von Philipp | 15 Mai 2022 | Alltag, Sachen erklärt
Warum die Abenteuer in der Ferne suchen? Das geht doch auch vor der Haustür. Man kann zum Beispiel eine Nacht in der freien Natur verbringen. Ich habe es ausprobiert. Und dabei überraschenden Besuch bekommen.
Als sei ich der einzige Mensch auf der Welt. Grillen zirpen. Ein Glühwürmchen tanzt an mir vorbei. Ein Waldkauz sitzt in den Bäumen und macht huuuh-huuuh. Sonst bin ich ganz allein, allein in der Wildnis – keine Menschenseele weit und breit.
Dann höre ich, wie ein Motorrad die Bundesstraße entlang röhrt. So allein bin ich wohl doch nicht. Und um ehrlich zu sein: Auch die Wildnis um mich herum ist nur halb so wild. Ich liege auf einem einsamen Zeltplatz in einer Hängematte. In einem Stückchen Wald am Rande der Stadt. Und gucke mir durch die Baumwipfel hindurch die Sterne an.
Viele Leute sind in den Sommerferien verreist. Um sich ein bisschen zu erholen und andere Gegenden zu besuchen. Aber man kann auch direkt vor der Haustür etwas erleben. Also habe ich beschlossen, eine Nacht in freier Natur zu verbringen. Das kann man zum Beispiel mit einem Zelt im Garten machen. Ich versuche es einfach mal mit einer Hängematte im Wald. Den kenne ich von vielen Sonntags-Spaziergängen ziemlich gut. Also habe ich meinen Rucksack mit Proviant und Schlafzeug zusammen gepackt und bin los gewandert.
Die Sonne geht unter
Bei Dämmerung sieht ein Wald allerdings anders aus als bei Tageslicht. Auf dem Weg zum Zeltplatz habe ich mich deshalb ein bisschen verlaufen und mein Nachtlager erst bei Sonnenuntergang erreicht. Dann habe ich ganz verträumt beobachtet, wie die Sonne am Horizont verschwindet. Wie die letzten Sonnenstrahlen des Tages in gold und orange durch die Waldlichtung scheinen. Im nächsten Augenblick war es duster. Und auf einmal auch irgendwie ein bisschen unheimlich.
Keine Zeit zum Gruseln! Im Licht des Mondscheins zurrte ich rasch meine Hängematte zwischen zwei Buchen fest und hängte ein Moskitonetz in die Zweige. Das ging noch ziemlich leicht. Viel schwieriger: Zähne putzen und Kontaktlinsen aus den Augen popeln. Ohne Licht, ohne Spiegel, ohne fließendes Wasser aus dem Wasserhahn. Ebenfalls nicht so einfach: Aus den Klamotten hinaus und in den Schlafsack hinein schlüpfen, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren. Man will ja kurz vorm Schlafengehen nicht barfuß in eine Brennnessel treten. Oder in eine glibberige Nacktschnecke.
Als ich im Schlafsack eingemummelt in meiner Hängematte schaukle, ist auch das Gruseln verflogen. Über mir rauscht der Wind durch die Baumwipfel. Der Waldkauz ruft. Alles wirkt so friedlich hier draußen. Bis mir durch das Moskitonetz hindurch die ersten Regentropfen ins Gesicht nieseln. Ich mache mir Sorgen. Ob das so eine gute Idee war, ohne Zelt loszumarschieren? Ob der Regen stärker wird? Säuft dann mein Nachtlager ab? Muss ich mein Abenteuer abbrechen und mitten in der Nacht zurück nach Hause laufen?
Wer weckt mich da?
Ein Knistern und ein Rascheln weckt mich. Ich muss beim Grübeln eingeschlafen sein. Meine Nasenspitze ist ganz kalt. Mein Rücken auch ein wenig. Längere Zeit in einer Hängematte zu schlummern, ist doch nicht so bequem wie auf einer Matratze. Um mich herum wird es langsam wieder hell. Vögel zwitschern. Und keine Regenwolke am Himmel zu sehen. Aber was war das denn nun für ein Geräusch?
Ich schaue mich um. Im dem Moment verschwindet ein dicker, pelziger Hintern im Dickicht. Davor liegen überall Fetzen meiner zerrissenen Papiertüte auf dem Waldboden. Und auf der Sitzbank ein letzter Bissen von meinem Käsebrot, das in der Tüte war. Ein Waschbär hat sich über meinen Proviant hergemacht! Den habe ich wohl nachts vergessen wegzupacken.
Das Frühstück im Wald kann ich abhaken. Ich hätte besser aufpassen müssen. Also räume ich mein Nachtlager auf und packe meine Sachen in den Rucksack. Dann schlurfe ich verschlafen zur Waldlichtung zurück in die Stadt. Ich freue mich auf ein warmes Brötchen vom Bäcker. Auf einen frisch gepressten Saft. Und ganz besonders auf mein gemütliches, warmes Bett!
Text und Bild: Philipp Brandstädter,
zunächst erschienen über dpa Nachrichten für Kinder, September 2014
Quellen:
Tipps zum Übernachten im Freien
Bundesnaturschutzgesetz
von Philipp | 14 Apr 2022 | Reportagen
erschienen in der GEO 02/18
Lebe im Hier und Jetzt. Genieße den Augenblick. Sei gesund, geborgen, unbeschwert. Atme. Werde glücklich. Dieses Wellness-Gefasel, diese Kalenderweisheiten kreiseln durch meinen Kopf, als ich auf einem Meditationskissen balancierend mit geschlossenen Augen eine Rosine inspiziere.
Etwas angewidert rolle ich sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Das Glück liegt in den kleinen Dingen, rede ich mir ein: Nimm den Moment wahr. Der Rosinenmatsch duftet fruchtig. Nicht so intensiv wie das Bohnerwachs in der Turnhalle des Hauses Rheinsberg, keine anderthalb Stunden Reisebusgetuschel von Berlin entfernt. Ich bin ganz hier. Wir.
Ich und meine Skepsis.
Mit Sinnsprüchen ist das nämlich so eine Sache. Manchmal sind sie so fürchterlich schwammig und abgedroschen. Wenn mir die Worte fehlen, um eine Sache zu beschreiben, fällt es mir schwer, die Sache ernst zu nehmen. Ich lasse mich lieber von der modernen Wissenschaft überzeugen als von uralten Traditionen und Lehren.
So habe ich ein Weilchen gebraucht, um mich auf die Meditation einzulassen. Keine Frage, dass sie Menschen bereichern würde. Aber wie soll ich plötzlich eine Sache beherzigen, die ich immer belächelt habe?
Das ReSource Project war DIE Gelegenheit für mich: Meditieren lernen im Sinne der Wissenschaft! Resource ist die größte Studie, die es bislang in der Meditationsforschung gegeben hat. Durchgeführt vom Max Planck Institut in Leipzig, unterstützt von der Berliner Charité und der EU.
Dabei wird erstmals die Wirkung verschiedener mentaler Techniken miteinander verglichen: Wie verändern sie Gehirn, Körper und Verhalten? Womit lassen sich Achtsamkeit, Mitgefühl und Sozialkompetenz am besten trainieren? Als Teilnehmer wurden 160 Meditationsanfänger gesucht. 2700 haben sich beworben.
Tausend Tests
Ich habe psychologische Eignungsgespräche über mich ergehen lassen. Eintausend Fragen beantwortet, angekreuzt, skaliert, mich selbst beurteilt. Wie intensiv spüren Sie beim Duschen die Wassertropfen auf Ihrer Haut? Ein bisschen? Ein bisschen mehr? Keine Ahnung? Ich habe Auskunft darüber gegeben, wie immungeschwächt, wie zornig, wie suizidgefährdet ich bin. Ich habe mein Gehirn im Magnetresonanztomographen durchleuchten lassen. Ich habe Blut abgegeben, in Röhrchen gespuckt und mir abstoßende Fotos vorsetzen lassen. Verletzte Kriegsopfer, verkohlte Leichen. Verstörend. Und zeitaufwändig. Es hat Wochen gedauert, um es in die finale Auswahl zu schaffen.
Schließlich finde ich mich für meine erste Meditationslektion in einer Turnhalle wieder. Um mich herum gestresste Mütter, gestresste Lehrer, gestresste Büroangestellte. Sie können nicht mehr ruhig schlafen, sagen sie. Ihr Chef mache sie wahnsinnig, sagen sie. Darum lassen sie sich in ein straffes Mammutprogramm einspannen, das Rettung verspricht.
Neun Monate ReSource. Alle drei Monate zwei neue Meditationstechniken. Scans im MRT, viele Computertests, unzählige Fragebögen. Jeden Tag meditieren, jede Woche Unterricht. Und drei Wochenenden in Rheinsberg, ein Idyll zwischen Schlosspark und Seenlandschaft.
Achtsam im Hier und Jetzt
Ich verbiege meinen Rücken in eine ungewohnt aufrechte Haltung. Von den knapp 200 Probanden und wissenschaftlichen Mitarbeitern in der Turnhalle macht Trainerin Isabella auf dem Sitzkissen die beste Figur. Dicht gefolgt von den anderen 16 ReSource-Coaches. Psychologen, Therapeuten, Ärzte, Pädagogen, Philosophen, Kommunikationstrainer.
Isabella referiert gelassen und regungslos im Lotos-Sitz. Ich ahme sie nach, mir schlafen die Beine ein. An meinem rechten Schulterblatt brennt ein Muskel, den ich bis jetzt noch nicht kannte. Isabella spricht von einer Methode, die unsere Mitte stärken soll, wenn uns der reißende Strom an Nachrichten, Aufgaben und Erwartungen fortzuspülen droht. Die Methode heißt Atmen. Atmen will ich auch und nicke. Die Probanden um mich herum nicken mit. Bewusstes Atmen ist die Grundlage des Projekts, sagt Isabella. Es soll uns in der Gegenwart verankern. Das erste Modul des ReSource-Programms heißt deshalb „Präsenz“.
Modul „Präsenz“ (drei Monate):
Im Mittelpunkt steht das Selbst: Wie kann ich mich besser auf den Augenblick konzentrieren – ohne zu urteilen, ohne zu werten?
Techniken: Atemmeditation und Bodyscan
Denn wer seinen Körperzustand bewusst wahrnimmt, der erkennt den Augenblick, heißt es. „Achtsamkeit“ nennen Forscher die Konzentration auf das Hier und Jetzt. Und wer im Moment lebt, ist glücklich. Studien belegen das.
Das leuchtet ein. Wenn mich mein Terminplaner unter Druck setzt, lenke ich mich mit Erinnerungen ab. Meist denke ich dann an Deadlines, die ich verpennt, an Hausaufgaben, die ich aufgeschoben, an Menschen, die ich enttäuscht habe. Ich ersetze Stress durch Stress. Am eigentlichen Augenblick lebe ich vorbei. Seitdem ich in Berlin wohne, bin ich hektischer, miesepetriger und desinteressierter geworden. In der Stadt der Heimatlosen ist mir alles zu viel, wenn ich durch die Straßen zu einem Termin hetze, den Blickkontakt scheue, kaum etwas um mich herum wahrnehme. Manchmal weiß ich gar nicht, wen ich zuerst ignorieren soll.
Ich will gern achtsamer sein. Meine Welt wahrnehmen. Mein Bewusstsein entwickeln.
Also dann. Beginne zu atmen, sage ich mir.
Atemmeditation (10min): Die Aufmerksamkeit ruht ganz auf dem Atem. Sobald Gedanken und Gefühle auftauchen, wird die Konzentration wieder sanft zurück auf die Atmung gelenkt.
„Lenke deine Aufmerksamkeit auf den Punkt, wo du gewohnt bist, den Atem zu spüren“, sagt Isabella. „Begleite die Atemwellen. Vom Beginn des Einatmens bis zum Ende des Ausatmens. Und durch die Pause dazwischen.“
Es könnte so einfach sein. Doch die Gedanken spülen mich aus dem Raum.
Bilder, Erinnerungen, Phantasien. Sie entführen mich erst in die Vergangenheit, dann in die Zukunft und wieder zurück. Ich rieche Parfüm, blinzle kurz, vor mir die Studentin mit der weinroten Strickjacke und der Ballonhose. Blickkontakte angeln. Sie könnten das ständige Schweigen erträglicher machen. Ich höre knurrende Mägen, schniefende Nasen. Ich sehe ein rotes Nachrichtenband, das meine Gedanken verschriftlicht. Ich säe Zweifel. Soll ich Erlösung finden, indem ich einfach nur atme?
Tagelang passiert gar nichts. Zu Hause, wo ich mir mit meinem Sitzsack und drei Kissen ein Meditationsprovisorium gebaut habe, spricht Coach Axel via Smartphone zu mir. Jeder von uns hat so ein „Medifon“ bekommen. Es zeichnet unsere Übungen auf, erinnert uns an Fragebögen und spielt die Tonspuren ab, die die Trainer für die Anleitungen zuhause eingesprochen haben.
Das Telefon ahnt nicht, dass ich die vorgegebene Meditationszeit einfach nur mürrisch absitze. Genauso wie die wöchentlichen Gruppentreffen in der Charité.
Den meisten Probanden geht es ähnlich, erzählen sie. Sie sind angestrengt, haben hohe Erwartungen an sich, wollen gute Daten liefern. Genau, wie es das Leistungsprinzip verlangt. Genau, wie Meditation nicht funktionieren kann. Bis wir vor lauter Konzentrationskrampf wegdämmern.
Es tut sich etwas
Doch genau in dieser schlaftrunkenen Zwischenwelt zwischen Traum und Bewusstsein gibt es jene Momente. Dort lösen sich Hast und Zweifel durch Ruhe und Genügsamkeit ab. Etwas verändert sich. Ich bin begeistert: Jetzt meditierst du endlich! Wie das erst wird, wenn du die Techniken perfektioniert hast! Dann bist du vielleicht noch leistungsfähiger, brauchst weniger Schlaf und kannst noch mehr aus deinem Leben herausholen. Produktiver sein! Irgendwann einmal… Und schon wieder bin ich meilenweit vom Augenblick entfernt.
„Wenn deine Aufmerksamkeit gewandert ist, dann lenke sie zurück zum nächsten Atemzug“, sagt Axel.
Die hellen Momente häufen sich. Sie motivieren mich zum Üben. Langsam erschließt sich mir der Fokus auf die Atmung. Sie lenkt die Wahrnehmung von meiner Umgebung in meinen Körper. Atmen entspannt. Atmen ist eine gute Sache, finde ich, Kontraktion und Entspannung, es ist tatsächlich so, als ob ich einen Muskel trainieren würde.
In meinem Kopf tut sich etwas.
Im Park unter rauschenden Blättern. Ihr Grün ist bereits dem Rot und Gold gewichen, doch die Luft fühlt sich immer noch nach Sommer an. Ich bin hier: nicht gestern oder morgen, sondern jetzt. Zum ersten Mal. Liege im Gras und sinke mit jedem Atemzug tiefer in den Boden. Ich übe „interozeptives Gewahrsein“. So heißt das. Per Bodyscan. Der zweiten Übung, die ich neben der Atemmeditation täglich trainieren soll.
Bodyscan (20min): Die Aufmerksamkeit wandert nach und nach durch jedes Körperteil und registriert alle Empfindungen, ohne sie zu bewerten.
„Es gibt nichts zu tun und nichts zu erreichen“, flüstert Axel durch die Kopfhörer. „Richte deine Aufmerksamkeit auf deine Zehen des linken Fußes.“
Von den Zehen aus reise ich durch meinen Körper. Nehme Kribbeln, Taubheit, Wärme wahr. „Spüre tief in dein linkes Kniegelenk hinein“, flüstert Axel. Igitt. Es ist mehr ulkig als angenehm, die Nuancen der Körperempfindungen zu unterscheiden. „Sei einfach eine Antenne, die alles wahrnimmt, ohne die Wahrnehmung zu bewerten“, flüstert Axel aus dem Smartphone.
Die Übungen machen mich ruhiger, gelassener, genügsamer. Meinen Alltag verändern sie auch. Ich registriere mehr Details in meiner Umgebung. Die Giebel und Sockel von Häusern, an denen ich schon hundertmal vorbei gefahren bin. Die Verästelungen der Bäume im Park. Das Atmen stärkt meine innere Mitte. Und beim Sport funktioniert mein Körper wie von allein, so scheint es. Meine Joggingstunde durch den Wald ist auf einmal 20 Minuten kürzer und die Hanteln im Fitnesscenter sind leichter als in der Woche zuvor.
Die Verwandlung geht schnell. Langsam wird sie mir unheimlich.
Wie ticke ich, wie ticken die anderen?
Seit 12 Wochen im ReSource-Projekt. Atmen, bodyscannen und Stillsitzen kriege ich mittlerweile hin. Ich finde mich erneut in Rheinsberg wieder. Retreat, Runde zwei. Die neue Lektion: Perspektive.
Modul „Perspektive“ (drei Monate):
Im Mittelpunkt steht das Wir: Die Teilnehmer lernen, ihr eigenes Denken zu reflektieren und sich in andere Menschen hineinzuversetzen.
Techniken: Gedankenmeditation und Perspektiv-Dyade
Ab jetzt beobachten wir unsere Gedankenwelt. Diesen kaum greifbaren Wirrwarr, den ich bis dato abschütteln musste, weil er mich von der Achtsamkeit abgelenkt hat. Gedanken beobachten sei wichtig, meint Trainerin Susanne. Denn bevor wir im dritten Teil unser Mitgefühl schulen, müssten wir erst einmal mit uns selbst klarkommen. Das leuchtet ein: Fällt der Luftdruck in der Flugzeugkabine, ziehen wir zuerst uns selbst die Sauerstoffmaske über.
Gedankenmeditation (20min): Zunächst werden die Gedanken kategorisiert, etwa nach Vergangenheit/Zukunft, negativ/positiv oder selbst/andere. Dann wird ihr Kommen und Gehen beobachtet, ohne auf sie zu reagieren – so soll Distanz zu den eigenen Gedanken und Gefühlen entstehen.
Meine erste Gedankenmeditation ist eine einzige Enttäuschung. Von wegen: Die Gedanken sind frei. Von wegen: Tausend Ideen schießen uns auf einmal durch den Kopf. Ich komme gerade mal auf sieben. Sie wiederholen sich nur in einer Endlosschleife. Mein Job, meine Partnerin, meine Freunde, mein Job, die letzte Party, ein Haushaltsplan, mein Job. Die Agenda wird von meinem Kalender festgelegt.
An den Gedanken kleben meist Urteile, die ich nie ernsthaft hinterfragt habe. Meist habe ich sie nicht einmal selbst gefällt. Meine Umwelt hat sie mir beigebracht. Du verschwendest zu viel Zeit! Du sorgst nicht genug für deine Zukunft! Du lebst zu ungesund! Langsam wird mir klar, dass ich in einer Ich-muss-noch-dies-und-das-tun-Zukunft gefangen bin, die ich mir nicht einmal selbst geschaffen habe.
Die Erwartungshaltung anderer reißt eine riesige Lücke zwischen dem Leben, das ich gern hätte und dem Leben, das ich gern haben sollte. Ich bin schockiert.
Nicht mehr normal
Barfuß tragen die Probanden des ReSource Projects ihre Brummschädel über die Wiese vor dem Hotel. Kaffeetasse in der einen Hand, Keks oder Kippe in der anderen. Wie immer schweigen wir. Wir achten auf die Länge unserer Schritte, die Geräusche, die Grashalme zwischen den Zehen. Eine Familie spaziert an uns vorbei.
„Was machen die Leute da auf dem Rasen?“, fragt das Kind. „Guck da nicht so hin, die sind behindert“, antwortet die Mutter.
Was wir da tun, ist nicht normal. Normal ist, auf der Straße mit einem Knopf im Ohr in leuchtende Geräte hinein zu faseln. Normal ist, sich mit hundert Dingen gleichzeitig zu beschäftigen, um nicht über sich selbst nachdenken zu müssen.
Trainerin Susanne lächelt. Susanne lächelt eigentlich immer. Man könnte meinen, es sei aufgesetzt. Mein Urteil. Meine Schuld, dass ich das meine. Die hagere kleine Frau gestikuliert schon die nächste Technik in den Raum hinein: eine Dyade. Dabei handelt es sich um eine Meditation im Dialog. Augenbrauen werden gehoben, Köpfe geschüttelt. Susanne lächelt.
Perspektiv-Dyade (10min): Es wird zu zweit meditiert, von Angesicht zu Angesicht oder über das Smartphone. Die Partner wechseln wöchentlich. Der Sprecher erzählt aus einer seiner persönlichen Rollen heraus ein Erlebnis. Der Zuhörer versucht, die Erzählperspektive unvoreingenommen nachzuvollziehen. Jeder spricht zweimal 2,5 Minuten.
Wir seien soziale Wesen in Beziehungsgefügen, betont sie. Im Lauf unseres Lebens nehmen wir verschiedene Rollen ein, die zu Anteilen unserer Identität würden. Wir seien Kinder, Freunde, Partner, Berufstätige, Eltern. Bestimmte Rollen für bestimmte Menschen, die ihre eigene Sicht auf uns entwickeln. Und diese Menschen verwechseln gern ihre Mitmenschen mit deren Rollen.
Der unfreundliche Kontrolleur in der Bahn. Die lahme Oma vor uns an der Supermarktkasse. Das plärrende Kind in der Nachbarwohnung. In Stresssituationen werden sie schnell als durch und durch unangenehme Menschen abgeurteilt.
Also beginnen wir als erstes, unsere eigenen Rollen besser zu verstehen. Ich schreibe die typischen Anteile meiner Persönlichkeit auf Pappkarten. Der Faulpelz, der Angsthase, der Kontrollfreak. Der Beobachter. Der ist omnipräsent. Immer ein bisschen distanziert und analytisch, neutral und unterkühlt. Beobachten ist mein Beruf.
Und dann ist da noch der Sucher in mir. Erst, als ich gedankenverloren im Bus nach Hause sitze, wird mir klar, dass es ihn gibt. Es ist der, der mich als Kind stundenlang in die Sterne starren ließ und der, der mich jetzt aufs Meditationskissen zerrt, um dem tieferen Sinn und dem ganzen Drumherum nachzugehen. Erkenne dich selbst. Mit der Einsicht schwingt Leichtigkeit, Gleichmut. Innerer Frieden. Und die Reise geht gerade erst los. Glaube ich.
Zu zweit über das Smartphone meditieren
Ich sitze einem bärtigen Mann mit Brille und Norwegerpulli gegenüber. Wir haben noch nie ein Wort miteinander gewechselt, aber vertrauen uns nun in einer Dyade an. Wir sollen aus einer Rolle heraus ein Erlebnis erzählen. Ich habe das Bedürfnis, mein Gegenüber zu unterhalten. Ich schauspielere, anstatt mich um mich selbst zu kümmern.
Beim Mittwochtreffen klärt die Trainerin die Dyaden-Sache auf: Aus verschiedenen Rollen heraus zu sprechen, lässt uns verstehen, dass wir und jeder andere nur eine Wirklichkeit konstruieren und dass diese aus jedem Anteil heraus ganz anders aussehen kann. Es reicht aber nicht, das einmal festzustellen, das müsse wie eine Muskel trainiert werden. Sowohl das Sprechen aus wechselnden Anteilen als auch das Zuhören und Verstehen, was nicht zwingend Gutheißen bedeuten muss.
Die Leute aus der Gruppe werden interessanter. Olaf, den ich als verbitterten Fachangestellten abgespeichert hatte, ist in Wirklichkeit Didgeridoo-Spieler für Wachkoma-Patienten. So kann man sich täuschen. Woran’s liegt?
Mit den Dyaden taten sich die meisten anfangs schwer, mit der unmediativen Art, mit dem Sinn. Aber sie lieben es zuzuhören, sich in verschiedenen Rollen auszutoben, lieben es, dass ihnen niemand ins Wort fällt.
Das alte Leben passt nicht mehr
Im Max-Planck-Institut wird mein Kopf gescannt, schon zum dritten Mal. Die Neurowissenschaftler wollen sehen, wie die Meditation mein Gehirn verändert. Zuvor haben sie mit meinen Gefühlen gespielt. Stromschläge, die meine Empfindsamkeit erfassen sollten, haben mich wütend gemacht, von den Ekelfotos am PC wurde mir übel, und in der virtuellen Horror-Realität bin ich ein bisschen in Panik geraten. Beinahe hätte ich die Kabel aus meinem 3D-Helm gerissen. Jetzt liege ich in der Röhre. Zeit zum Nachdenken, über mich, das Projekt, und die guten Vorsätze für das neue Jahr.
Zwischendurch dachte ich wirklich, meine Mitte gefunden zu haben. Ich glaubte, ein neues Weltbild zu entwickeln und meine Mitmenschen daran teilhaben lassen zu müssen. Schlaue Ratschläge für alle. Glückskeksweisheiten.
Meine Freunde sind wegen der Studie längst skeptisch geworden. Sie fürchten, ich bin einer Hirnwäsche zum Opfer gefallen. Würde mir bald den Schädel rasieren und mich in orangefarbene Tücher hüllen. Sie finden, Ruhe und Gelassenheit ließen mich nur Wurzeln ins Sofa schlagen. Kollegen haben gefragt, was denn nicht stimme. Ich sei in letzter Zeit so wortkarg, würde überhaupt nicht mehr lästern oder gehässig sein. Was sei denn bloß aus den ganzen politisch unkorrekten Randgruppenscherzen geworden.
Mir kommt es vor, als würde ich nicht mehr in die Gesellschaft passen. Auf einmal wurde es mir zu eng in Berlin. Die Leute in der Bahn, mit ihren dicken Fellen und ihren Scheuklappen, sie machten mich plötzlich rasend. Überall Smartphone-Zombies, unaufmerksam, lieb- und leblos. Ich passe hier nicht mehr hin. Ich weiß nicht, wohin sonst, beginne zu zweifeln. Der MRT-Scanner surrt und pocht mich in Trance.
Zu Besuch bei meinen Eltern spaziere ich zu der Wiese, auf dem ich mit meinen Schulfreunden oft die Zeit vergammelt habe. Beim Meditieren habe ich mich manchmal dorthin geträumt, ganz unbewusst. Dort könnte ich meinem persönlichen ReSource Project einen neuen Schub verleihen, denke ich mir. Doch anstelle der Wiese mit ihren roten Mohnblumen und weißen Margeriten steht nun ein riesiges Rapsfeld in Blüte. Gepachtet, beackert, kultiviert. Ich nehme das persönlich. Ich gehöre hier nicht mehr hin.
Erschöpft und ratlos fahre ich ins letzte Retreat. Noch einmal Rheisberg. Die Auszeit tut gut. In der Turnhalle liegen Taschentuch-Boxen aus. Die seien für die Leute da, die nah am Wasser gebaut sind, erklärt Coach Ulrike. Die letzte Phase von ReSource behandle nämlich die Regulation von Emotionen und das Mitgefühl, sagt Ulrike. Als Psychotherapeutin sei sie davon ein Fan. Es geht ans Herz.
Modul „Affekt“ (drei Monate):
Im Mittelpunkt stehen die Akzeptanz eigener Emotionen und das Mitfühlen mit anderen. Altruismus soll gestärkt werden.
Techniken: Herzmeditation und Affekt-Dyade
Zu Beginn der Studie war mir die Sache mit dem Mitgefühl nicht so wichtig. Das Leid in mir und um mich herum hält sich in Grenzen, meinte ich; das konnte ich bislang ganz gut bewältigen, ohne mich bewusst um mehr Mitgefühl bemühen zu müssen. Doch was Ulrike anspricht, passt gerade ziemlich gut zu meiner Hilflosigkeit. Sie sagt, prosoziales Verhalten sei Teil einer Lebenseinstellung und werde mit körpereigenen Opiaten belohnt. Der Wunsch, das Leiden anderer zu mindern, sei die Grundlage für ein friedliches Miteinander. Und das sei uns in dem momentanen Leistungs-System gerade ein bisschen abgegangen. Dort, wo nur der Wettbewerb belohnt wird, gehe die Bindung zu den Mitmenschen und der Zugang zu den Emotionen verloren. Die Folge: Stress, Burnout, Sprünge aus dem Bürofenster im zehnten Stock.
„Richte deine Aufmerksamkeit auf den Herzraum und spüre die natürliche Atembewegung“, sagt Ulrike. „Dann nutze deinen persönlichen Zugang zum Herzen, damit es sich öffnen kann.“
Herz-Meditation (20min): Man stellt einen geliebten Menschen vor und dehnt das Gefühl von Wärme allmählich aus: auf die eigene Person, auf Freunde, schwierige Personen, Fremde. So sollen Gefühle von Wohlwollen, Liebe und Fürsorge gegenüber sich selbst und anderen gestärkt werden.
Mein Zugang ist Henriette, meine adipöse Katze. Die schnurrende Inkarnation des Gleichmuts. Und zwar gute zwölf Pfund davon. Wenn ich an Henriette denke, dann ist die Welt gleich ein bisschen flauschiger. „Wende dich nun dir selbst zu und schenke dir liebevolle Selbstzuwendung“, sagt Ulrike weiter. Und dann kommen vier Glückskekswünsche, die mich einfach mal umhauen, weil sie die Schnittmenge aller menschlichen Bedürfnisse bilden – auch wenn sie etwas gestelzt sind. „Möge ich glücklich sein“, spricht Ulrike vor. „Möge ich mich sicher und geborgen fühlen. Möge ich gesund sein.“ Und ein Satz für mich: „Möge ich unbeschwert leben.“
Das Mitgefühl der Meditierchen
Mir wird warm ums Herz. Ich kann die Hitze in meinem Brustkorb spüren. Ein breites Lächeln auf meinem Gesicht. Ich weite die Wärme aus, erst auf meinen Körper, dann auf die Meditierchen um mich herum, dann auf meine Lieblingsmenschen, und noch weiter. Mitgefühl für alle. Die Energie wird schwächer, je weiter ich sie ausdehne, ihre Dosierung strecke. Dann schwindet meine Kraft, es ist schwierig. Trotzdem habe ich ein bisschen Glückseligkeit entfacht, einfach so, ohne Lieblingssong, ohne Blick aufs Meer, unabhängig. Ich bin hin und weg. Erst war ich von der Achtsamkeit überrascht, jetzt vom Glück.
Kann ich das noch verstärken? Werde ich nächsten Monat zu einem Perpetuum mobile der Glückseligkeit und verpuffe dann in einer Energiewolke? Klar ist: Meine emotionales Spektrum kann ich noch erweitern. Das merke ich bei der neuen Dyade.
Affekt-Dyade (10min): Es wird zu zweit meditiert, von Angesicht zu Angesicht oder über das Smartphone. Die wöchentlich wechselnden Partner erzählen einander, wie sie ein kürzliches Erlebnis emotional und körperlich empfunden haben. Der andere hört empathisch zu. So sollen Mitgefühl, Empathie und Dankbarkeit geschult werden.
Ich muss Thorsten beschreiben, was für mich angenehme und unangenehme Gefühle sind. Auf die schwierigen kann ich mich nicht besinnen. Bei den positiven merke ich, dass ich mir im Überschwang meist peinlich bin, wenn ich kichere und Blödsinn rede. Lieber sind mit die ruhigen, schönen Gefühle, auf einer Wellenlänge mit meinen Jungs, nostalisch auf dem Hügel, ein Bier, ein Lächeln, eine Karmawolke. Thorsten versteht das und hat Tränen in den Augen.
Ich muss erstmal gar nichts
Der Frühling ist explodiert und die Kirschbäume sind zugeknallt mit rosa Blüten, vielleicht seit Wochen schon. Mir fällt es zum ersten Mal auf. Die Achtsamkeit im Alltag lässt zu wünschen übrig. Ich komme gar nicht auf die Idee, an mein Herz zu denken und an gute Wünsche für Fahrgäste in der U-bahn. Aber ich bin gut drauf, vielleicht ist das ja schon etwas. Den anderen geht es auch so. Die Herzmeditation ist schön, das gute Gefühl funktioniert quasi mit einem Fingerschnippen. Die Dyaden mit Alex sind superwitzig. Cooler Typ, ein Punk, ein Kind, ein Filmspinner. Wir erzählen uns keine schwierigen Geschichten, es ist nichts mehr schwierig.
Der Druck von außen, die Macht schlechter Gedanken, der Stress, alles nicht mehr so schlimm. Ich bin sehr mit mir im Reinen und zufrieden. Ich bin nicht motiviert, etwas zu ändern. Ich mache kaum noch Sport, gehe nicht raus, denke nicht nach, stehe nur arrogant über den Dingen, über den Problemen, fühle mich besser als der Rest. Wenn ich Leute sehe, die sich fleißig 14 Stunden am Tag überarbeiten, dann denke ich: Macht ihr mal.
Wo soll das hinführen? Ich zweifle.
„Ich glaube, wir haben uns da eine Horde kleiner Egozentriker gezüchtet“, sagt Christina aus dem Labor.
Eine neue Haltung
Beim letzten Training reflektieren wir noch mal. Lothar hat seine Ernährung umgestellt, Ute Frieden mit ihrer sterbenden Mutter gefunden, Olaf hat sich das Rauchen abgewöhnt, Doris hat keine Kopfschmerzen mehr. Wir können unsere Gedanken ordnen, unsere Mitte finden. Aber in dieser Mitte sind die meisten von uns hängen geblieben. Vielleicht braucht es für das Mitgefühl doch mehr als nur ein paar Wochen Training.
Wir planen, wie wir weiter meditieren können. Mit Tonspur, oder traut sich jemand die Anleitung zu? Den Raum der Charité können wir vorerst weiter benutzen.
Auf den Dielen klebt Konfetti. Ich verfrachte Flaschen und Gläser in die Küche, ziehe einen Müllsack hinter mir her. Zu meiner Geburtstagsparty waren alle da. Meine Freunde haben mir die neue Hippieattitüde verziehen. Und ich habe mir die Meditationspredigten auf der Feier verkniffen. Was gar nicht so einfach war, denn mir sind permanent irgendwelche Zen-Ratschläge durch den Kopf gerauscht. Dass es hilfreich ist, sein dickes Fell abzulegen, wenn man mehr wahrnehmen möchte. Dass es leichter ist, hinter den Wasserfall der Gedanken zu treten und ihn vergnügt zu beobachten, anstatt sich von ihm ertränken lassen. Dass es nicht darum geht, ein Ziel zu erreichen. Sondern darum, eine Haltung zu kultivieren.
Eine halbleere Packung Studentenfutter, wieder sind nur die Rosinen übrig geblieben. Niemand mag Rosinen sonderlich. Ich picke mir eine aus der Tüte heraus und kaue zaghaft darauf herum. Prüfe ihren Geschmack, ihre Konsistenz. Rosinen haben Kerne. Ist mir nie aufgefallen. Ich nehme noch eine, fühle ihre Struktur, rieche an ihr, halte sie ans Ohr. Sie macht Geräusche. Rosinen knistern, hätten Sie’s gewusst?
von Philipp | 21 Mrz 2022 | Reportagen
erschienen in der GEO 11/2015
Zähflüssig verrinnen die Minuten, während ich mich von Buchstabe zu Silbe zu Satz zu Sinn hangele. So muss sich Legasthenie anfühlen. Ich kenne die Symbole, ich habe ihre Bedeutung auswendig gelernt. Doch trotzdem weigert sich mein Gehirn, die Zeichen miteinander zu verbinden. Es ist Buchstaben gewohnt. Keine roten, grünen, blauen Kästchen. Genau das soll aber in meinen Kopf: Jede Farbe steht für einen Buchstaben, ist fest mit ihm verknüpft. B zum Beispiel ist dunkelblau.
Der rechte Zeigefinger muss beim Lesen helfen. Wie damals in der Grundschule. Er leitet meinen Blick über die bunten Quadrate. Irgendwann ist der erste Absatz gemeistert. Die Unendlichkeit zweier voll beschriebener Seiten noch vor mir. Und das jeden Tag. Wochenlang.
Es hat ja auch keiner behauptet, es sei leicht, Synästhesie zu lernen.
Synästhesie. Der Begriff beschreibt die Verschmelzung mehrerer Sinneswahrnehmungen. Synästhetiker nehmen die gewöhnliche Welt auf eine ungewöhnliche Weise wahr. Stellen Sie sich vor, beim Lesen erschienen ihnen die Buchstaben in Farbe getaucht (genau das will ich erreichen). Stellen Sie sich vor, das Knarzen der Stufen in Ihrem Treppenhaus röche nach Pfefferminz. Stellen Sie sich vor, Sie trinken Zitronensaft und fühlten am ganzen Körper Spitzen, und die Zahlen, die sie auf dem Telefon wählen, kitzelten Sie an den Füßen.
Können Sie nicht? Geht mir ähnlich. Aber ich wollte, ich könnte.
Deshalb suchte ich das Sackler Centre for Consciousness Science auf, einen schnörkellos fensterarmen Backsteinklotz auf einem von Nebelschwaden umhüllten Campus der University of Sussex in Brighton. Das Hauptquartier der Synästhesie-Forschung schlechthin. Dort haben britische Wissenschaftler ein Training entwickelt, das über Denksport, Schnelllesen und Kreuzworträtsel hinaus reicht. Es soll auch Nicht-Synästhetiker wie mir den Weg bahnen in die attraktive Welt der übersinnlich Begabten.
Grapheme und Farben
Als ich von dieser Möglichkeit hörte, war ich elektrisiert. Denn Synästhetiker berichten nicht nur von surrealen Sinneswahrnehmungen. Sie gelten auch als ausgeglichen, sorgenfrei, psychisch stabil, begabt. Etlichen Genies wird Synästhesie nachgesagt. Goethe wird sie angedichtet, auch Baudelaire, van Gogh und dem Physiker Nikola Tesla. Kandinsky sowieso; wer seine Bilder betrachtet, begreift ohne synästhetisches Empfinden, wie Klänge auf einer Leinwand aussehen. Auch Lady Gaga behauptet, ihre Musik in Farbe und Form sehen zu können.
Ein bisschen mehr Kreativität, ein bisschen mehr Leichtigkeit, das wollte ich auch. Die Welt anders, intensiver wahrnehmen. Die grauen Zellen trainieren, bis sie Ungewöhnliches können. Übersinnliches, sozusagen.
Im Sackler Centre sitzt mir David Schwartzman mit verschränkten Beinen gegenüber und balanciert ein Diktiergerät auf seinem Knie. Ich starre an ihm vorbei an eine Wand, die eher einen neuen Anstrich als noch ein weiteres Poster über optische Täuschungen vertragen könnte, und überlege, ob ich Buchstaben mit bestimmten Farben verbinde. Naja, der Buchstabe T ist irgendwie magenta, sage ich. Damit wächst man auf, ob man will oder nicht. Der Neuropsychologe grinst mich durch seinen Buffalo-Bill-Bart hindurch an. Damit sei ich noch kein Synästhetiker, findet Schwartzman.
Aber durch sein Training könnte ich einer werden.
Die „Graphem-Farb-Synästhesie“, die ich lernen soll, ist die am weitesten verbreitete von 54 bekannten Synästhesien. Manchen Graphem-Farb-Synästhetikern erscheint ein zusätzlicher Sinneseindruck, fest verwoben in ihren Gedanken. Für andere ist es, als hätten sie einen Monitor vor Augen. Sie sehen die bunten Buchstaben auf einer transparenten Ebene über dem eigentlichen Text schweben.
Schwartzman und seine Kollegen Nicolas Rothen, Daniel Bor und Anil Seth versuchen, mit Gedächtnis- und Leseübungen bunte Assoziationen zu wecken. Neun Wochen lang werden mir mit einem Computerprogramm 13 Buchstaben-Farb-Kombinationen eingeimpft. Ein dunkelblaues B. Ein braunes D. Ein hellgrünes E, und so weiter. Jeden Tag werde ich Farb- und Buchstabenreihen abgefragt, die ich korrekt wiedergeben soll. Ich muss mit Geschwindigkeitstests die gelernten Farben verinnerlichen und Texte lesen, in denen Buchstaben durch ihre zugewiesenen Farbnuancen ersetzt sind.
„Nach unserem Training haben bislang alle Probanden von Farbwahrnehmungen berichtet, die denen echter Synästhetiker ähneln“, berichtet Schwartzman. Und ein schöner Nebeneffekt: Der Sussex-Studie zufolge habe sich ganz nebenbei auch der IQ der Teilnehmer um ein paar Punkte verbessert. Das Gehirn lässt sich offenbar wie ein Muskel trainieren. Nur dass es dabei nicht wesentlich an Masse zulegt, sondern an der Anzahl neuronaler Verknüpfungen.
Der Erfolg der Trainingsstudie zeigt, dass Synästhesie gelernt werden kann, zumindest teilweise. Für einen Lernanteil spricht auch ein Befund aus dem März 2015: Als US-amerikanische Forscher die Häufigkeit bestimmter Buchstaben-Farb-Kombis untersuchten, stellte sich heraus, dass in den 1970er und 1980er Jahren geborene Synästhetiker den Lettern besonders häufig jene Farben zuordneten, die auch die Buchstaben eines weit verbreiteten Magnetalphabets hatten. Denn viele Kinder meiner Generation haben das ABC nicht auf dem Papier gelernt. Während Mutti Mittag machte, heftete unsereins die ersten Worte an Kühlschranktüren. Und übernahm die Farbzuordnungen offenbar vom Spielzeug.
Das reicht natürlich nicht aus, um Synästhetiker zu werden. Dazu braucht es mehr.
Denn eines steht auch fest: Das Phänomen hat eine genetische Komponente. Es gibt Familien, in denen sich diese Art der Wahrnehmung häuft. Von Generation zu Generation weitergegeben wird dabei nicht unbedingt die Art der Synästhesie, sondern vielmehr die Veranlagung, Sinneserfahrungen zu mixen. Ein Vater mit Graphem-Farb-Synästhesie kann also durchaus eine Tochter haben, die Töne schmeckt.
„Eigentlich sind wir alle von Geburt an Synästhetiker“. – David Schwartzman, Neurowissenschaftler
Aber wie genau entsteht nun Synästhesie, welche Verschaltungen im Gehirn liegen dem Sinnesmix zugrunde? Neurowissenschaftler diskutieren vor allem zwei Theorien. Sie kursieren unter den (zunächst) kryptischen Schlagworten „enthemmtes Feedback“ und „Kreuzaktivierung“.
Wenn wir einen Gegenstand wahrnehmen, laufen seine verschiedenen Eigenschaften wie Form, Farbe, Geruch im Gehirn in einer zentralen Schaltstelle zusammen. Dort verschmelzen sie zu einem einheitlichen Sinneseindruck: Das Rechteck ist dunkelbraun und duftet nach Kakao – ein Stück Schokolade. Von dieser Schaltzentrale laufen auch Verbindungen zu anderen Sinnesmodalitäten, die allerdings blockiert sind: Das Braun der Schokolade ist normalerweise nicht mit einem Ton assoziiert.
Bei Synästhetikern aber, so denken sich das die Forscher, ist eben diese Blockade aufgehoben, ist das Feedback zu einem Hirnareal, das an der Wahrnehmung eigentlich nicht beteiligt ist, „enthemmt“. Daher der Name der Theorie. Das bedeutet allerdings auch: Synästhetiker haben – zumindest anatomisch gesehen – das gleiche Gehirn wie Nicht-Begabte. Ihr Gehirn funktioniert nur etwas anders.
Die Theorie der Kreuzaktivierung geht dagegen davon aus, dass bei Synästhetiker zusätzliche Verschaltungen zwischen Neuronen vorhanden sind. Und diese seien Überbleibsel aus der Baby-Zeit. „Denn eigentlich sind wir alle von Geburt an Synästhetiker“, erklärt Schwartzman. Nur verlieren die meisten diese Begabung. Bei Neugeborenen ist das Gehirn für alle Eventualitäten gewappnet, zwischen Nervenzellen existieren Verknüpfungen im Überfluss. Die Sinne fließen noch ineinander.
Unbewusste Gabe
Die Umwelt bestimmt dann, was überlebt. Jene Schaltkreise, die häufig gereizt werden, bleiben erhalten, ja werden sogar verstärkt. Jene, die kaum Signale erhalten, verkümmern. So optimiert sich das Gehirn selbst für die Anforderungen des Lebens.
Bei Synästhetikern wird der ursprüngliche Wildwuchs an Neuronen eben nicht so stark ausgedünnt. Die Forscher aus Sussex sind überzeugt, dass es für Normal-Sinnliche quasi einen Weg zurück gibt, dass sich verlorengegangene Verknüpfungen reaktivieren lassen.
Der Club der genialen Synästhetiker ist also vielleicht gar nicht so elitär. Man kann ihm womöglich nachträglich beitreten.
Laut Sackler Center erlebt eine von 23 Personen die Welt als Synästhetiker. Die Quote variiert jedoch, denn oft ist Synästhetikern gar nicht bewusst, welche Gabe sie haben. Wer kann schon beurteilen, wie er selbst die Welt sieht und wie es andere tun.
Zudem waren Farbenfühlen und Gerüchesehen nicht schon immer erstrebenswert. Lange galt Synästhesie als Hirngespinst, das man entweder geheim hielt oder der Poesie überließ. Dichter nutzten den Sinnesmix als Stilmittel, prägten so die Epoche der Romantik und ließen vor 200 Jahren wie Clemens Brentano „Töne golden niederweh’n“.
Heute steht jedenfalls fest: „Synästhesie ist keine Phantasterei. Sie kann nachgewiesen werden!“, sagt Schwartzman entschlossen und zieht mir mit ebenso viel Entschlossenheit eine Badekappe über die Ohren.
Sicheln und Scheiben blitzen auf
In einem zappendusteren Kämmerchen starre ich auf einen Monitor, der mir ein langweiliges Schachbrett präsentiert. Seine Felder springen ansatzlos hin und her, schwarz wird weiß und weiß wird schwarz. Meine Augen suchen Halt. Zwei Tassen Kaffee halten mich munter, derweil die verkabelten Elektroden in der Badekappe meine Hirnströme messen. Die Aktivität der Sehrinde sei ein guter Indikator für Synästhesie, ruft Schwartzman durch die Tür. „Je höher die Amplitude auf dem EEG, desto mehr Neuronen feuern durch den visuellen Kortex.“
Und je mehr Feuer unterm Schädeldach, desto näher die Synästhesie.
Weitere Hinweise auf ein synästhetisches Gehirn liefert die „Transkranielle Magnetstimulation“, kurz: TMS. Bei dieser Methode durchdringt ein magnetischer Impuls die Schädeldecke und beeinflusst die Neuronen. An der University of Oxford untersuchte der Hirnforscher Devin Terhune die Farbwahrnehmung von Graphem-Farb-Synästhetikern. Ein kurzes „Zapp“ mit dem TMS – und schon sieht der Proband Farben und Formen aufblitzen. Terhune stellte fest, dass die Reizschwelle bei Synästhetikern deutlich niedriger liegt als bei Nicht-Synästhetikern. Bereits ein Drittel des TMS-Impulses reicht bei ihnen aus, um visuelle Effekte auszulösen.
Testweise setzt David Schwartzman das TMS an meinem Kopf an und lässt meinen kleinen Finger zucken. Ich bin gleichermaßen erstaunt und erschrocken ob der Präzision der Magnetimpulse. Dann richtet der Wissenschaftler den Magneten auf meinen visuellen Kortex. Zapp. Vor meinen verschlossenen Augen blitzt etwas Sichelförmiges auf. Dann eine konvexe Linse. Dann eine Scheibe. Die Vision ist kurz und sehr diffus, aber sie genügt dem Hirnforscher. Er notiert meine Beschreibung auf einen Zettel. Mal sehen, welche Bilder das TMS beim nächsten Mal erzeugt, sagt Schwartzman und entlässt mich ins Synästhesie-Training.
Ein gelbes Y
Ein grünes G, ein hellblaues I, ein orangefarbenes O. Wochenlang sitze ich mindestens eine Stunde am Tag vor meinem Tablet und übe. Farben und Buchstaben füllen das Display. Ich merke mir Buchstabenfolgen, die immer länger werden, wenn ich sie richtig wiedergebe. Ich tippe auf Felder in einer Farbpalette, die immer schneller verschwinden, wenn ich richtig liege. Ein rosafarbenes P, ein lilafarbenes Q, ein rotes R.
Ich und Farben. Meine Fähigkeit, Farbnuancen voneinander zu unterscheiden, ist miserabel, mein Kleidungsstil bestätigt das. Bis heute irritiere ich Freunde und Verwandte, wenn ich in beißenden Tönen aufkreuze, oftmals unangemessen, immer quietschbunt. So bunt wie die Wörter, die ich bald in Büchern, Zeitschriften und auf Websites lesen möchte. Schillernd sollen sie sich durch meine Lektüre ziehen und eine farbenfrohe Welt der Sprache eröffnen. So stelle ich mir das jedenfalls vor. Ein graues U, ein weißes W, ein schwarzes X.
Voller Ehrgeiz lerne ich Farben und Buchstaben, präge mir alles ein, wiederhole, wiederhole, wiederhole. Manche Farben passen gut zu ihren Buchstaben, findet mein Gehirn. Andere Paarungen wollen sich die grauen Zellen auf Teufel komm raus nicht merken. Doch so viel ich auch übe: So spektakulär wie erhofft will sich die Synästhesie nicht entfalten. Ich begegne ihr allerhöchstens während meiner Übungen und unmittelbar danach, nie im Alltag. Einmal entzückt mich ein Y, als ich eine Email schreibe. Es taucht einfach so mitten in einem Absatz auf, und zwar viel gelber als es sein sollte.
Doch wie viel hat das, was mit mir passiert, mit Synästhesie zu tun? Arbeitet mein Gehirn bereits synästhetisch und aktiviert andere Areale, sobald der visuelle Kortex stimuliert wird? Oder lerne ich die Buchstaben-Farb-Duos auswendig wie Vokabeln?
Hinter der Augenschranke
Ich treffe mich mit Uta. Ich möchte erfahren, was meine gelernte von der vererbten Synästhesie unterscheidet. Die Physikerin ist „eine gewöhnliche Wald- und Wiesen-Synästhetikerin“, wie sie sagt. „Wenn ich einen Text vor mir habe, dann ist der auch zunächst schwarz auf weiß“, erklärt Uta. „Erst hinter der Augenschranke wird’s bunt.“ Buchstaben haben eindeutige Farben, die bei längeren Wörtern zu Farbbändern verschwimmen. Als ob man mit einem Pinsel quer über die feuchten Farben wischt, sagt sie. „Hätte ich mir das jedoch bewusst ausgesucht, hätte ich kontrastreichere Farben gewählt.“
Meine Trainingseinheiten werden länger. Woche für Woche graben sich die Farben tiefer ins Unterbewusstsein. Immer häufiger quetschen sich dicke Farbblöcke in meine Gedankenkreisel, direkt zwischen Erinnerungen und To-do-Listen. Die Synästhesie scheint gegenwärtig – aber ich lese keine bunten Buchstaben. Ich denke an die Farben, die ich gelernt habe. Doch ich sehe sie nicht.
Vor mir ein Aufsatz aus kryptischen Farbenfolgen. Manche erkenne ich auf Anhieb. Andere bringen mich zur Verzweiflung. Pink, hellgrün, orange, pink, dazwischen ein L, hellgrün, weiß, hellblau, ein T, ein H, rot, hellgrün, ein A, braun, hellblau, ein N, grün, pink, rot, orange, blau, noch ein L, hellgrün, ein M, ein S.
P-e-o-p-l-e-w-i-t-h-r-e-a-d-i-n-g-p-r-o-b-l-e-m-s? Solche Leute sind mir inzwischen vertraut.
Superhirn braucht Disziplin
Zurück in Sussex. David Schwartzman kommt mir mit zwei Bechern Kaffee entgegen, gewohnt lächelnd und bärtig, und fragt, wie es mit dem Training gelaufen sei. Ich verrate ihm nicht, dass ich bei den letzten drei Leseübungen geschummelt habe. Ich habe die Texte – Zeitschriften- und Fachartikel – anhand von Titel und Autor gegoogelt und im Buchstabenoriginal gelesen. Die grauen Zellen wollten nicht länger knobeln. Ein Superhirn verlangt wohl mehr Disziplin.
Doch im Labor spüre ich ein paar Veränderungen. Während des EEG nimmt das Schachbrett auf dem Monitor wesentlich schärfere Konturen an. Über den springenden Feldern spannt sich ein blau-grünes Netz und schwimmt durch mein Sichtfeld. Der visuelle Kortex macht Faxen. Das bestätigt auch die verkabelte Badekappe. Bei der Messung meiner Hirnströme schlägt die Amplitude deutlich höher aus als beim ersten Test. Auch das TMS sorgt für intensiveres Kopfkino. Die Magnetimpulse malen viel hellere Lichtblitze auf meine geschlossenen Lider. Ich nehme stärkere Kontraste wahr, Linien, Bögen.
Ist doch etwas in meinen Hirn passiert?
Es ist. Der finale „Stroop-Test“ zeigt es. Ich soll die Farben einer Reihe bunter Buchstaben in ein Mikrofon sprechen. Wie albern, denke ich und lächle. Schwartzman lächelt zurück, das Ergebnis ahnend. Ein rotes A. Ein blaues B. Ein gelbes C. Kein Problem, natürlich. Doch dann blockiert mein Hirn: Das E müsste doch hellgrün sein, so hellgrün wie immer! Aber es ist rosa, so rosa wie ein P. Mein Kopf fühlt sich an, als würden sich gerade Neuronen verknoten. Bis ich mich überwinden kann, die vorgegebene Farbe anzusagen, verstreichen Sekunden.
Hirn manipuliert
Ein Highfive von David Schwartzman, willkommen im Club der Synästhetiker. Jedenfalls nach der Definition der Sussex-Forscher. Richtig, ich ordne Buchstaben Farben zu. Ja, sie sind fest und unverwechselbar mit den Symbolen verknüpft, Abweichungen (wie das pinke E) lösen einen Konflikt aus. Darüber hinaus ist bei Magnetstimulation meine Reizschwelle für die Farbwahrnehmung gesunken – um 16 Prozent.
Die Kriterien sind erfüllt: Mein Hirn wurde mit relativ einfachen Mitteln manipuliert.
Für die Wissenschaftler an der University of Sussex ist die Synästhesie ein überschaubarer Schauplatz auf dem so schwer zu erschließenden Gebiet der Hirnforschung. Man kann sie messen, man kann experimentelle Bedingungen variieren – und man kann sie offenbar hervorrufen. Über diesen Weg wollen die Wissenschaftler mehr darüber erfahren, wie unser Gehirn auf äußere Reize reagiert, wie es sich anpasst. Gezeigt hat sich, dass sich Wahrnehmung durch simples Training verändern kann. David Schwartzman und seine Kollegen hoffen nun, mit ihren Erkenntnissen zur Behandlung von Krankheiten wie ADHS oder Demenz beizutragen.
Ich habe mir das allerdings anders vorgestellt. Bunter, weniger banal. Ich wollte Farben in meine Umgebung projiziert erleben. Wie fast die Hälfte der Sussex-Probanden es behauptet. Doch die Bilder sind nur in meinem Kopf. Meine Qs sind von nun an eben lila. Schließlich habe ich mir jeden Tag lila Qs angesehen. Habe Termine abgesagt, um trainieren zu können, bin nicht ans Telefon gegangen, weil gerade das Programm lief. Lila Qs sind doch ganz normal, sage ich. „Eine angeborene Synästhesie ist das doch auch: ganz normal“, antwortet Schwartzman.
bouba und kiki
Synästhesie ist deshalb ein so mysteriöses Phänomen, weil sie sich individuell entwickelt. Sie kann wissenschaftlich nachgewiesen werden, doch wie und wie intensiv sie wahrgenommen wird, das variiert von Person zu Person. Und es bleibt immer die Frage: Ist das eine genuine, eine echte Synästhesie? Vor kurzem zum Beispiel fiel einer Kollegin auf, dass ihre Zahlen männlich oder weiblich sind. Und mir selbst, dass meine Wochentage Farben haben. Schuld ist das Layout einer Fernsehzeitung aus den 1990er Jahren. Als echte Synästhetiker würden wir uns beide nicht bezeichnen.
Beat Meier von der Universität in Bern sagt, dass es einen kontinuierlichen Übergang zwischen tatsächlicher Synästhesie und einer einstudierten Assoziation von Buchstaben und Farben gibt. Und man kann diesen Gedanken noch weiter spinnen: Warum „sprechen“ Metaphern zu uns allen, über Kontinente und Kulturen hinweg? Fast jeder findet, dass das Kunstwort „kiki“ irgendwie stachelig klingt, während „bouba“ eher kurvige Formen annimmt. Fast jeder unterscheidet Vokale in eher helle und eher dunkle Laute, vielleicht sogar in verschieden farbige. Und für fast jeden schmeckt Süßes rund, Saures spitz. Vielleicht liegt es ja daran, dass auch bei uns „Normalen“ die Sinne nicht völlig unabhängig voneinander funktionieren. Dass sie zusammen spielen. Dass wir eben alle Synästhetiker sind, ein kleines bisschen zumindest.
Text und Bild: Philipp Brandstädter
Quellen
Harrison, John (2001): Wenn Farben Töne haben. Eintrag zu Baudelaire auf S. 112/113, zu Kandinsky auf S. 120.
Interview mit Lady Gaga
Julia Simner (2013)
Bor et al. (2014)
Witthoft (2015)
Spector/Maurer (2009)
http://wortwuchs.net/stilmittel/synaesthesie
Rothen/Meier (2014)
Ramachandran/Hubbard (2001)
von Philipp | 15 Jan 2022 | Reisen
erschienen im Walden Outdoor-Magazin Nr. 4, 2016
Von Nostalgie vernebelt schauen wir auf das Tal hinab. Ich und der nackte Typ mit der versteinerten Mine, den hier alle nur Herkules nennen. Wir gucken am Neptunbassin, dem Fontänenteich, dem Schloss und der jahrhundertealten Gartenkunst vorbei auf die Stadt und staunen uns wortlos an.
Der Bergpark Wilhelmshöhe ist ein gern besuchter Rückzugsort für alle Kasseler, Kasselaner und Kasseläner, wenn sie mal abschalten müssen. Wenn ihre Huskies in der Eissporthalle oder ihr KSV im Auestadion wieder einmal ein Heimspiel vergeigt haben. Oder wenn sie sich wieder einmal zu oft anhören mussten, dass ihre Stadt nur eine von alliierter Konsequenz planierte und pragmatisch wieder aufgebaute Unzumutbarkeit sei, die alle fünf Jahre mit den Relikten einer zeitgenössischen Kunstausstellung gespickt wird, weil den Schrott sonst keiner haben und für dessen fachgerechte Entsorgung niemand aufkommen wollte.
Unter Herkules und mir die Stadt. Drei Stunden bin ich schon durch den Bergpark getingelt. Bin bis zur Endhaltestelle Wilhelmshöhe gefahren und habe mir dann die Bauten und Seen und Grotten, die Teufelsbrücke, das Aquädukt und die Löwenburg angesehen. Dann die gefühlten zehntausend Stufen an den Kaskaden hinauf zum Herkules, dem Wahrzeichen der Stadt. Die Bergparkbesucher treten bereits ihren Heimweg an. Fußball gucken. Oder im Garten grillen, sicherheitshalber unterm Balkon oder Pavillon. Denn der Himmel zieht sich allmählich zu.
Von Herkules in den Wald
Mir ist die Gegend durchaus vertraut. Aber weiter hinaus als bis zur sorgfältig gepflegten Gartenkunst der Wilhelmshöhe bin ich nie gewandert. Der Herkules ist bislang immer Ausflugsziel gewesen, nie der Startpunkt. Dabei erstreckt sich hinter ihm der Habichtswald. Ich will ihn in einem größeren Bogen bis zum Silbersee durchstreifen, entscheide ich mit einem Blick auf eine Wandertafel. Ein Badesee mitten im Wald, im Schutze eines verlassenen Steinbruchs klingt verlockend.
Zugegeben, mir wird ein bisschen mulmig. Schließlich lernt doch jedes Kind: Wenn ein Gewitter aufzieht oder die Sonne untergeht: ab nach Hause. Für gewöhnlich tritt man den Heimweg an, anstatt schnurstracks in den Wald hinein zu schlurfen. Aber genau das ist mein Plan. Ich möchte der Stadt und ihren Bewohnern entfliehen. Auch hinter dem Park im Habichtswald zwischen Kassel und seinen Nachbarorten, Bundesstraße und Autobahn ist eigentlich nicht allzu viel Platz für unberührte Natur. Findet auch Google Maps, bevor mein Handy bei seiner vergeblichen Suche nach einem GPS-Signal den Geist aufgibt.
Vor mir die Wildnis
An einem sonnigen Sonntagnachmittag gehören die vorbildlich ausgeschilderten Waldwege noch den Spazierfamilien. Jetzt aber, bei Dämmerung und unbeständigem Wetter, gehört das Terrain mir allein. Auf den letzten Metern in den Wald kommt mir noch ein ergrauter Jogger entgegen, der mich und den dunkler werdenden Himmel skeptisch im Wechsel mustert. Er ist der letzte Mensch, den ich an diesem Tag zu Gesicht bekomme. Hinter mir die Lichter der Stadt, vor mir die Wildnis.
Der Wald riecht nach feuchtem Moos und Matsch und den frisch geschlagenen Festmetern, die sich in Reih und Glied am Wegesrand stapeln. Zwei wärmeverliebte Mücken umschwärmen mich. Ich bilde mir ein, es seien immer dieselben, über Kilometer hinweg. Dann geht die Welt unter. Es blitzt, es grollt, eine kurze Windböe rauscht durch die Baumwipfel – und schon fängt es an zu schütten. Die Mücken fliehen unter ein Ahornblatt ihrer Wahl und ich bin froh, nicht ganz so herkulesnackt auf der Wilhelmshöhe zu sein.
Ich zerre meine Regenjacke und eine Plane aus meinem Rucksack hervor, stelle mich an einem Rastplatz unter und checke meine Ausrüstung: Hängematte, Regenklamotten, Stirnlampe, Proviant, Kamera. Ein Zelt habe ich mir gespart. Schließlich bin ich nicht im Nirgendwo, sondern halbwegs vor der Haustür. Wenn das Wetter so gar nicht mitspielt, muss ich eben wieder zurück. Doch Minuten später bricht die Sonne wieder durch die Wolken. Und ich habe sie ganz für mich allein.
Schwer zu verlaufen
Der Kasselsteig zieht sich auf rund 160 Kilometern einmal um die Stadt. Seine erste Etappe verläuft durch den Habichtswald. Dort gibt es am Wegesrand etliche kleine Seen und Sehenswürdigkeiten zu begucken. Die Igelsburg, die Grabmäler der Künstlernekropole, die ein paar Freaks errichtet haben, um sich irgendwann dort bestatten zu lassen.
Auf dem Asphalt bis zum Waldhotel Elfbuchen kann man sich nicht wirklich verlaufen. Erst danach beginnt die Natur und führt auf matschigen Trampelpfaden hinein in den Märchenwald, wo das Gros der Grimmschen Sagen entstanden sein soll. Manche von ihnen werden bis heute in einer Waldhüttensiedlung am Hang des Hühnerbergs nachgespielt. Ich überlege kurz, ob ich rotzfrech eine dieser Hütten als Nachtquartier wählen sollte, bis ich bemerke, dass eines der Häuschen bewohnt ist. Die Tür steht offen, harziger Rauch steigt aus dem Metallrohr am Wellblechdach empor – und ich feige Nuss traue mich nicht, wenigstens mal anzuklopfen.
Eine knappe Stunde später stehe ich am Silbersee. Behauptet jedenfalls ein Wegweiser. Ich kann nur weit und breit weder Ufer noch Wasser entdecken. Bis ich merke, dass ich direkt davor stehe. Der Silbersee ist klatschgrün und nicht silber. Seine Wasseroberfläche lückenlos von Entengrütze und Gräsern bedeckt. Ein Reiher verharrt regslos im Schilf. Ich werde ihm seinen Platz nicht streitig machen. Ich drehe mich um – und traue meinen Augen nicht.
Good old sundown
Der Sonnenuntergang an der Lichtung des Waldes verschlägt mir den Atem. Für wenige Sekunden werden der Hügel und die davor liegenden Felder in ein so verkitschtes, unwirkliches Gold gepresst, dass ich nur ungläubig den Kopf schütteln kann. Ich opfere den heiligen Augenblick der vernünftigen Entscheidung, das letzte Tageslicht zu nutzen, um mein Lager aufzubauen.
Entsprechend dahingepfuscht präsentiert sich schließlich meine zwischen zwei Buchen geknotete Schlafkonstruktion aus Hängematte und Moskitonetz. Professionell geht anders, aber dafür bin ich fix. Fixer jedenfalls als ich mir im Dunkeln die Kontaktlinsen aus den Augen pfriemeln kann. Verrichteter Dinge werfe ich mich zufrieden in die Matte, mache mir im Lichtkegel meiner Stirnlampe noch ein Feierabendbier auf und schnippe mir lässig eine Zecke vom Handrücken. Die Sache mit dem schützenden Blutsaugernetz hätte ich vielleicht doch vorher mal üben sollen.
Ich krame in Erinnerungen. Willst du Hustle, komm‘ nach Kassel, scherzte damals ein Freund, als ich aus Berufsgründen hierher zog. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mit der Stadt warm wurde – auch wenn sie so viel schöner ist als ihr Ruf. Die ersten paar Wochen habe ich nur gearbeitet und geschlafen und bin am Wochenende sofort nach Hause. Dann hat mich die Stadt gepackt. Zuerst ihr Nachtleben. Die Bars auf der Friedrich-Ebert-Straße, die Konzerte im Schlachthof, die Abstürze in den Clubs. Drei bis vier Stunden Schlaf mussten von nun an reichen. Ich denke an meine Mitbewohner Johannes und Tina, unsere WG-Partys, unsere Küchengespräche. Ob ich heute Nacht ein Auge zu kriege?
Tiere und Kirmes
Ein Kauz krakeelt in den Wipfeln, der Wind trägt bruchstückhaft die Neunzigermucke einer Dorfkirmes aus dem Tal hinauf, ein Motorrad prollt die B irgendwas entlang. Der Regen setzt wieder ein. Nieselt mir durch das Netz hindurch aufs Gesicht. Am Geräusch der Tropfen auf den Blättern versuche ich noch zu erkennen, ob und wann mein Nachtlager von den Fluten fortgespült wird. Dann sinke ich in einen traumlosen Schlaf.
Zur blauen Stunde hämmert mich schließlich ein Buntspecht aus der Hängematte. Ich sortiere mich. Die Klamotten feucht von Tau und Niesel, eine Schnecke hat sich in meiner Bierdose verkrochen. Die Stunden, die hinter mir liegen: unwirklich. Sonst alles in Ordnung.
Der Wald, die Grabstätte, die Hexenhäuschen, der See – und dann dieser Sonnenuntergang. Und vor allem: diese herrliche Einsamkeit. So ein abendlicher City Hike ist ein greifbares Abenteuer. Irgendwie schön zu wissen, selbst in Stadtnähe ein Stück Wildnis für sich zu haben. Einfach, weil nicht jeder bereit ist, die paar Schritte mehr zu machen als die Masse. Ich packe meine Sachen und trete auf müden Beinen den Heimweg an. Am Blauen See wasche ich mir Gesicht und Füße, dann lasse ich mich irgendwo im Norden der Stadt vom Wald ausspucken.
Hinter meiner Sonnenbrille verstecke ich mich vor der Sonntagslaune der Gassigeher, Brötchenholer und Spielplatzkinder. Mein Zustand ähnelt dem der Clubgänger, die sich nach durchfeierter Nacht auf ihren reuevollen Heimweg vorbereiten. Genau wie sie freue ich mich wie blöd auf eine Dusche und mein Bett. Wir sind erschöpft, etwas dunnhäutig, aber glücklich.
von Philipp | 30 Dez 2021 | Reportagen, Sachtexte
erschienen in der GEO 08/2019
Hamburger Hafengeburtstag, Hunderttausende Besucher. Und einer steht dumm rum. Oder sagen wir: logistisch unvorteilhaft. Auf der Fußgängerbrücke, die von der U-Bahn zu den St. Pauli-Landungsbrücken führt, ist im schlendernden Strom der Menschenmenge ein Mann mit beachtlicher Leibesfülle abrupt stehen geblieben. Er kramt sein Smartphone aus der Gürteltasche hervor, um den Pegelturm des Hafens zu filmen. Menschen werden langsamer, Menschen weichen aus, Menschen bleiben stehen. Menschen rempeln, einer aus Versehen, ein anderer mehr so absichtlich.
Ein zweistöckiger Baustellencontainer, einhundert Meter die Promenade hinunter. Eingepfercht zwischen Regalen, Aktenordnern, Computern und Mateflaschen, verfolgt eine Gruppe von Wissenschaftlern das Geschehen auf einem Monitor: Wo sich hinter dem Herrn auf der Brücke immer mehr Fußgänger stauen, überlagert eine farbige Wolke das Bild. Anfangs noch grün, dann gelb, jetzt tiefrot. Ähnlich einer Wetterkarte zeigt die „Heatmap“, dass sich da etwas zusammenbraut. Nämlich eine sehr dichte Menschenmenge.
Wäre dies der richtige Moment, um Sicherheitskräfte loszuschicken?
Spätestens seit der Loveparade in Duisburg kreisen diese Bilder im Kopf: zu viele Menschen auf zu wenig Raum. Sie verlieren den Halt, stürzen, oder werden hilflos gegen Wände und Zäune gedrückt. In Duisburg starben 21 Musikfans. Beim Hadsch in Mekka 2015 über 1800 Pilger. Und in Turin wurden 2017 bei einem Public Viewing 1500 Fußballfans verletzt, aufgeschreckt durch Feuerwerkskörper. Denn auch die Angst vor Anschlägen ist gewachsen. Bataclan. Nizza. Breitscheidplatz.
Wie verhalten wir uns?
Die Sicherheitskonzepte für Großveranstaltungen werden deshalb immer ausgefeilter. Dabei hilft es zu wissen: Wie verhält sich der Mensch in der Masse? Wann wird Gedränge gefährlich? Und wann entsteht Panik?
Fragen, die bisher erstaunlich schwer zu beantworten waren.
Feldexperimente zur Simulation von Gedränge: kaum möglich, weil hochgradig unethisch. Niemand darf im Dienste der Forschung Probanden gezielt in Panik versetzen. Wie sich Menschen in der Masse bewegen, in der Wissenschaft auch englisch „Crowd“ genannt, haben Katastrophenforscher bisher vor allem von kleineren auf größere Gruppen hochgerechnet; wie sie sich in Notsituationen verhalten, von historischen Tragödien abgeleitet. Der Großbrand im Beverly Hills Club. Das Flugzeugunglück in Ramstein. Die Tragödie im Fußballstadion von Hillsborough. Die Loveparade. Augenzeugenberichte sind dabei jedoch aufgrund ihrer oft verzerrten Wahrnehmung skeptisch zu betrachten. Sachlichere Analysen erlauben in jüngerer Zeit die vielen privaten Handyaufnahmen und der Einsatz von Überwachungskameras. Allerdings lässt sich selbst daraus nicht ablesen, wie viele Menschen sich gerade auf einem Quadratmeter drängen. Die Kameraperspektive trügt.
Doch neuerdings entwickelt sich die zivile Sicherheitsforschung zu einer eigenen, fachübergreifenden Disziplin. Auch im Hamburger Baucontainer sitzen Informatiker, Mathematiker, Psychologen, Sicherheitsberater und Juristen zusammen. Im Rahmen des deutsch-französischen Forschungsprojektes S2ucre entwickeln sie neue Sicherheitstechnologien für Großevents in „unübersichtlichen Umgebungen“. Dort also, wo das Gelände weitläufig ist, der Zugang nicht kontrollierbar: Marathons, Fanmeilen, Volksfeste. Der Hafengeburtstag ist dafür das perfekte Forschungsobjekt. Und die Fußgängerbrücke im Besonderen.
Die Crowd im Blick
„Hier kommt es immer wieder zu Gedränge, aber zum Glück passiert nichts Schlimmes“, erklärt Sascha Voth, den Blick auf die rote Wolke der Heatmap geheftet. Der Informatiker vom Fraunhofer Institut in Frankfurt braucht „eine gewisse Menschendichte“, um den Algorithmus der Heatmap zu trainieren: die erste videobasierte Technik, mit der sich die genaue Personenzahl pro Quadratmeter ermitteln lässt. Und zwar live.
Dazu haben Voth und seine Kollegen im Vorfeld das Gelände mithilfe von Drohnen kartiert, ein 3D-Modell erstellt und Videokameras installiert. Jetzt rechnet eine künstliche Intelligenz den Einfluss der Kameraperspektiven heraus und stellt die Menschendichte auf dem Videobild farblich dar. Auch auffällige Veränderungen im Bewegungsfluss der Fußgänger markiert sie.
So soll ein „Crowd-Manager“ zukünftig auf einen Blick sehen: Wo ist die Menge besonders dicht? Fließt oder stockt sie? Strömt sie schnell zusammen oder auseinander, weil etwas Ungewöhnliches passiert ist?
Gegebenenfalls kann er mithilfe der ferngesteuerten Kameras genauer hinschauen. „Ob eingegriffen werden soll, entscheidet immer noch der Mensch“, betont Voth.
Die Kameras liefern so hochauflösende Bilder, dass selbst XY zu erkennen ist. Aber kein Gesicht, dafür sind die Blickwinkel zu steil. „Gesichtserkennung ist bei uns ganz bewusst nicht gewünscht“, so Voth. „Wir wollen wirklich nur die Informationen nutzen, die wir für die Dichtemessung brauchen.“ Privacy by Design nennen das die Forscher. Und damit ihr Design auch mit der neuen Datenschutzgrundverordnung vereinbar ist, sitzen Juristen von der Goethe Universität in Frankfurt mit im Container.
Noch komplizierter dürfte der Datenschutz auf französischer Projektseite sein: Dort entwickeln Forscher in Zusammenarbeit mit der Pariser Polizeibehörde videogestützte Systeme, die verdächtige Aktivitäten und aggressives Verhalten melden sollen – und polizeilich bekannte Straftäter im Blick behalten.
Neben Voth bereiten Informatiker und Mathematiker von der Hochschule München schon den nächsten technischen Schritt vor: Beim kommenden Hafengeburtstag soll die Heatmap in eine Simulation übergehen, ähnlich wie der Wetterbericht in eine Vorhersage: Wie wird sich die Crowd auf der Brücke in den nächsten Minuten verhalten?
Dann könnten Ordnungskräfte schon eingreifen, bevor das Gedränge überhaupt eskaliert.
Beim aktuellen Stau gibt die Heatmap bereits Entwarnung. Der Mann, der den Fußgängerfluss aufgehalten hat, geht weiter. Die Wolke über dem Videobild wechselt von rot zu grün.
Was wäre wenn?
Massive Betonpoller rahmen den Hamburger Hafen ein, damit kein Lastwagen die Straßensperren durchbricht. Die Polizei zeigt Präsenz auf der Fußgängermeile. Ordner stellen sicher, dass die Notausgänge und Feuerwehrzufahrten frei bleiben. Und an allen Pontons, dass nicht zu viele Menschen ans Wasser drängen.
Florian Sesser erkundet das Gelände. Der 34-jährige Gründer von accu:rate, einem Münchener Start-up für Crowd-Simulation, hat das Programm entwickelt, mit dem die Heatmap verknüpft werden soll.
Zur Planung von Großveranstaltungen wie dem Oktoberfest oder der Hanse Sail ist es bereits im Einsatz: Auf der Basis virtueller Geländepläne simuliert es Besucherströme. Wie verteilen sie sich, wohin bewegen sie sich im Fluchtfall? So lässt sich durchspielen, wie ein Publikum schnellstmöglich evakuiert werden kann. Wie breit die Fluchtwege sein müssen. Wo man Notausgänge freihalten muss.
„Bisher können wir so etwas nur im Vorfeld einer Veranstaltung durchspielen, nicht während sie stattfindet“, so Sesser. Dazu braucht er die ständig aktualsierte Besucherdichte. Und viel Rechenkapazität.
Simulationsprogramme werden im Katastrophenschutz immer mehr an Bedeutung gewinnen. Konnten Einsatzkräfte bisher Übungen nur nach einem vorher festgelegtem Script durchführen, spielen Forscher die Auswirkungen von Anschlägen, Bränden, Naturkatastrophen und Seuchen auf Metropolen neuerdings auch am Großrechner durch. Dabei fließen nicht nur die lokalen Gegebenheiten mit ein, der Pixelbevölkerung sind auch unterschiedliche Verhaltensweisen einprogammiert: Manche Gruppen verlassen so schnell wie möglich das Gebiet, andere suchen Verstecke oder Krankenhäuser auf.
Auch Florian Sesser kann einige Eingeschaften seiner virtuellen Probanden verändern: Größe und Alter etwa, das beeinflusst die Gehgeschwindigkeit. Oder der Anteil von Familien. Wenn etwa an einem Sonntagnachmittag viele Eltern mit Kindern unterwegs sind, kann sich die „Entfluchtungsdauer“ verdoppeln.
„Aber vieles geht bei solchen Berechnungen noch im Gesetz der großen Zahlen unter“, sagt Sesser. „Dass jemand kopflos in die falsche Richtung läuft, kommt bei uns nicht vor.“
Zukünftig sollen jedoch auch psychologische Faktoren mit in die Simulation einfließen.
Die Macht der Masse
Gesine Hofinger, Gründerin des Team HF, Human Factors, steht auf dem Forschungscontainer und beobachtet Leute. Niemand scheint sich im Gedränge unwohl zu fühlen, niemand hat es eilig. Die Besucher schlendern, ändern ihre Richtung, bleiben stehen, kramen in ihren Taschen, werden zu Hindernissen. Sie lassen sich treiben und lassen sich locken. Von angenehmen Gerüchen und bunten Lichtern.
Hofinger analysiert ihre Bewegungen. Sie weiß, welche Bühnen und Buden die größten Besuchermagnete sind und wie man mit dem Ansturm auf sie umgeht. Etwa, dass man die zurzeit so beliebten Handbrot-Stände besser um neunzig Grad versetzt aufbauen sollte, damit die Warteschlangen davor nicht stören. Ein besonderes Augenmerk hat sie auf Gruppen. Deren Bewegungen zu verstehen, könnte die Simulation von Menschenströmen wesentlich verbessern.
„Gruppen bleiben zusammen“, so die Psychologin. „Sie suchen gemeinsam Schutz oder fliehen gemeinsam. Auch wenn das im Ernstfall wertvolle Zeit kostet.“
Aber wer gehört zusammen? Eltern mit ihren Kindern, Junggesellentruppen im Partnerlook lassen sich leicht erkennen. Andere Gruppen nur an ihren Bewegungsmustern im Gedränge. Drei oder vier Personen bilden eine Art V-Form, noch mehr eine Raute. Sie schaffen eine Art Keil nach vorn. Als strömungsoptimierter Wellenbrecher, sozusagen.
Um möglichst reibungslos aneinander vorbei kommen, organisieren sich Menschen verblüffend gut selbst: Bei Gegenverkehr halten sie sich rechts, beim Durchqueren von stehendem Publikum bilden sie Ketten, gegen den Strom laufen sie diagonal.
Aber ab einer gewissen Dichte berühren sich die Menschen, selbst wenn niemand drängelt. Dann übertragt sich Kraft von einem Körper zum nächsten, und viele kleine Bewegungen addieren sich zu einer mächtigen Kraft.
„Ab sechs Menschen auf einem Quadratmeter wird es kritisch“, weiß Gesine Hofinger aus Videoanalysen der Loveparade. Das bedeutet: Atemnot, Quetschungen, Rippenbrüche.
Nicht für jeden, denn die Menge als solche wogt in Wellen hin und her und kann so die enormen Kräfte halbwegs verteilen. Bis die Wellen auf Hindernisse stoßen, ein Nadelöhr wie der Tunnel auf der Loveparade. Doch auch mitten in der Menge kann es zu plötzlichen Turbulenzen kommen, zu „Crowdquakes“, wie der Physiker Dirk Helbing, einer führenden Erforscher von Crowd-Dynamiken, anhand der Love Parade nachgewiesen hat. Solche „Menschenmassen-Beben“ erhöhen den Druck schlagartig.
Aus Forschersicht ist das Unglück von Duisburg daher ein trauriges Beispiel für Crowd-Physik – und nicht für eine Massenpanik, wie die Veranstalter zunächst behauptet hatten.
Massenpanik ist ein Mythos
Den Begriff Massenpanik benutzen Wissenschaftler nur ungern. Die Menschenmenge, die sich, wie von einem Virus der Hysterie infiziert, in eine rücksichtslose rasende Herde verwandelt, tritt eher im Kino auf als im echten Leben. „Menschen sind weder irre noch irrational“, so Gesine Hofinger.„Es wäre evolutionstechnisch auch unsinnig, wenn wir uns bei der nächsten Gefahr über den Haufen rennen.“ Kooperation in Notlagen erhöhe die Überlebenschancen für alle.
Augenzeugenberichte, Befragungen und Videoanalysen aus jahrzehntelanger Katastrophenforschung belegen: Wir suchen und wir helfen uns.
Auch andere Muster wiederholen sich. Ältere Menschen schätzen Notfälle durch ihre Erfahrung besser ein als junge. Frauen reagieren tendenziell ängstlicher, rufen nach Hilfe, warnen andere. Männer geben sich eher gelassen und meinen, die Situation im Alleingang zu bewältigen. Weniger Gebildete folgen den Anweisungen von Einsatzkräften eher als Akademiker.
Und ganz allgemein gilt: Im Ernstfall reagieren viele Menschen zu langsam.
Etwa am 11. September 2001. Nachdem das erste Flugzeug in das World Trade Center gerast war, warteten viele im Gebäude zunächst ab, was ihre Kollegen tun würden, sie telefonierten, beendeten Emails, gingen noch zur Toilette, zogen sich um. Im Schnitt vergingen sechs kostbare Minuten, bevor sie sich auf den Fluchtweg machten.
Der Brite John Leach, Autor des Buches Überlebenspsychologie, hat festgestellt, dass bis zu 75 Prozent aller Menschen in einer lebensbedrohlichen Situation keinen klaren Fluchtgedanken fassen können: Deshalb retten sie sich nicht aus brennenden Häusern oder von sinkenden Schiffen. Sie denken nicht daran, den Notruf zu wählen, sie übersehen Fluchtwege.
Denn Extremsituationen sind so selten, dass wir dafür keine erprobten Handlungssmuster haben. Also verlängert sich die Reaktionszeit. Hinzu kommt die Angst. Zunächst schärft sie die Sinne, dann aber droht sie uns zu überwältigen: Körper und Geist sind wie gelähmt, Informationen können nicht mehr verarbeitet werden.
Deshalb ist es wichtig, sich schon vorher zu überlegen, was im Ernstfall zu tun ist. Im Flugzeug die Sicherheitshinweise beachten, in fremden Gebäuden oder bei Veranstaltungen die Notausgänge registrieren. Überlebende seien nicht mutiger, beobachtet Leach, sondern einfach besser vorbereitet. (Wir könnten zur Geschichte einen kurzen Info-Kasten mit Sicherheitstipps stellen)
Wissen, wo’s lang geht
Der Hafen wirkt bereits wenig herunter gelatscht. Die Leute haben ihren Müll fallen lassen und sind über die rotweißen Absperrbanderolen getrampelt. Ein paar junge Männer sitzen sichtlich angeknockt neben ihren Schnapsfläschchen auf dem Boden. Der Junggesellenabschied war lang. „Leider geben viele am Eingang ihre Eigenverantwortung ab“, bedauert Gesine Hofinger.
Die vielen Sicherheitsinformationen beim Hafengeburtstag nehmen sie nicht wahr. Die Wegmarkierungen, die Info-Säulen mit Lageplänen und Fluchtwegen. Eine Besucherbefragung von Team HR und Florian Sesser zeigt: Familien sind am besten informiert, sie haben das größte Risikobewusstsein.
„Die meisten anderen machen sich wenig Gedanken über ihre Sicherheit“, sagt Sesser. „Wer Angst hat, kommt vermutlich gar nicht erst.“ Erstaunt habe ihn allerdings, wie vielen seiner Gesprächspartner schon einmal in extremem Gedränge mulmig geworden ist.
Mehr als jedem zweiten.
Text und Bild: Philipp Brandstädter
Quellen:
Dietrich Ungerer, Ulf Morgenroth: Zivilschutzforschung. Analyse des menschlichen Fehlverhaltens in Gefahrensituationen, Bd. 43, 2001. S. 14 ff
Katja Schulze, „Situationsbezogene Helferkonzepte zur verbesserten Krisenbewältigung“, FU Berlin 2017, S. 13 ff.
Fraunhofer Institut
BMVI
Dirk Helbing: „The Walking Behaviour of Pedestrian Social Groups and Its Impact on Crowd Dynamics“, Plos One 2010
VFDB
Annika Frische, BBK: „Panik in großen Menschenmengen“. Bevölkerungsschutz, 2010.
Stiftung Risiko-Dialog: „Das Verhalten der Bevölkerung in Katastrophen und Notlagen“, St. Gallen 2014. S. 19 ff.