so, sondern überall, wo sich Zoos ein teures Make­over leisten können. Im Tierpark Berlin entsteht in den nächsten zwei Jahren eine riesige Elefantenanlage, direkt daneben wurde gerade das alte Alfred-Brehm-Haus neu eröffnet. Die ehemalige Tropenhalle ist nun ein Regenwald, in dem man nicht nur Tiere angucken kann, sondern auch etwas über bedrohte Lebensräume, Rodungen und Palmölplantagen lernen soll. Und der Zoo Krefeld plant nach einer Brandkatastrophe zu Silvester einen Affenpark, in dem sich alles um den Artenschutz dreht, während Hannover fortwährend seine Afrikalandschaft erweitert, wo man die Flusspferde, Antilopen und Marabus vom Boot aus beobachten kann.

Wir gehen also künftig mehr auf Safari als in einen Zoo und wollen dort echte, gesunde und glückliche Tiere erleben, sofern das in menschlicher Obhut überhaupt möglich ist. In echter, natürlicher Umgebung, aber ohne dänische Grausamkeiten, versteht sich. Ach, wie sehr sind wir doch von den Tieren abhängig, die uns als Nahrungsquelle, Kleiderspende, Kuschelersatz und Entertainer dienen. Manche Menschen meinen, es sei unser gutes Recht, sie als Ressource zu nutzen, andere sagen, wir haben überhaupt kein Recht dazu. Die meisten aber sehen einen gewissen Spielraum darin, wann es okay ist, sie zu halten, und wann nicht. Dass es dabei oft mehr um unsere eigenen Bedürfnisse als um die Bedürfnisse des Tiers geht, wird da gern mal übersehen.

VdZ-Zoos mit Tierschutzstrategie

Wie man Wildtiere korrekt halten soll, beschreibt der Weltverband der Zoos und Aquarien in seiner Tierschutzstrategie. Der Kern der Strategie ist ein Modell, demzufolge sich die vier physischen Faktoren „Ernährung“, „Umwelt“, „Gesundheit“ und „Verhalten“ auf den fünften Faktor, den mentalen Zustand, das Wohlbefinden des Tiers auswirken.

„Die modernen Zoos, die Erfahrung mit Wildtieren haben, mit der Forschung zusammenarbeiten und über das nötige Geld verfügen, machen ihren Job in vielen Bereichen gut. Alles andere wäre auch nicht wirtschaftlich, weil der aufgeklärte Zoobesucher entsprechende Erwartungen hat“, sagt James Brückner vom Deutschen Tierschutzbund. Aber: „Trotzdem gibt es in jedem Zoo viel zu verbessern.“ Immerhin würden sich die Zoos unter dem Dach des Verbands der Zoologischen Gärten (VdZ) an die Mindestanforderungen halten, die Medizin und Tierpflege gemeinsam mit dem Tierschutzbund erarbeitet haben. Die vielen hundert deutschen Einrichtungen jenseits der 71 VdZ-Zoos täten hoffentlich dasselbe.

Natürlich gebe es unterschiedliche Auffassungen darüber, was die fünf Faktoren der Tierschutzstrategie in der alltäglichen Praxis genau bedeuten, räumt der Tierschutzexperte ein. So würden Fachleute etwa darüber streiten, ob Vögel darunter leiden, wenn man ihnen die Federn stutzt. Eine bei Flamingos, Pelikanen, Kranichen, Gänsen und Enten durchaus übliche Praxis, bei der die Schwungfedern zweimal im Jahr einseitig an einem Flügel gekürzt werden, erzählt Brückner. Dadurch fliege der Vogel so schief, dass er lieber gleich am Boden bleibe. Wie sehr ihn das in seiner Lebensweise einschränkt, versuchen Studien gerade zu beantworten, aus Sicht des Tierschutzbunds ist diese Form der Haltung inakzeptabel.

Problematisch sei früher auch die Elefantenhaltung gewesen, sagt Brückner. Denn die Dickhäuter seien meist aus mehreren Herden zusammengewürfelt worden und hätten deshalb einen menschlichen Chef gebraucht – der sich mit einem Elefantenhaken durchsetzte. Heute hätten sich die meisten Zoos zum Glück auf den geschützten Kontakt verständigt, die Pfleger arbeiteten nicht mehr im Gehege, sondern auf der anderen Seite der massiven Gitterstäbe.

Wie viel Platz?

Aber natürlich ist da noch die Platzfrage. Ein Löwe auf der Jagd streift kilometerweit durch die Savanne, hat er seine Beute gefangen, bewegt er sich keinen Zentimeter mehr von ihr weg. Würde er auch ohne Hunger umherlaufen, einfach, weil er so gern spazieren geht? Katzen sind energieeffizient, jenseits des Fressens verschlafen sie den Tag, die Großen in der Wildnis unter den Bäumen, die Kleinen daheim auf der Fensterbank.

Wie viel Platz also braucht ein Tier in Gefangenschaft? „Es gibt Studien dazu, wann Tiere verhaltensauffällig werden“, sagt Brückner. „Bei Großkatzen gelten Gehege unter 500 Quadratmetern als problematisch, allerdings stammen die Untersuchungen meist von den Zoos selbst und sind damit wenig kritisch.“

Alles wäre leichter, wenn wir das Tier selbst fragen könnten, aber das geht natürlich nicht, und ohne tierische Antwort beginnen wir, Analogien zwischen Mensch und Tier herzustellen. Wir beurteilen es nach unseren Maßstäben, verleihen ihm menschliche Züge, denn andere kennen wir nicht. Bei den deutschlandweit rund 45 Millionen Zoobesuchen im Jahr fragen wir uns hin und wieder, ob sich die Zootiere vielleicht gefangen oder begafft fühlen, ob sie sich nach Freiheit sehnen, ob sie vermissen, ob sie trauern. Wir schauen in ihre Augen, versuchen, uns selbst darin zu erkennen – und scheitern.

Aber vermutlich ist es gerade diese fehlgeleitete Identifikation mit dem Zoo­tier, die ein viel größeres Verständnis für seine Bedürfnisse hervorzurufen vermag, als es all die pädagogischen Angebote eines modernen Zoos mit seinen Schautafeln und Lernboxen, kommentierten Fütterungen und Unterrichtseinheiten je könnten.

Neuer Weg: Vergesellschaftung

Wenn überhaupt. Tierschutzexperte Brückner bezweifelt, dass da wirklich etwas hängen bleibt. „Der Großteil der Besucher interessiert sich nicht für Hintergründe“, sagt er. Keine Untersuchung habe bisher gezeigt, dass jemand nach einem Zooausflug sein Leben änderte. Vielmehr würde der Besucher im Durchschnitt weniger als eine Minute vor einem Gehege verweilen, viel Zeit zum Lesen bleibe da nicht.

Im Leipziger Zoo steht ein Ehepaar deutlich länger als eine Minute vor dem Gemeinschaftsgehege von Nashorn und Gepard. Allerdings nicht, um die Infotafel zu studieren, sondern weil es auf den perfekten Selfiemoment mit den Tieren wartet.

Dann fragt die Frau Jörg Junhold, ob sich das Nashorn denn mit den Geparden vertrage, man würde ja gar keine Zäune sehen. Der nickt und antwortet im besten Zoodirektordeutsch: „Vergesellschaftung fördert das Wohlbefinden der Tiere. Es ist neben Spielen und Futterverstecken eine von vielen Möglichkeiten der Beschäftigung.“ Deshalb setzt es sich auch immer mehr durch, zwei oder mehrere Tierarten in einem Gehege zu halten. In Leipzig teilen sich unter anderem Giraffen, Zebras, Antilopen und Strauße die Kiwara-Savanne und die Löffler, Sichler und Flamingos die Lagune.

Auch in Odense wurde vergesellschaftet, allerdings nicht ohne bösen Zwischenfall. Nachdem sich der dänische Zoo 2011 dazu entschieden hatte, überhaupt keine Vögel mehr zu beschneiden, hatte er mehrere Vogelarten in einem Fluggehege untergebracht. Als Erstes gingen die Seriemas auf die Scharlachibisse los – schlussendlich musste sich der Tierpark von einigen Arten trennen. Und wirklich fliegen wollten die übrigen Vögel bis heute nicht, erzählt Direktor Bjarne Klausen während des Besuchs. Nur die Pelikane drehten jeden Morgen eine kleine Runde, die Flamingos würden sich die Mühe gar nicht erst machen.

Eine Gruppe besorgter Kinder bittet Klausen, ob er mal drüben ins Ocea­neum gucken könne. Ein Pinguin sehe so aus, als seien seine Füße auf dem Eis festgefroren. Klausen schmunzelt, geht aber trotzdem gucken. Er trabt durch die Moorlandschaft über den Holzsteg, vorbei an einem Insektenhotel. Tiger Boris hat von seiner Ziege nicht viel übrig gelassen, ein roter Kater am Wegesrand beobachtet die Giraffen.

Das Drama um Marius

Giraffe, Zoo, Dänemark – war da nicht was? 2014 empörte der Kopenhagener Zoo die Welt, als er den gesunden Giraffenbullen Marius aus Platzmangel erschoss und verfütterte. Die sozialen Netzwerke rasteten aus, die Zooleitung bekam Morddrohungen. In Odense war kurz zuvor ein Löwe getötet und vor Publikum zerteilt worden. Groß aufgeregt hatte sich niemand. „Kopenhagen hat den Fehler gemacht, an die Öffentlichkeit zu gehen, als Marius noch gelebt hat“, sagt Klausen. Außerdem habe man der Giraffe einen Namen gegeben, das hätte bei den Leuten Gefühle geweckt.

Auch jetzt liegt wieder ein toter Löwe im Kühlfach in Odense. „Er hat die Jungtiere angegriffen und wurde immer aggressiver“, nennt Klausen als Grund. In der Natur wäre er deshalb verstoßen worden, im Zoo hat man ihn aus mangelndem Platz und fehlender Vermittlungsmöglichkeit nun umgebracht. Und er ist nur einer von vielen getöteten Zootieren in Dänemark. Seit Jahrzehnten schneiden dänische Tiermediziner die Bäuche toter Raubkatzen, Gazellen, Tapire und Kamele auf, versenken ihre Arme in Darmschlingen und halten Organe in die Luft, während sich Schulkinder die Nase zuhalten und erblassen.

Was in Dänemark als Anschauungsunterricht gilt, ist in Deutschland unvorstellbar. Den meisten hierzulande wäre vermutlich schon eine vom Baum hängende Ziege zu viel, die von einem Tiger zerfetzt wird. Das „Ob“ und „Wie“ von Tierhaltung berührt unser ethisches Empfinden, es ist ein ständiges Abwägen von Argumenten, die emotional aufgeladen sind. Wenn wir uns gegen die Nutzbarmachung von Tieren positionieren, können wir uns moralisch überlegen fühlen. Wir achten Tiere, um Menschen zu ächten: all die Jäger und Kammerjägerinnen, die Grillmeister, Lederfans, Zirkusgänger, Angelfreunde, Reitsportler und Kaninchenzüchter.

Die Tiere baden das aus

Nur sind unsere Standpunkte selten logisch oder konsequent. Wenn wir zwischen niedlichen und weniger niedlichen Tieren unterscheiden zum Beispiel. Oder zwischen Tieren, die wir essen und die wir nicht essen. Oder wenn wir festlegen, wie viel Natur wir tatsächlich vertragen: Natur ja, aber bitte ohne Kämpfe, Hunger, Krankheit und Tod, die unseren romantischen Vorstellungen widersprechen. Letzten Endes wollen wir nur eine schöne Inszenierung sehen – und die Tiere baden das aus. Sollten wir deshalb nicht besser gleich alle Zoos abschaffen?

Kommt darauf an, ob man zoologische Gärten als Arche oder als Titanic betrachtet. Der Zoologische Garten Berlin ist der älteste Zoo Deutschlands – und der artenreichste der Welt. Schon 1844 wurden hier wilde Tiere gehalten, erst in Massen und mit wenig Erfahrung, dann mit besseren Kenntnissen. Doch auch in Berlin geht der Trend zu mehr Platz. Nach und nach werden versiegelte Flächen geöffnet, Gitter abgebaut und Arten abgegeben, ein paar Vögel und Fische weniger werden die Gäste schon verschmerzen können.

Unter der Leitung von Andreas Knieriem wurden in den vergangenen Jahren etliche Anlagen saniert oder werden gerade neu gebaut: im Zoo der Adlerfelsen, die neue Pandaanlage, aktuell das Raubtierhaus. Im Tierpark, für den Knieriem ebenfalls verantwortlich ist, die Dschungelwelt im Alfred-Brehm-Haus, die Elefantenanlage und bald eine riesige Vogelvoliere.

An diesem Tag steht der Zoodirektor vor dem Bärenfelsen im Tierpark in Berlin-Friedrichsfelde, wo Eisbärmädchen Hertha mit einer Boje im Schwimmbecken kämpft. „Sie ist jetzt schon zwei Jahre alt und spielt immer noch“, erzählt Knieriem und freut sich. Hertha und ihre Mutter Tonja würden gut fressen und viel schlafen, alles Anzeichen dafür, dass sie sich wohlfühlten. „Bei uns soll es den Tieren gutgehen. Wir wollen Bewunderung für sie wecken, kein Mitleid“, sagt er. „Mitleid brauchen die Wildtiere, die gerade ihren Lebensraum verlieren.“

Hertha wird die Hauptstadt übrigens bald verlassen. Das länderübergreifende Erhaltungszuchtprogramm des europäischen Zooverbands EAZA wird die Bärin an einen anderen Zoo vermitteln, damit sie sich dort paart und Junge bekommt. Dann könnte auch Vater Wolodja nach Friedrichsfelde zurückkehren und mit Tonja für den nächsten Eisbärbabyhype sorgen.

Für die Zucht vernetzt

An die 300 Zoos sind im EAZA vernetzt, um bedrohte Tierarten zu züchten und Lebensräume zu schützen. Durch die Zusammenarbeit soll der Genpool besser durchmischt werden, mit mehr Forschung und ohne Wildfang, der seit den Siebzigerjahren durch das Washingtoner Artenschutzübereinkommen verboten ist, zumindest was Säugetiere angeht. Um die 150 Arten will die EAZA durch koordinierte Zucht gerade erhalten, geklappt hat das unter anderem bei Wisent, Säbelantilope, Löwenäffchen, Riesenotter, Sumpfschildkröte und Przewalski-Pferd.

Klingt viel, ist aber ganz schön wenig, verglichen mit den geschätzten 100 Tierarten, die jeden Tag aussterben. Vier Millionen Euro stecken die Zoos des Verbands der Zoologischen Gärten jährlich in Artenschutzprojekte, weltweit sind es knapp 300 Millionen – da ist Luft nach oben. „Lange Zeit hatten wir keinen finanziellen Spielraum über die Grenzen unserer Gehege hinaus“, sagt Andreas Knieriem. „Inzwischen investieren wir in deutlich mehr Artenschutzprojekte, aber wir brauchen Zeit.“ Mittlerweile beteilige sich sein Zoo zumindest an den Erhaltungsprogrammen bedrohter Tiere, die auch in Berlin gezeigt werden: Knapp 1.400 Arten mit insgesamt 20.000 Tieren beherbergen Zoo und Tierpark zusammen, mehr als ein Drittel gilt als bedroht.

In der freien Natur leben überhaupt nur noch 4 Prozent aller Säugetiere und ein Drittel aller Vögel, den Rest hält der Mensch im Stall, auf der Weide, zu Hause oder im Wald – und eben in den zoologischen Gärten. Wenn wir die Zoos abschaffen, retten wir nicht die Tiere, sondern höchstens unsere Moral.

„Tierarten lassen sich nur noch bewahren, indem der Tierschutz eingreift“, sagt auch Zoodirektor Knieriem. Und das passiert bei wilden Tieren nun mal vorwiegend im Zoo. Jenseits davon haben sie meistens keinen Platz mehr, den braucht der Mensch für seine Städte, Felder und Müllhalden.

So unromantisch es auch klingt: Ohne den Menschen wird sich die Tierwelt nicht mehr vom Menschen erholen.

Text und Bild: Philipp Brandstädter

Lockdown als Staatsform

Lockdown als Staatsform

erschienen in der taz, die Tageszeitung, am 9. Mai 2021

Wir waren nur ein paar Monate in so etwas wie einem Lockdown. Nacktmulle sind es immer. Von ihnen kann der Mensch lernen – über Gesundheit und das Altwerden.

Keiner rein, keiner raus. China hat es schon Anfang letzten Jahres bewiesen, Spanien Ende März: Ein harter Lockdown bringt’s. Denn wer sich wegschließt, fängt sich keine Keime ein. Was unsereins derzeit hochgradig an die Nieren geht, machen Nacktmulle schon immer so – und sind deshalb für die Wissenschaft hochgradig interessant, nicht erst seit Corona. Was Gesundheit und Altwerden betrifft, sind uns die rattenähnlichen Tiere nämlich viele Schritte voraus.

Nacktmulle leben unter der Erde Ostafrikas, in langen Tunnelsystemen. Sie hören nicht viel, sehen nicht viel – und auch nicht sonderlich schön aus. Aber man sieht sie ja sowieso nicht. Nur die paar Exemplare, die im Zeichen der Wissenschaft durch Acrylglasröhren watscheln, etwa im Keller des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin, bekommen Menschen zu Gesicht. Dort gehen die Tiere in gut gewärmten Glaskästen ihren Nacktmullgeschäften nach. Ein Stück Süßkartoffel von hier nach dort tragen. Ein bisschen Möhre von dort nach hier.

In Laboren wie diesen fand man zum Beispiel heraus, wie sozial diese erstaunlichen Säugetiere organisiert sind. Nacktmulle leben in Staaten, wie wir es sonst nur von einigen Insekten kennen. In einer Kolonie mit bis zu 300 Tieren arbeiten Soldaten, Bauarbeiter, Ammen, Reinemachkräfte – angeführt von einer Königin.

Thomas Hildebrandt ist seit Mitte der Neunziger Nacktmullfan. „Ich habe eine trächtige Königin mit Ultraschall untersuchen dürfen“, erzählt der Wissenschaftler. „Damals war mir noch nicht klar, was für Sonderlinge das sind.“ Die allererste Kolonie hat Hildebrandt 2008 nach Berlin gebracht. Von Kollegen aus Albuquerque, New Mexico, im Tausch gegen ein Elefantenbaby. Oder besser gesagt: im Tausch gegen die erfolgreiche Besamung einer Elefantenkuh. Diese kostbare aller­erste Königin musste nun abdanken.

Zwanzig Jahre hat sie mit eiserner Hand regiert. Sie ging über Leichen, um ihren Thron zu verteidigen. Dann wurde sie um die Ecke gebracht – ohne große Gegenwehr. Ein gezielter Biss in die Wirbelsäule besiegelte ihr Schicksal. Thomas Hildebrandt hat schon wesentlich größere Blutbäder erlebt. „Offenbar hatte die Königin keine Verbündeten mehr an ihrem Hof“, sagt der Tiermediziner. „Sie war ja auch schon sehr alt.“ Das Staatsoberhaupt hatte kaum noch Backenzähne.

Zähne wachsen außerhalb der Schnauze

Ordentliche Zähne brauchen Nacktmulle aber. Zum Fressen, zum Schleppen, zum Kämpfen und natürlich zum Graben. Dafür tragen sie ihre gewaltigen Schneidezähne außerhalb ihrer Schnauze. „Was wirklich praktisch ist“, sagt Hildebrandt, „wenn man beim Buddeln nicht ständig auf Dreck herumkauen will.“

Nach dem Sturz der Königin herrschte eine Woche lang Anarchie. Thomas Hildebrandt hatte keine Ahnung, welche Mullin die Thronfolge übernehmen würde. Erst ein Ultraschall gab Aufschluss: Die Königsmörderin selbst führt das Matriarchat nun an. Das einzige Tier, das eine leichte Wunde an der Schnauze davongetragen hatte, ist trächtig.

Unter dem Boden der Savannen und Steppen blieben Nacktmulle die längste Zeit unbemerkt. Die Tiere sind unter Tage sicher in ihren Bauten, ohne Kontakt zur Außenwelt. Harter Lockdown, für immer. Bei den äthiopischen Süßkartoffelbauern sind die Tiere als unheimliche Teufel bekannt. Nicht etwa, weil sie ihnen die Ernte wegfressen würden. Im Gegenteil, die cleveren Mulle nagen Knollen und Wurzeln immer nur so weit an, dass sie auch wieder nachwachsen. Stattdessen versetzen die kleinen Nager die Landwirte in Angst und Schrecken, weil sie versehentlich ihre Kamele umbringen.

Kein Scherz. Nacktmulle graben mit ihren Zähnen, und das ziemlich schnell und rabiat. Wenn sie sich mit ihren Hauern in Richtung Erdoberfläche beißen, erwischen sie ab und an auch mal einen dort herumdösenden Paarhufer. Und weil die Zähne der Nacktmulle dermaßen mit Bakterien verseucht sind, fangen sich die Kamele lebensgefährliche Blutvergiftungen ein.

Lange Zeit hatte die Wissenschaft keinen blassen Schimmer von den Mullen. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie von einem deutschen Biologen beschrieben. Allerdings dachte der, dass es sich um Jungtiere anderer felltragender Nager handeln würde. Über hundert Jahre später wurden die Nacktmulle sozusagen zum zweiten Mal ent­deckt. Seitdem werden die Geheim­nisse dieser Tiere nach und nach gelüftet.

Privileg, sich nicht anpassen zu müssen

Thomas Hildebrandt sitzt in seinem Büro vor dem Rechner und zeigt Videos, die er in Äthiopien aufgenommen hat. Eines zeigt die Farmer und ihre Felder mit ein paar Löchern im rotbraunen Boden. Auf einem anderen ist die Erde zu sehen, wie sie in hohem Bogen aus den Löchern katapultiert wird. Viel mehr Hinweise auf die Nacktmulle sind über Tage nicht einzufangen.

Dann folgt ein Video aus dem Inneren eines Mulltunnels, das der Forscher mit einem Endoskop gefilmt hat. Die Nacktmulle halten das Instrument für eine Schlange, ihre einzige Fressfeindin. Man kann sehen, wie ein großer, dicker Nacktmull an die Front geschickt wird. Er stellt sich dem Endoskop in den Weg. Seine Artgenossen verschließen hinter ihm den Gang. Der Dicke greift das Endoskop an, bereit, sich für sein Volk zu opfern. Hildebrandt tritt mit seinem teuren Messinstrument den Rückzug an.

Die Mulle im Labor des Berliner IZW müssen keine Schlangenattacken abwehren. Sie tapsen durch die durchsichtigen Röhren, mit Chips unter der Haut, durch Lichtschranken registriert und von Kameras überwacht. So wollen die Forschenden mehr über das Sozialverhalten der Tiere lernen. Inzwischen sind die meisten Rollen und Aufgaben bekannt. Wer den Bau sauber hält, wer Nahrung beschafft, wer sich um den Nachwuchs kümmert, wer die Königin besteigen darf. Manche Nacktmulle dienen als lebende Wärmekissen. Wird es den anderen zu kühl, rennen sie ein paar Runden um den Block und heizen dann, außer Puste, mit ihrer eigenen Körperwärme das Nest wieder auf.

Besonders faszinierend ist aber die Königin. Steigt ein Weibchen zum Staatsoberhaupt auf, verändert es sein Äußeres. Die Haut wird heller, manche Knochen beginnen zu wachsen. „Sie produziert ständig Biomasse und wird immer länger“, erklärt Hildebrandt. So passen gut zwei Dutzend Babys in die Königin. „Sie bricht biologische Gesetze. Wir haben noch längst nicht alle Zusammenhänge begriffen.“

Der grundlegende Ursprung der biologischen Andersartigkeit könnte im harten Lockdown liegen. In ihren Tunneln müssen sich die Nacktmulle nicht an veränderte Umwelteinflüsse gewöhnen, während sich der Mensch und die meisten anderen Lebewesen ständig anpassen müssen. Wir tun das, indem wir unser Erbgut mischen und neu ausrichten. Wir produzieren neue Generationen. Die können sich dann mit den neuen Bedingungen da draußen herumschlagen. Rein biologisch gesehen ist unser Lebenssinn danach vorbei. Bei den Nacktmullen ist das anders. Sie genießen das Privileg, sich nicht anpassen zu müssen. Sie können es sich leisten, lange zu existieren.

Quasi Methusalem

Tatsächlich können Nacktmulle unheimlich alt werden. Gut zwei bis drei Jahrzehnte sind es. Verglichen mit anderen Nagetieren wie Meerschweinchen, Hamster und Ratte ist der Mull quasi Methusalem, und das ganz ohne Alterserscheinungen. Offenbar können Nacktmulle ihre Zellen besser und länger reparieren, auch die gebildeten Proteine bleiben stabil. Kommt hinzu: Eine langkettige Blutzuckerverbindung, die Zellen daran hindert, sich in Krebszellen zu verwandeln, bleibt in den kleinen Nagern konstant hoch. Nacktmulle sterben höchstens im Säuglingsalter, weil sie nicht genug Futter abbekommen, oder später an Bisswunden, aber nicht an Krebs oder Infekten.

Darüber hinaus haben sie ein vermindertes Schmerzempfinden. Sie nehmen äußere Reize wie Hitze oder Bisse zwar wahr, jedoch scheint der Schmerz auszubleiben, da in der Haut das dafür verantwortliche Molekül fehlt. Kurzum: Was sich auf zellularer Ebene in den Nacktmullen abspielt, geht in Richtung Superheldenkräfte.

Inzwischen sei der Nacktmull zum Star am biomedizinischen Forschungs­himmel aufgestiegen, sagt Thomas Hildebrandt. Etliche Institute auf der ganzen Welt forschen an den Tieren; die einen tauschen ihre Ergebnisse aus, die anderen nicht.

Im Verborgenen bleibt etwa die Mullforschung von ­Googles Biotech-Unternehmen Calico, das menschliches Altern untersucht. Die Forscher hoffen, die mullischen Mechanismen zu durchschauen und auf unsere Körper zu übertragen. Aber bis klar ist, wie das funktioniert mit Krebs heilen, Knochen wachsen lassen, und die Lebensdauer verzehnfachen, dauert es wohl noch eine Weile.

UND HIER NOCH WAS ZUM LERNEN:

Gegen den Krebs

Von Krebs sprechen wir, wenn Zellen außer Kontrolle geraten und nicht mehr das tun, was sie eigentlich tun sollen. Stattdessen wachsen sie lieber enorm. Je mehr Zellen ein Organismus hat und je älter dieser wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Zellen irgendwann derartigen Unfug tun. Bei Nacktmullen jedoch sind nach Jahrzehnten der Forschung kaum Krebserkrankungen beobachtet worden. Jedenfalls nicht in den Laboren, die Nacktmullkolonien halten.

Deshalb untersuchten Forschende der University of Rochester in New York, Shanghai und Haifa sowie etwas später auch die Cambridge Universität und das Leibniz-Institut in Berlin die ungewöhnliche Krebsimmunität der Tiere. Die Ursache ihres Anti-Krebs-Mechanismus scheint in den Zellen im mullischen Bindegewebe zu liegen, den Fibroblasten. Sie spielen eine wesentliche Rolle bei der Wundheilung. Diese Zellen stellen sehr langkettige Moleküle an Hyaluronsäure her. Diese Ketten schnüren sich um Zellen und halten sie von Dummheiten ab. Etwa daran, ungewöhnlich stark zu wachsen.

Hyaluronsäure bindet vergleichsweise große Mengen Wasser und steckt darum auch in manchen Nasensprays und Augentropfen, um der Austrocknung entgegenzuwirken. Ebenso ist die Säure entzündungshemmend und daher in Hydrogelen enthalten, die Wunden beim Heilen unterstützen. Die Hyaluronsäure der Nacktmulle ist fünfmal länger als die von Menschen oder Mäusen. Auch die Mulle scheinen die Hyaluronsäure vorwiegend zur Pflege ihrer empfindlichen Haut zu bilden. Die Krebsresistenz ist offenbar nur ein ziemlich netter Nebeneffekt.

Wissenschaftler von der Universität Liverpool wiesen ein paar Jahre später nach, dass die Mull-Zellen viel widerstandsfähiger gegen Beschädigungen ihres Erbguts sind. Beim Kopieren und Kopieren und Wiederkopieren der DNS treten früher oder später Fehler auf, Mutationen. Bis die Zellen irgendwann nicht mehr so fit sind wie ursprünglich. Die Nacktmulle kopieren offenbar besser.

Fit bis ins hohe Alter

Meerschweinchen, Hamster, Mäuse und Ratten werden nicht sonderlich alt, wie so ziemlich alle kleineren Säugetiere. Ihre Herzen schlagen so schnell wie ihre Lebensenergie verbraucht ist. Für manche Leute macht gerade die kurze Lebensdauer ein ideales Haustier aus. Dann muss man nicht so lange Käfige ausmisten. Solche Leute sollten sich besser keine Nacktmulle halten.

Im Verhältnis zu ihren verwandten Nagern werden Nacktmulle fürchterlich alt. 20, 30, mal knapp 40 Jahre. Und: Sie altern nicht wirklich. Die Tiere bleiben die ganze Zeit fit und beweglich, bis ins hohe Alter lässt sich kein Verfall von Hirn- oder Muskelmasse nachweisen. Von außen kann man ihr Alter kaum erkennen.

Studien zeigen, dass der Grund der Langlebigkeit in der Fähigkeit der Zellreparatur liegt. Zellen arbeiten, einfach gesagt, in zwei unterschiedlichen Modi: Reparieren und Wachsen. Werden die Zellen ständig mit Nährstoffen versorgt, ziehen die Zellen Teilung und Wachstum vor. Bleiben die Nährstoffe aus, nutzen die Zellen die Zeit zum Aufräumen. Diesen Modus kennen Heilfastende als Autophagie.

Damit ist die Reinigung und Regeneration von Zellen gemeint. Beschädigte Strukturen werden erkannt, zerlegt und abgebaut. Durch Fasten wollen wir uns diesen Modus zunutze machen: Wir versuchen dank aufgeräumter Zellen fit und belastbar zu bleiben und unerwünschtes Wachstum in welche Richtungen auch immer zu vermeiden. Nacktmulle scheinen gut aufzuräumen. Egal, ob sie nun fasten oder nicht.

Luft anhalten

Wo wir gerade beim Fasten sind. Radikale Asketen wissen, dass wir theoretisch ein paar Wochen ohne Nahrung auskommen könnten. Und ein paar Tage ohne Wasser. Aber wie lange halten wir wohl ohne Sauerstoff zum Atmen aus? Beim Luftanhalten können Nacktmulle locker mit der Elite der Apnoetaucher mithalten. Knapp zwanzig Minuten kommen sie ohne Sauerstoff aus.

Das ist auch ganz hilfreich. Denn Sauerstoff ist in den engen unterirdischen Gängen der Nacktmullkolonien Mangelware. Während für uns Menschen ein Sauerstoffgehalt von unter zehn Prozent in der Atemluft lebensgefährlich wird, kommen die Mulle stundenlang mit fünf Prozent Sauerstoff aus. Wenn die Tiere dicht an dicht zusammengekuschelt in ihren Nestern schlafen, bekommen sie zeitweise fast gar keine Luft. Doch sie ersticken nicht.

18 Minuten halten die Mulle sogar komplett ohne Sauerstoff aus. Dabei fallen die Tiere in eine Art Winterruhe. Ihr Puls senkt sich von 200 auf 50 Herzschläge pro Minute. Die Tiere greifen dann auf eine einzigartige Überlebensstrategie zurück: Sie versorgen ihre Organe unabhängig von Sauerstoff mit Energie. Dazu stellen sie ihren Stoffwechsel von Glukose auf Fruktose um.

Das Gehirn der Nacktmulle kommt dadurch offenbar dreimal länger ohne Sauerstoff aus als etwa das von Mäusen. Wurde unser Hirn im Notfall eine kurze Atempause einlegen können, würden wir uns nicht mit den Folgen beschäftigen müssen, die ein Schlaganfall oder ein Herzinfarkt innerhalb von Minuten anrichten kann.

Nun fragen Sie sich vielleicht, wie man das wohl herausgefunden hat. Na ja. Um es kurz zu machen: Für ihre Studie verlieh man dem Forschungsinstitut das sogenannte „Herz aus Stein“ – für das schlimmste Tierexperiment des Jahres.

Wir verstehen uns

Und dann sprechen Nacktmulle auch noch verschiedene Dialekte. Wie das eben so ist, wenn soziale Gruppen ohne jeden Austausch voneinander getrennt werden. Eigene Melodien und Phrasen schleichen sich ein und werden über die Jahre kultiviert.

In einer Nacktmullkolonie herrscht ein ständiger Geräuschpegel. Die Tiere fiepen, grunzen und zirpen fast ununterbrochen. Unter all diesen Lauten gibt es auch eine Grußformel: ein leises Zwitschern, mit dem sich die Tiere untereinander „Hallo“ sagen – und erkennen. Antwortet ein Mull auf die Begrüßung im angemessenen Sound, so wird das Tier freundlich willkommen geheißen. Spricht er jedoch einen anderen Dialekt, gibt’s Ärger.

Denn Nacktmulle sind fremdenfeindlich. Mulle, die nicht dieselbe Sprache sprechen, werden rabiat aus den Tunneln der Kolonie gejagt, bestenfalls. Für gewöhnlich töten Mulle Artgenossen aus anderen Kolonien, wenn die sich in einen anderen Bau gebuddelt haben.

Nun haben Wissenschaftler über 35.000 verschiedene Nacktmullgeräusche aufgenommen und mit einem Computerprogramm analysiert. Die Software konnte später jedem Mull einen individuellen Sound zuweisen. Darüber hinaus ließen sich Gemeinsamkeiten der Laute innerhalb einer Kolonie feststellen. Daraus schließen die Forschenden, dass wohl jede Nacktmullkolonie seinen eigenen Dialekt hat.

Texte und Bild: Philipp Brandstädter

Quellen:

Alterung

Schmerzempfinden

Sauerstoffmangel

Infos zum Nacktmull

Wahl der Königin

Verliebt, niemals verlobt

Verliebt, niemals verlobt

erschienen in der Homotaz am 7. Juli 2013, Felix-Rexhausen-Preis 2014, 2. Platz

Philipps Freundinnen mochte ich nie. Die konnten noch so nett sein, noch so witzig und bemüht um meine Anerkennung. Ich verachtete sie schlicht für das, was sie waren: die Frau an seiner Seite. Ich ging ihnen aus dem Weg. Doch jetzt war das unmöglich. Erstes Semester in Leipzig, Neustart, eigentlich. Philipp wohnt über mir, er ist mein bester Freund, und ich bin verliebt in ihn.

Acht Jahre ist das her. Die Nähe ist unerträglich. Früher auf dem Dorf konnte ich nur mutmaßen, wann er Frauenbesuch hatte, jetzt weiß ich es. Höre es. Kichern, Stöhnen, quietschende Betten. Ich will hochgehen, sie wegzerren, aus dem Fenster schmeißen.

Ich bin ein Meister geworden im Verbergen von Gefühlen. Im Verdrängen auch. Doch sobald eine neue Frau kommt, übernimmt das Herz die Kontrolle. Ich sage: „Noch so ein Blondchen.“ Es verletzt ihn. Also gibt es Ärger, mal wieder. Neun Monate halte ich die Nähe aus, dann ziehe ich ans andere Ende der Stadt.

Paul lehnt an meiner Badezimmertür und raucht. Wir haben uns gestritten und nichts mehr zu sagen. Weil von allem zu viel nicht immer das Beste ist. Verletzte Gefühle, verletzter Stolz, das macht stumm, das weiß jeder, der liebt. Aber Paul ist mein Freund, mein bester, nicht mein Freund, mein Partner. Zwar verbringe ich mit niemandem mehr Zeit, aber nicht so. Zwar leben wir zusammen, aber nicht so. So what?

Am Wochenende war Annett da. Wir haben die Wände rot angemalt, Obst und anderen Dekoschrott gekauft und peinliche Sexpausen mit Smalltalk überbrückt. Ich verliere mich in ihren Augen, ich will sie nicht mehr loslassen, ich vergesse die Zeit und alles um uns herum. Paul hat keinen Mucks von sich gegeben. Saß wahrscheinlich in seinem Zimmer und hat geraucht. Ist halt so ein Blondchen, hat er über meine neue Liebe gesagt. Das war alles. Und ich habe nicht verstanden, warum sich Paul nicht für mich freut, jetzt, da ich mich doch gerade freue. Ich bin sauer. Keinen Bock mehr auf Zugeständnisse, Kompromisse, Diplomatie. Also gibt es Stress.

Der sprachgewalttätige Freund

Vielleicht, weil Paul ein besonderer Freund ist, in allen Belangen. Der ungeduldige, vereinnahmende, sprachgewalttätige Freund. Der Freund, der etwas irre ist. Mit Paul habe ich Erinnerungen verdaut, neue Ideale erdacht, meine Zukunft geplant. Mit Paul habe ich Dummheiten gemacht. Paul hat mir Sorgen bereitet. Paul hat mich zum Nachdenken gebracht. Paul hat vieles auf den Kopf gestellt. Die Kleinigkeit, warum er sich nie für Mädchen interessiert hat – geschenkt.

Was bringt all die Gleichstellung, der gesellschaftliche Fortschritt, wenn man als 16-Jähriger in der fränkischen Provinz merkt, dass man Jungs interessanter findet als Mädchen. Es gibt keine schwulen Vorbilder, keine Offenheit, keinen Mut. Nur Versteckspiele. Ich bin anders, das merke nicht nur ich. Die gelegentlichen Schwuchtel-Rufe in den Schulgängen überhöre ich meist. Oder lächle sie weg. Ich verknalle mich ständig in meine Freunde. Der Klassiker. Und entknalle mich wieder. Weil es hoffnungslos ist.

Dann kommt Philipp. Es wird eine besondere Freundschaft. Eng, vertraut, zeitintensiv. Sein Haus ist meine zweite Heimat, mein Auto sein zweites Zuhause. Die ersten Konzerte, die ersten Joints. Musik, Filme, Partys. Ein rauschhaftes Leben. Es ist schön – und schmerzhaft, weil ich mich wieder verliebe. Seine erste Freundin sehe ich als Konkurrentin, die uns die Zeit stiehlt. Ich bin zickig, eifersüchtig, bösartig. Philipp duldet das und fragt nie nach. Jahrelang nicht.

Ich kenne Paul fast noch aus dem Sandkasten. Zwei Ossis im Frankenland, nicht ganz einfach, das Los. Wir haben Zeit geteilt, zu zweit, in der Clique, online. Vor allem in der Oberstufe. In der Schülerzeitung, auf Reisen, unter gleichen Gedanken. Sehr viel Zeit. Meine Eltern fanden das befremdlich. Paul hat dich wohl ein bisschen zu gern, was? Mir hat das wenig ausgemacht. Er ist mein Gefährte, verdammt. Ihn stoße ich nur dann zurück, wenn mir eine Umarmung zu lange dauert.

Paul fordert Zweisamkeit. Aber die gilt gerade Jenny, meiner ersten Freundin. Wir wollen Zeit für uns, ich bilde mir ein zu wissen, was Liebe ist, die Momente sind wertvoll. Paul sieht das nicht ein. Der Grund liegt auf der Hand. Doch unterschätze nicht die Macht der Verdrängung. Homosexualität ist für mich kein Thema. Das Mysterium „Mädchen“ ist universell, ich wage es gar nicht zu hinterfragen. Und deshalb benehme ich mich auch entsprechend mit Chauvisprüchen daneben. Alter, verschon mich bitte mit deiner Schwuchtelmucke. Ich denke nicht viel nach. Höchstens: Vielleicht ist Paul ja asexuell. Ein bisschen anders halt. Fragen stelle ich keine.

Cool, elitär und kleinkriminell

Nicht nur Philipp fragt nicht nach. Dabei müsste sich doch zumindest meine Clique wundern. Warum hat er keine Freundin? Warum schweigt er, wenn wir über Frauen reden? Warum guckt er Philipp so an? Ich bin Außenseiter, irgendwie besonders. Besonders komisch. Ich weiß, warum. Meine Freunde nicht. Für sie bin ich der leicht verrückte, elitäre, undurchschaubare Paul, der gerne mal verletzend ist, wenn er verletzt wird, was andere gar nicht als Verletzung erkennen. Ich lenke die Gespräche auf andere Bahnen, weg von Mädchen, Brüsten, Sex. Suche neue Themen, setze mich damit durch.

Wir sind zu viert in unserer Clique und halten uns für etwas Besonderes. Wir sind nicht diese Prolls vom Dorf, wir sind alternativ, ragen heraus aus dem Trott. Wir reden stundenlang über Politik und Medien und über das, was sein soll und sein wird. Wir lachen und rangeln und spielen und leben. Uns gehört die Zukunft. Wir sondern uns bewusst ab, aber meine Absonderung ist anders, sie ist nicht selbst gewählt. Es ist eine schöne Zeit. Trotz allem. Ich behalte mein Geheimnis für mich.

Vermutlich Paul zuliebe tauschen wir Titten und Trichtersaufen gegen Popkultur und Philosophie ein. Wir kiffen, um Joints drehen zu lernen, und lesen Bücher, um Anspielungen aus Filmen und Songs zu verstehen. Wir sind unvorstellbar cool, elitär und kleinkriminell. Jenny passt da nicht mit ins Konzept. An ihrer Seite erfülle ich das, was die Welt von mir erwartet. Meine Jungs erwarten mehr. Also führe ich zwei Leben. Herz neben Verstand, Körper neben Geist, Tradition neben Revolte.

Die Jungs und ich. Wir sind nicht anders als der Rest. Wir sind besser. Wir tun, was man auf dem Dorf so tun kann, plündern Supermärkte, bereisen Festivals, brechen Hausfrieden. Dann gehen die ersten beiden Jungs studieren. Paul und ich bleiben zurück. Aber Paul schafft es, die Freunde zusammenzuhalten. Dank seinem alten Ford Fiesta, dem kein Weg zu weit ist, und einem entwaffnenden Durchsetzungsvermögen.

Paul und ich, wir verschwenden unseren Feierabend. Lungern in den Kneipen herum, fahren durch die Dörfer, brüllen vor der Startbahn des Frankfurter Flughafens die landenden Maschinen an, jagen nachts im Auto Feldhasen auf dem gefrorenen Acker. Wir bereisen die Welt, gucken uns die großen Städte an, teilen uns ein französisches Bett im YMCA von Brooklyn. Wie das beste Freunde eben so machen.

Raus aus dem Dorf

Paul ist immer da für mich. Besonders, als mit Jenny Schluss ist. Paul zuliebe? Na ja, vielleicht, aber nicht wirklich. Gegen sie sprachen weitere Jahre auf dem Land, Familienpläne und die Panik vor Verantwortung. Für ihn sprachen die gleiche Berufsidee, die gleiche Stadt und die gleichen Partys.

Raus aus dem Dorf, rein in die Stadt. Es wäre der richtige Zeitpunkt gewesen. Es endlich zu sagen. Endlich zu leben und zu lieben. Jemand anderen. Doch meine Altlast kommt mit. Philipp und ich. Ich und Philipp. Wir wollen beide Journalisten werden, bekommen den Studienplatz in Leipzig. Wir suchen gemeinsam nach Wohnungen, finden zwei im gleichen Haus, übereinander. Ich zweifle, zeige es aber nicht. Für ihn ist es das Natürlichste der Welt. Für mich die Fortsetzung der Qual. So nah bei ihm. Aber noch immer mutlos. Habe Angst vor den Konsequenzen des Outings. Bilde mir ein, die Freundschaft mit Philipp, die so unendlich wichtig ist, würde das nicht aushalten. Würde zerbrechen. Und dann stünde ich am Ende ganz alleine da.

Anstatt ein neues Leben zu beginnen, bleibe ich beim alten. Ich habe mich so eingerichtet, bin vorbereitet. Habe Antworten auf die Fragen parat, die immer kommen. Kann Frauen charmant eine Abfuhr erteilen, ohne sie zu verletzen. Habe langsam gelernt, den Schmerz auszuhalten. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie es anders sein könnte.

Deshalb stehen wir da, in meiner Einraumwohnung im Leipziger Ghetto. Ich. Und Paul. Lehnt an meiner Badezimmertür und raucht. Paul zieht kurz darauf aus. In das Ghetto am anderen Ende der Stadt. Wir treffen uns mit ein paar anderen Freunden aus anderen Kreisen. Paul lernt neue Kumpelfreundinnen kennen. Manche mögen ihn, weil er polarisiert. Manche lieben ihn vergeblich und befürchten, es liegt an ihnen. Auch ich lerne neue Mädchen kennen. Manche können Paul gut leiden, manche nicht so. Manchmal haben wir mehr miteinander zu tun, manchmal nicht so.

Wir gucken uns ein paar eigene Wege aus, finden ein paar eigene Ziele. Ich bin Techno, er ist Pop, ich bin Club, er Kneipe, ich bin selbstsüchtig, er ist auf Suche, ich gehe schlafen, er macht durch, ich gehe zur HNA nach Kassel, er zur taz nach Berlin. Was immer bleibt, ist unsere Freundschaft. Und seine Fassade, die er auch in Leipzig nicht aufgibt. Vier Jahre lang. Nur für mich?

Also am anderen Ende der Stadt. Der räumliche Abstand tut gut. Ich frage nicht mehr zwanghaft nach, was Philipp so getrieben hat. Seine Abenteuer, seine Mädchen. Er versteht wohl. Das Thema wird ausgespart. Die Freundschaft bleibt. Sie normalisiert sich, und ich entliebe mich von ihm. Langsam, endlich.

Jetzt wäre der Weg frei. Doch ich habe mich zu tief eingegraben, zu sehr in Lügen verstrickt, zu lange geschwiegen. Ich habe Angst. Man würde mich für irre halten. Man würde mich fragen, warum erst jetzt. Dabei weiß ich das selbst nicht. Was würde Philipp denken, wie käme er damit klar, dass ich so ganz andere Gefühle für ihn hatte? Dann lieber Schweigen. Es ist irrational. Unerklärlich. Das Geheimnis bleibt. Ich habe den richtigen Zeitpunkt verpasst.

Dann, kurz bevor ich nach Berlin ziehe, kommt eine Frau in mein Leben. Ausgerechnet eine Frau. Sie verliebt sich in mich, ich mich in sie. Es ist verwirrend. Aber sie kann ich nicht lange belügen, dafür ist sie zu wichtig. Ich oute mich, mit 24. Es ist befreiend, es zu sagen. Ich bin schwul. Und noch mal: Ich bin schwul. Eine Lawine bricht los. Nach und nach sage ich es meinen Freunden. Beim Bier, einfach so. Rufe an, mache mir einen Spaß daraus. Immer der gleiche Satz. Ich bin schwul. Ich erlebe Stürme der Begeisterung. Meine Mutter öffnet Champagner. Nur Philipp kann ich es nicht sagen. Ich schreibe ihm.

Eine Email im Postfach

Ich öffne abends mein Postfach. „Lange keine Mail mehr geschrieben, mein Guter, aber es ist an der Zeit, ein dringendes Anliegen brennt mir auf den Lippen, in den Fingern, auf dem Herzen, und eine E Mail ist dafür der denkbar schlechteste Weg. Aber was muss, das muss. Jetzt kommt der Satz, setz dich hin: Ich bin schwul, und ob das gut ist, das weiß ich auch noch nicht.“

Dann folgen ein paar Absätze, in denen Paul einräumt, dass er anfangs schon ein bisschen verliebt in mich war, und dann beschreibt er, wie glücklich er jetzt ist und dass alle Freunde froh sind und jubeln und sich auch für ihn freuen. Und ich so: Scheiße.

Hast du solche Angst um unsere Freundschaft, dass du mir das nicht einfach ins Gesicht sagen kannst und dann auch noch schönreden musst? Was willst du mir verkaufen, Paul? Hast du geglaubt, ich würde dich deshalb weniger mögen? Bin ich es, der dich über Jahre hinter deine Fassade gezwungen hat? Bin ich wirklich so ein schrecklicher Mensch? Was war ich für ein beschissener Freund.

Dass es so unspektakulär kommt, ich hätte es nie geglaubt. Wir reden, einmal, zweimal über mein Outing. Er freut sich für mich. Es ist unangenehm, jemandem zu gestehen, dass man jahrelang verknallt in ihn war. Ich dachte, es würde etwas zerstören. Das Gegenteil passiert.

Ich ziehe nach Berlin, beginne einen neuen Job, ein neues Leben. Habe Liebschaften, Beziehungen. Die Freundschaft zu Philipp bleibt immer. Sie wird besser. Sie wird ehrlicher. Ich rede mit ihm über all das, was wir so lange ausgespart haben. Gefühle, Affären, Beziehungen, Sex. Ich bin glücklich.

Das Coming-out fegt alle Konflikte vom Tisch. Alles vergessen. Weil ich es endlich verstehen kann. Seitdem haben wir uns nicht mehr gestritten. Keine verletzten Gefühle, kein verletzter Stolz. Keine Eifersucht, kein fehlendes Verständnis, keine Lügen mehr. Nächsten Monat ziehen wir wieder zusammen. Er wird arbeiten gehen und das Geld nach Hause bringen, ich werde die Wohnung in Schuss halten. Wie das beste Freunde eben so machen.

Text: Philipp Brandstädter, Illustration: Magazin JAM (Aktion Mensch)